20.03.2025 10:44
epd Gute Cliffhanger, noch dazu in Serie, halten Menschen bekanntlich oft von anderen, als sinnvoller erachteten Tätigkeiten ab: Mails beantworten, Müll raustragen, Steuererklärungsunterlagen sortieren. Doch im Falle des grausamen Herrschers Schahriyar aus der Märchensammlung "Tausendundeine Nacht" ist das, was er eigentlich unbedingt erledigen will, ein Massenmord. Seine Frau hat ihn betrogen, er ließ sie deshalb töten, aber das reicht ihm nicht, er nimmt Rache am ganzen Geschlecht. Täglich heiratet er eine neue Frau, tobt sich sexuell an ihr aus und lässt sie dann am nächsten Morgen von seinem Wesir umbringen.
Dass Cliffhanger die Macht besitzen könnten, selbst ein solch monströses Verbrechen zu beenden, von dieser Idee waren Menschen schon vor vielen Jahrhunderten fasziniert. Zu einer Zeit, als professionelle Erzähler auf einem Schemel hockend ihr meist analphabetisches Publikum unterhielten, in der einen Hand die zerfledderte Sammlung von Geschichten, von denen wir heute einige als "Märchen aus Tausendundeiner Nacht" kennen, in der anderen oft Requisiten wie ein Schwert, um das Vorgetragene gestisch zu untermalen. Damit die zahlende Zuhörerschaft auch am nächsten Tag verlässlich wiederkam, mussten die Episoden schon fesselnd sein - und im passenden Moment unterbrochen werden.
Genau so funktionieren die ursprünglich im altindischen, dann im persischen und schließlich arabischen und europäischen Kulturkreis kursierenden und immer wieder neu überformten Geschichten von der klugen und belesenen Wesir-Tochter Schahrasad. Die junge Frau hat einen Plan: den Massenmord zu beenden. Sie heiratet Schahriyar freiwillig und unterhält ihn dann Nacht für Nacht mit guten Geschichten, gespeist aus ihrem riesigen Lektüre-Fundus und ihrer Kreativität.
Jedesmal, wenn eine der Episoden über Dschinns, Sex-Orgien oder fantastische Zauberwesen fast an ihren Höhepunkt gelangt, bricht Schahrasad ab mit den Worten, dass das ja noch gar nichts sei gegen das, was sie morgen zu erzählen habe, falls sie dann noch lebe. Der Herrscher, rasend vor Neugier, verschont sie. Er ist buchstäblich gebannt.
Was dem Deutschlandfunk mit seinem insgesamt achtstündigen Mammutprojekt "1001 Nacht" gelingt, ist die Transformation einer der ältesten und nur scheinbar bekanntesten Märchensammlungen in die Jetztzeit. Die Macherinnen übertreiben wahrscheinlich nicht, wenn sie "1001 Nacht" als "die Mutter aller Serien" und "vielleicht sogar aller Podcasts" titulieren. So eine Aktualisierung kann natürlich gründlich schiefgehen, doch gründlich war man hier vor allem bei der Durchdringung des Stoffs. Was dem Podcast aber keine Schwere gibt, sondern im Gegenteil Flügel verleiht, weil jedes Element, vom Text bis zur Musik, von dem gesammelten Wissen getragen ist.
Ausgangspunkt ist die literaturwissenschaftlich bahnbrechende Neuübersetzung der Arabistin Claudia Ott. Sie war es, die für ihre seit Jahren bei C.H. Beck erscheinenden Bände erstmals bislang nicht berücksichtigte Orginalhandschriften ins Deutsche übertrug. Es ist ein unverschämtes, mal glitzerndes, mal trockenes Gegenwartsdeutsch, das nah am gesprochenen Wort bleibt und den Klang und Rhythmus des Arabischen als Kompass beibehält. Aus der Fülle des Materials wählte die Schriftstellerin Safiye Can mit dem Mut zum Krassen, Befremdlichen und bislang eher Unbekannten mehr als 60 Episoden aus.
Jasmin Shakeris warme, tiefe Stimme gibt der brutalen Rahmenhandlung die schlummernde Unberechenbarkeit eines vulkanischen Kraters. Auf dessen Rand, um im Bild zu bleiben, tänzelt und stapft Roxana Samadis junge, kluge Schahrasad ohne jede Niedlichkeit. Selbstbewusst und hellwach tastet sie sich voran in ihren Erzählungen. Vom Horror bis zur Burleske reicht der Charakter der Geschichten, von der bedrückend ausführlich ausgebreiteten Betrugs-Vorgeschichte der Rahmenhandlung samt Swinger-Orgie bis zum frivolen Quiz über Bezeichnungen für Geschlechtsorgane in der sehr lustigen Folge "Das Basilikum des Draufgängers".
Regisseurin Judith Lorentz und Samadi lassen das kreative Rekapitulieren von Geschichten als Prozess spürbar werden. Aus dem Moment größter Bedrohung windet sich die Erzählung immer wieder neu und in schönster Freiheit heraus. Eingebaute Verse und Sprichwörter, in früheren Übersetzungen oft weggelassen, aber wichtiger Bestandteil des ursprünglichen Vortrags, sind zweisprachig zu hören, auf Deutsch und Arabisch (gesprochen von Susana Abdulmajid). Sodass auch die interkulturellen Schichten zum sinnlichen Ereignis werden.
Verstand und Sinnlichkeit sind für die todesmutige Schahrasad keine unvereinbaren Gegensätze, und so hält es auch dieses Hörspiel: Mehrere Bonus-Podcastfolgen etwa mit der Übersetzerin Ott, der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen oder dem Cliffhanger-Forscher Vincent Fröhlich beleuchten das Phänomen "Tausendundeine Nacht" aus den unterschiedlichsten Perspektiven: Da geht es etwa um das universelle Motiv des Wunsches, um die Tauglichkeit Schahrasads als Rollenvorbild oder um die Fragen, wie viel Islam in "1001 Nacht" steckt, in welcher Gesellschaft diese Märchensammlung entstand und was es mit dem Begehren auf sich hat: Wie verhalten sich das Herauszögern von erotischer und narrativer Spannung zueinander?
Philipp Johann Thimms Musik-Score bedient sich nur sehr zurückhaltend orientalischer Klangelemente und verfremdet sie elektronisch. Als wiederkehrendes Cliffhanger-Zeichen blendet ein hell aufzitternder, Klang gewordener Lichtstrahl förmlich die gewesene Nacht allmorgendlich aus. Unter der Regie von Judith Lorentz fügt sich das alles zu einem stimmigen Gesamtkonzept: Eine glänzend gelöste Re-Transformation eines jahrhundertelang mündlich überlieferten Erzählstoffs in die Erzählkultur des 21. Jahrhunderts.
infobox: "1001 Nacht", Hörspiel-Podcast nach der Neuübersetzung von Claudia Ott, Regie und Hörspielbearbeitung: Judith Lorentz, Roxana Samadi, Auswahl der Geschichten: Safiye Can, Komposition und Musik: Philipp Johann Thimm, Roshanak Rafani, Nabil Arbaain, Rosacea (DLF-Audiothek, seit 28.2.25, DLF Kultur, seit 28.2.25 täglich außer sonntags, 16.50-17.00 Uhr, DLF Kultur, 29.3.-30.3.25, 19.05-6.55 Uhr)
Zuerst veröffentlicht 20.03.2025 11:44
Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), KDeutschlandfunk, Hörspiel, Podcast, 1001 Nacht, Ott, Lorentz, Samadi, Can, Thimm, Lutz
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