08.04.2025 07:15
Aus der Grimme-Jury Kinder & Jugend
epd Das Wichtigste zuerst: Es war ein gutes Jahr in der Grimme-Preis-Kategorie Kinder und Jugend. Was die Jury im Vorjahr vermisste, wurde diesmal eingelöst. Nach Antworten auf die drängenden Fragen unserer krisengeschüttelten Zeit, die ja auch und vor allem die Jüngeren umtreiben, mussten wir bei der Preisfindung diesmal nicht lange suchen.
Schon die Nominierungen zeigten, dass das Informationsbedürfnis insbesondere von Kindern ernster genommen wird. Von Rassismus, patriarchalen Strukturen und sozialer Ungleichheit über psychische und physische Erkrankungen bis hin zum Nahostkonflikt: Bei den nominierten Produktionen wurde Wert gelegt auf altersgerechte Inhalte, gleichzeitig wurden Ästhetik und Originalität berücksichtigt.
Mit einem Preis für "Sisterqueens" (ZDF) hat die Jury sogar ein bisschen Grimme-Geschichte geschrieben. Es war das erste Mal seit Einführung der Kategorie, dass ein langer Dokumentarfilm in dieser Kategorie ausgezeichnet wurde. Der Film war die Abschlussarbeit der Autorin und Regisseurin Clara Stella Hüneke an der Filmakademie Baden-Württemberg, die Produktion wurde von der Redaktion Das kleine Fernsehspiel des ZDF betreut.
Kurz kam die Diskussion auf, ob die Langzeitbeobachtung von drei Berliner Mädchen auf ihrer Reise zur Selbstfindung mithilfe von Rap-Musik nicht besser aufgehoben wäre beim Programm für Jugendliche, deren Aufmerksamkeitsspanne für ein 97-minütiges Format qua Alter und Seherfahrung größer ist. Aber letztlich fanden wir, dass die im Film verhandelten Themen durchaus auch für die Jüngeren interessant sind. Sie werden von den zu Beginn teils noch sehr kindlichen Protagonistinnen mitgenommen in den Reifungsprozess, bei dem sie über die vier Jahre an Mut und Ausdrucksstärke gewinnen.
Die titelgebenden "Sisterqueens" sind: die neunjährige Jamila, die elfjährige Rachel und Faseeha, die mit ihren erst zwölf Jahren stellvertretend für ihre Freundinnen selbstbewusst festhält: "Wir sind Feministinnen und wir stehen dazu." Nach Schulschluss verbringen die drei viel Zeit im Mädchenzentrum Mädea in Moabit, wo sie sich, angeleitet von gestandenen Rapperinnen wie Sister Fa, auf ihren ersten großen Bühnenauftritt mit eigenen Texten vorbereiten.
Keine Alpha-Männchen stehen also am Mikrofon. Gangster-Attitüde, Bling-Bling und dicke Hose, die gängige Vorstellung von Rap, ist den Mädchen fremd. Wie ihr Lebensgefühl, ihre Träume und Hoffnungen mit eindrucksvoller Kameraführung und einem außergewöhnlichen Gespür für Rhythmik eingefangen werden, zog uns in den Bann.
Der dramaturgische Höhepunkt, das Konzert, ist zwar schon in der Mitte des Films erreicht, aber es geht in dieser Langzeitdokumentation um mehr als nur darum, wie frau die bühnentaugliche Stimme findet. Die zentrale Frage ist: Wie erhalten die Mädchen, die nicht zur weißen Mittelschicht gehören, eine Stimme in der Gesellschaft? Was können sie tun, um Gehör zu finden?
Clara Stella Hüneke lässt auf der Suche nach Antworten auch Längen zu, ohne dabei die Zuschauer zu verlieren. Jamila zuzusehen, wie sie bäuchlings auf dem Bett liegt und mit den Beinen dabei lustlos an die Wand klopft: Für die Ausnahmesituation Lockdown, in der auch die "Sisterqueens" zum Nichtstun verdammt waren, hätte es kein aussagekräftigeres Bild geben können. Überhaupt ist die Sicht auf die Protagonistinnen sehr zugewandt. Hüneke ist eine Liebeserklärung an die Kraft von künstlerischer und sozialer Arbeit mit herausragender filmischer Qualität gelungen.
