11.02.2025 10:10
Über die Vergangenheit und eine mögliche Zukunft von US-Serien
epd Wenn ein Bild mehr sagt als tausend Worte, dann empfiehlt es sich, nach den unsichtbaren Bildern hinter dem sichtbaren Bild zu suchen, nach dem Mehrdeutigen im Eindeutigen. Bei Immanuel Kant (1724-1804) findet sich der Satz: "Das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft." Der Bildtheoretiker William John Thomas Mitchell verwirft die Vorstellung, es gäbe ein zweckfreies, objektives Sehen. Er spricht von einem Dialog "zwischen verschiedenen Versionen der Welt". Und Stanislav Lec flüchtet sich in ein Paradoxon: "In Wirklichkeit sieht alles anders aus, als es wirklich ist." Das bedeutet: Jedes Bild hat einen Überschuss. Mitchell spricht von einem Mehrwert. Es macht daher Sinn, nach diesem Unsichtbaren im Sichtbaren zu suchen, nach den verborgenen Botschaften, nach dem auch noch Gemeinten.
Auch eine Fernsehserie soll ihre Zuschauer in erster Linie unterhalten, durch Worte und Bilder, die eine Geschichte erzählen. Doch ihre sichtbaren Fakten sind kaum die ganze Geschichte. Es gibt eine zweite Ebene, einen "doppelten Boden", auf der die Gefühle entstehen, die Urteile, die Moral der Geschichte. Serien bieten an, was man, auch wenn man nur unterhalten will, schwer zeigen kann: eine Botschaft, eine Regel fürs Leben, ein Konzept für das Zusammenleben, einen guten Rat.
Die erfolgreiche Serie "Yellowstone", eine historische Familiengeschichte, hat diesen "Mehrwert". David Steinitz hat ihn in einer überzeugenden Exegese in der "Süddeutschen Zeitung" beschrieben. Die Serie, so Steinitz, gelte seit dem Start der ersten Staffel 2018 als "prototypisches popkulturelles Erklärmodell für die USA der Gegenwart". Sie sei "vielleicht das letzte große Mainstream-Lagerfeuer der amerikanischen Unterhaltungsindustrie". Steinitz schildert, mit Bezug auf Bilder und Personen der ersten Ebene, einen Kampf zwischen zwei Vorstellungen von Freiheit, die weit über die Serie hinausreichen: Freedom ist das Wort für die Freiheit, die vor allem die Demokraten vertreten, die die Rechte aller schützt, mit der Verfechter der Liberty, der Freiheit des Einzelnen, wie der Clan der Duttons wenig anfangen können.
John Dutton, gespielt von Kevin Costner, ist der Herr des Clans. Er sagt und zeigt, was gut und was böse ist. Und verweist in schier jedem Auftritt mit seinen rassistischen Ansichten, seiner Sprache, seiner Behandlung von Menschen auf das Personal, das sich bei den Wahlen im November in den USA durchgesetzt hat. Er verweist auf einen wie Donald Trump, der alles darf und dem man - er ist ja der Held - alles verzeiht.
"Yellowstone" ist ein besonders klares Beispiel für TV-Serien mit einem doppelten Boden, mit einem zweiten Sinn der Bilder. Die großen US-Serien bieten, je auf ihre Weise, dem Zuschauer Bilder, die man interpretieren kann. Ihre besondere Qualität liegt in ihrem unsichtbaren Mehrwert. Er verbindet sich, besonders gut zu erkennen in den TV-Krimis, fast immer mit dem Typ der Protagonisten.
Zwar waren schon bei "77 Sunset Strip" in den 1960er Jahren Stuart Bailey und Jeff Spencer (gespielt von Efrem Zimbalist, Jr. und Roger Smith) Detektive. Sie lösten Fälle. Aber vor allem standen sie für die Art, wie sie lebten. Ein neuer Zeitgeist prägte diese Serie, verkörpert durch coole Typen. Der Schauspieler Edward Byrnes etwa, als Gerald Lloyd "Kookie" Kookson, eigentlich nur eine Nebenfigur, war bei der Jugend nicht zuletzt seiner Kleidung wegen populär, und vollends, als er mit dem Song "Kookie, Kookie, lend me your comb" die Charts stürmte.
Für die Nachfolger dieser Serie blieb es dabei: Der Umgang mit dem Verbrechen war die Botschaft, das Verbrechen dagegen nur der Kuchenboden für die Buttercreme. Peter Falk in und als "Columbo" (1968-2003): zwischen Tür und Angel jedes Ohr ein Schlitzohr, Robert Urich in "Vegas" (1978-1981), der griechischstämmige Telly Savalas als "Kojak" (1973-1978) oder der Privatdetektiv Tom Selleck als "Magnum" (1980-1988) - ihre Eigenarten, ihre Routinen, ein Verhalten, das die Autoren mit speziellen Neuigkeiten aufgefüllt haben, beherrschten die Geschichten, nicht nur der Fall selbst und seine Lösung, sondern der Umgang mit ihm.
