30.03.2025 10:00
Ein WDR-Kulturfeature über den Musiker Pierre Boulez
epd Mit Tempo, Talent und Temperament fiel der Musiker Pierre Boulez (1925-2016) auf als Avantgardist, doch zugleich war er weit mehr als das. Denn seine sprühende Aufbruchslust war gepaart mit langem Atem, der ihn sein Leben lang zu immer neuer Wiederaufnahme und Weiterentwicklung seiner Einfälle drängte. Wunderbar ausgewählte Musikzitate bezeugen dies in Thomas von Steinaeckers akustischem Porträt "Immer anders" zu Boulez' hundertstem Geburtstag.
Bewegt und bewegend bringt das Feature den frühen Wurf "Notations" nahe, Zwölftonmusik aus zunächst zwölf kurzen Klavierstücken, ein Meisterwerk, mit dem der 20-jährige Komponist sich 1945 profilierte, das er gleichwohl jedoch später mehrfach neu durchdachte und teilweise mit Orchestersequenzen erweiterte, die bis zu seinem Tod 2016 unvollendet blieben. Jedenfalls vermittelt die Pianistin Tamara Stefanovich, die noch mit dem betagten Boulez zusammenarbeitete, hier verbal und musikalisch, wie "Notations" auf kleinem Platz viel Verschiedenes erzählt, "das jedes Stück explodieren lässt in alle möglichen Richtungen von Artikulation, Dynamik, Tempo, Rhythmus, Farben".
"For me life is an evolution", lautet Boulez' Schlüsselsatz, ein Credo, das im Originalton im Ohr bleibt. Überhaupt stützt sich Steinaeckers Hörstück durchweg klug auf Originaläußerungen des Komponisten und interessanter Wegbegleiter wie zentral seines Biografen, Christian Merlin. Es schafft dies, Boulez' internationaler Karriere entsprechend, oft dreisprachig in Französisch, Englisch und Deutsch. Diese Sprachen beherrschte Boulez, wie hier zu hören, zwar nicht gleich gut, aber jedenfalls auffallend fließend.
Markant datiert Steinaecker Boulez' Start im Paris der unmittelbaren Nachkriegszeit. "Voici la victoire!": Die bekannte triumphale Ansprache in Originaltönen von de Gaulle, der 1945 den französischen Sieg proklamiert, überraschen hier in Parallelmontage zu Boulez' gleichzeitigen holprigen persönlichen Erfahrungen. Dass Boulez, der zunächst Pianist werden wollte, an der einschlägigen Aufnahmeprüfung am Lyoner Konservatorium scheiterte, war für ihn ein Schock, der sich jedoch bald als Glück erwies. Denn nun öffneten sich ihm weitere Karrierewege.
Als Kapellmeister des Ensembles von Jean-Louis Barrault gewann der Musiker Einblicke in moderne Theaterpraxis und am Conservatoire studierte er bei Olivier Messiaen Komposition. Zwar blieb das Verhältnis zu dem prominenten Lehrer wegen Boulez' Enthusiasmus für Schönberg und die Zwölftonmusik nicht ohne Kontroversen und Zerwürfnis. Doch konnte Boulez als Dirigent später brauchen, was er bei Messiaen zu Musiktraditionen und klassischer Moderne gelernt hatte. Im Rückblick wusste er, wie hier dokumentiert, Messiaen zu würdigen.
Erst einmal ist Boulez jedoch ganz auf Neues erpicht, wie die 1950 komponierte serielle 2. Klaviersonate zeigt, die hier ebenfalls Tamara Stefanovich vorträgt. Sie spielt glasklar und schildert die ungewöhnlichen Herausforderungen für Pianisten: "Es ist, als ob Sie jonglieren mit zwölf Messern, dabei Sudoku machen und Chinesisch lernen."
Da der französische Rundfunk damals, anders als deutsche Sender, experimentelle Musik nicht unterstützte, verfolgte Boulez eine Doppelstrategie, die Steinaecker vorstellt. Er gründete 1954 mit Barrault in Paris das Forum "Domaine Musicale", bei dem etwa Strawinskys Werk Anklang bei großem Publikum finden konnte. Andererseits knüpfte er Beziehungen zu den beiden deutschen Sendern, die programmatisch neue Musik förderten, über seinen Kollegen Karlheinz Stockhausen zum WDR in Köln und über den enthusiastischen Musikredakteur Heinrich Strobel, der ihn in Paris mit Kompositionsaufträgen besuchte, zum SWR in Baden-Baden.
Schade, dass Steinaeckers Hörstück auf die Arbeits- und Freundschaftsbeziehungen zum WDR näher eingeht als auf die zum SWR, die in Strobels Buch "Verehrter Meister, lieber Freund" mit Fotos dokumentiert sind. Wohl aber berichtet Steinaecker, dass Boulez 1959 nach Baden-Baden zog in eine alte Villa mit Bildern von Klee und Miró, wo er jahrelang an "Pli selon Pli", seinem großen Werk zu Gedichten von Stéphane Mallarmé in fünf Teilen für Orchester und Sopran arbeitete.
Boulez' Karriere als internationaler Dirigent, der Aufsehen erregte als Chef der Cleveland Orchestras, des BBC Symphonie Orchesters, der New Yorker Philharmoniker und bei den Bayreuther Festspielen, bewirkte endlich, dass er auch in Frankreich die ersehnte nachhaltige Resonanz fand. Unter Präsident Pompidou entstanden in Paris ein Forschungsinstitut für zeitgenössische Musik und das Orchester Ensemble Intercontemporian. Was bleibt da noch zu wünschen übrig?
Schließlich überrascht Steinaeckers weitgespanntes Boulez-Porträt mit einem Verblüffungsmoment: Der Münchner Komponist und Boulez-Kenner Enno Poppe, der in Boulez' umfangreichem Nachlass mit Fragmenten stöbert, wünscht sich, dort noch Neues zu entdecken. Das staunenswerte Feature endet, wie es begann: mit der Neugier auf Unerhörtes.
infobox: "Immer anders - Der Komponist Pierre Boulez", Kulturfeature, Regie: Michael Werhahn, Buch: Thomas von Steinaecker, Musik: Pierre Boulez (WDR3, 22.3.25, 12.04-13.00 Uhr, und in der ARD-Audiothek)
Zuerst veröffentlicht 30.03.2025 12:00 Letzte Änderung: 01.04.2025 16:52
Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), KWDR, NEU
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