Roy Huggins produzierte nach "77 Sunset Strip" auch "The Fugitive" ("Auf der Flucht", 1963-1967). Der Held, Richard Kimble, der verdächtigt wird, seine Frau umgebracht zu haben, praktiziert mit seiner Flucht das letzte Recht, das ihm geblieben ist, die Selbstjustiz des Unschuldigen und jagt den Mann, den er für den Mörder seiner Frau hält. Dabei vollbringt er als Gejagter eine gute Tat nach der anderen.
Mit "The Shield" (2002-2008) kam ein neuer Typ des Detective zur Aufführung. Vic Mackey (Michael Chiklis) ist ein kompetenter Cop, aber zugleich ein Verbrecher (schon in der ersten Folge erschießt er einen Kollegen) und zugleich der besorgte Vater eines autistischen Kindes. Mackey ist kein Held, der jeden Tag das Böse besiegt. Er ist ganz Mensch.
"The Wire" (2002-2008) ist, hinter allem, was man sehen kann, die Abrechnung mit den politischen Versäumnissen in einer an der Droge zugrunde gehenden Großstadt. Der Polizist ist nur noch einer unter vielen Verlierern, und was seine Arbeit betrifft, die Bekämpfung der Drogenkriminalität, ein unglücklicher Sisyphos. Les jeux sont faits.
"24" (2001-2010) beantwortet in schier jeder Szene die Frage: Was machen wir nach 9/11? Und wie machen wir es? Für den Protagonisten Jack Bauer, gespielt von Kiefer Sutherland, gilt zwar nach wie vor: Der Held denkt. Doch nun ist er nie mehr allein. Denn der Computer lenkt. Er findet sie alle.
Die wohl bekannteste Western- beziehungsweise Familienserie "Bonanza" (1959-1973) bietet neben einem Rückblick auf die guten alten Zeiten das zeitlose Modell einer Familie, in der jeder noch weiß, wo sein Platz ist, ein naiver Gegenentwurf gegen erste Zeichen einer Patchwork-Familie. Mit "Dallas" (1978-1991) kam das Stück "Die Familie als Hexenkessel" auf den Schirm. Wer in dieser Familie, in der erst das Fressen kommt und dann nichts mehr, überleben will, darf keinem Menschen trauen. Nichts ist normal, nichts ist heil, nichts den Akteuren heilig.
"Dynasty" ("Der Denver-Clan", 1981-1989) erzählte dieselbe Botschaft mit ein paar anderen Mitteln. Jetzt ist die Böse eine Frau, Alexis Carrington (Joan Collins). Die kleinbürgerliche Variante dieser Helden - auf Deutsch und als pure Satire - war Ekel Alfred, eine Erfindung von Wolfgang Menge.
Ein spezieller Fall der Familienserie ist die Clan-Serie. An der Spitze der Film-Trilogie "Der Pate" ("The Godfather", 1972, 1974, 1990) steht, nach Mafia-Regeln hoch angesehen und unumstritten, Don Corleone. Er achtet darauf, dass das Beziehungsnetz zwischen Gewalt und Staatsgewalt nicht reißt. Schon im ersten Bild zelebriert er diese Macht, empfängt Menschen wie Untertanen, gibt und nimmt wie ein König, zurückgezogen ins Halbdunkel seiner Löwenhöhle. Draußen, in der hellen Sonne, auf dem oberen Boden der Geschichte, findet gleichzeitig eine pompöse Geburtstagsfeier für einen Enkel statt. Der Zuschauer folgt staunend einem Geflecht von Abhängigkeiten von Familie und Politik, bezahlt durch Korruption. Sieht man diese Szenen heute wieder, meint man einen Hauch von Mar-a-Lago zu spüren.
Ende der 90er kam die Mafia-Familienserie "Die Sopranos" (1999-2007). Tony Soprano (James Gandolfini) ist in vielen Einzelheiten der Gegenentwurf zu Don Corleone. Das Handlungsrepertoire, aus dem er schöpft und das ihn mächtig macht, richtet sich noch immer aus an dem aus Sizilien importierten Modell. Allerdings nicht mehr mit den unumstößlichen Regeln. Und durchlöchert von Skrupeln. Soprano sucht eine Psychotherapeutin auf, um sich selbst zu erkennen, seine Frau hat es mit dem Priester. Von Don Corleone ist nichts mehr übrig geblieben in dieser Götterdämmerung der Mafia.
Die Karriere eines Lehrers in "Breaking Bad" (2008-2013) biegt aus Geldmangel nach einer Erkrankung ins Verbrechen ab, was Moralisten vor eine ethisch komplexe Frage stellt: Wer wirft den ersten Stein? Auf diese Frage sucht auch "Ozark" (2017-2022) nach einer Antwort. Aus ein bisschen Geldwäsche wird nach und nach ein Kampf mit dem "Kartell", das die Mafia abgelöst hat. Marty Byred (Jason Bateman) und seine Familie müssen erkennen, was schon Friedrich Schiller wusste: "Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzugehen, immer Böses muss gebären." Und das Verbrechen wohnt nicht mehr in Chicago oder Manhattan, sondern blüht auf in einer ländlichen Idylle, einer Seenlandschaft, in der es von unschuldigen Touristen wimmelt.
Doch wo wohnt die Gerechtigkeit? Und wer sorgt sich um sie? Jedenfalls nur selten ein Richter. Von "Boston Legal" (2004-2008) mit den unvergesslichen, abendlichen Balkonhockern William Shatner und Jason Spader bis "The Lincoln Lawyer" (ab 2022) mit Manuel Garcia-Rulfo sind es die diakonischen, die scharfsinnigen Anwälte, die sich bis zur Selbstaufgabe um ihre Klienten kümmern müssen, erfolgreich natürlich, weil viele Richter längst von der Bequemlichkeit ihres Amtes oder der Korruption besiegt worden sind.
Wenn es um die kleinen Leute geht, ein Bild der US-Justiz? Man wird den Verdacht nicht los.
Die Bilder hinter den Bildern verbreiten unterschiedlich wichtige Botschaften. Nicht alle greifen so weit aus, so klar erkennbar in die Werte einer Gesellschaft, wie "Yellowstone". Oder wie "Succession" (2018-2023), ein ebenso unterhaltsames wie erschreckendes Requiem auf die Pressefreiheit in USA. Der Medientycoon Logan Roy (Brian Cox), eine Mischung aus J. R. Ewing und John Dutton, quält seine Kinder, spielt sie gegeneinander aus, verstößt sie und nimmt sie wieder an seine Brust, ganz nach Art der Clan-Bosse, die nicht einmal ihren eigenen Kindern trauen. Und im Hintergrund gewinnt ein Bild von den US-Medien Gestalt, denen es nicht mehr um publizistische Konzepte oder Haltungen geht, sondern nur noch um Auflage und Quote. Und um Macht. Im Clan und in der Gesellschaft.
"Succession" erzählt den Zustand und die Zukunft dieser Medien als Familiendrama. Dabei ist es längst das richtige Leben. Hinter dem alten Logan Roy schiebt sich permanent Rupert Murdoch ins Bild. Der hatte im richtigen Leben mit Fox den Ton gesetzt. Seither verkauft sich das Freund-Feind-Schema noch besser, am Kiosk und auf dem Schirm. Und natürlich auch im Netz.
Und dies umso profitabler, je weiter die Deregulierung der Medien voranschreitet. Denn der größte Kritiker der FCC, Brendan Carr, ist nun ihr Chef. Und es braucht nicht viel Phantasie um sich vorzustellen, wie, als Fortsetzung einer solchen Geschichte, die Zukunft der US-amerikanischen Massenmedien aussehen könnte. Die Drohungen von Trump sind Legion. ABC bezahlt bereits einen Wegezoll für schlechtes Benehmen. Und eine der Fragen ist, ob Serien mit einem doppelten Boden, mit der Ansage von gesellschaftlichen Konflikten, wie sie bisher möglich waren, überleben.
Die Chancen stehen nicht gut. Das Merkmal einer populistischen Publizistik ist Eindeutigkeit: bei Texten, Tönen und Bildern. Mehrdeutigkeit ist eine Quelle für Unsicherheit in der Bevölkerung, Vielfalt könnte zum Verdachtsfall werden. Zwar wird es Bilder weiter geben. Öffentlich sogar mehr denn je. Autoritäre Herrscher verehren Bilder, sie sind, seit Münzen geprägt werden, Ikonodule. Sie lieben es, in plakativen Bildern die Öffentlichkeit zu beherrschen, mit Kindern ins Gespräch vertieft, mit Tieren spielend oder mit Waffen prahlend, der Schmuck von Bauzäunen, Unterführungen und Bahnsteigen, die Ikone auf T-Shirts und Titelseiten.
Und wenn erst der Weg von der Publizistik zur Propaganda beschritten ist, wird für mehrdeutige Serien kaum noch Platz sein. Vielleicht kaufen dann Milliardäre nicht nur Plattformen, sondern auch noch die Produktionshäuser von TV-Serien, und reproduzieren nur noch sich selbst und die Wirklichkeit, die sie dafür halten. Dann wäre nichts mehr allegorisch. Nichts mehr moralisch. Nichts müsste mehr ausgelegt werden. Der vierfache Schriftsinn hätte sich erledigt. Er würde ersetzt durch einen optischen Analphabetismus, der nur eindeutige Bilder sieht. Was die populistischen Publizisten anstreben und gedankenlos alternativlos nennen, ist die finale Eindeutigkeit. Interpretieren war einmal. Von heute aus gesehen die pure Langeweile.
Dass es, wenn sich das alles so entwickelt, früher auch andere Vorstellungen von Fiktion gegeben haben könnte, weiß dann vielleicht niemand mehr.
Copyright: Foto: Uwe Voelkner/Fox
Darstellung: Autorenbox
Text: Norbert Schneider ist Publizist und war von 1993 bis 2010 Direktor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen.
Zuerst veröffentlicht 11.02.2025 11:10
Schlagworte: Medien, Fernsehen, USA, Serien, Schneider
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