Für die Jüngsten entwickelte Programme taten sich entsprechend schwer, gegen unsere einhellige Begeisterung für "Sisterqueens" anzukommen. Dennoch entwickelten wir große Sympathie für die Trickfilm-Serie "Fritzi und Sophie - Grenzenlose Freundschaft" (MDR/WDR/SWR), zu der es bei Grimme eine Vorgeschichte gibt: 2021 nominierte die Kommission "Fritzi - Eine Wendewundergeschichte". Es handelte sich um die 80-minütige Verfilmung der Leipziger Kinderbuchheldin Fritzi, die vom Herbst 1989 aus ihrer Kinderperspektive erzählt.
Erfahrene Jury-Mitglieder erkannten in den nun als Serie fortgesetzten Wende-Abenteuern Parallelen, aber auch eine bessere Zugänglichkeit zum historischen Stoff, weil weniger Vorwissen vorausgesetzt werde. Ein Juror fand den zutreffenden Begriff "faktenbasierte Fiktion", denn hier ist nichts ausgedacht.
Über die Freundschaft von Fritzi mit Sophie, deren Familie die Flucht in den Westen gelingt, wird deutsche Ost-West-Geschichte en passant miterzählt. Themen wie Konsum, Freundschaft, Ökologie bieten Anknüpfungspunkte ans Heute und nicht zuletzt die Möglichkeit zum intergenerationellen Austausch der Art: Oma, wie war das damals? Die informative und orientierende Qualität zur besonderen Bildung von Kindern, nach der die Jury stets sucht, liefert "Fritzi und Sophie" absolut.
Gleiches lässt sich auch über die Kika-Reihen "Schau in meine Welt" und "Checker Tobi" sagen. Bei solchen langlaufenden Formaten besteht für die Jury allerdings immer die Herausforderung, herauszuarbeiten, ob die eingereichten Einzelstücke den gewohnten, qualitativ hochwertigen Standard übertreffen können und damit ein erneuter Preis gerechtfertigt ist - 2019 gab es einen Grimme-Spezial-Preis für Marco Giacopuzzi für seine Autorenleistung bei "Schau in meine Welt".
In der Folge "Schau in meine Welt - Loreley wird Fußballschiedsrichterin" (Kika/RBB) erkannten wir erneut eine sehr starke, authentische Protagonistin, die gleichaltrige Mädchen ermutigen kann, ebenso den Schritt in eine von Jungs dominierte Domäne zu wagen. Das Thema des Films wie auch das gelungene Casting hielten wir angesichts der recht konventionellen Machart aber nicht für ausreichend für einen Preis.
In die Sichtung von "Checker Tobi - Der Krebs-Check" (Kika/BR) ging ein Jury-Mitglied mit dem Vorsatz: "Ich war fest entschlossen, es nicht zu mögen." Am Ende mochten alle die Folge sehr. Checker Tobi alias Tobias Krell ist eben ein Profi in der Vermittlung von schweren Themen. Wie bereits im 2017 nominierten "Leben- und Sterben-Check" gelingt ihm auch hier der Wechsel zwischen Hirn und Herz, zwischen Leichtigkeit und Tiefe vorzüglich, sogar mit noch etwas mehr Feingefühl.
Bei aller Grausamkeit der Krankheit schafft er es, Hoffnung zu verbreiten, ohne den Krebs zu verharmlosen. Ob Tobi aber den Krebs erklärt oder Bäcker werden will: Er bedient sich dabei seit Beginn der Reihe, also inzwischen seit mehr als zehn Jahren, stets aus demselben, bewährten Baukasten.
Die audiovisuelle Weiterentwicklung, die wir uns für "Checker Tobi" gewünscht hätten, wurde bei "Mein Traum, meine Geschichte" (Kika/SWR) dagegen übererfüllt. Die neue, internationale Koproduktion, die in jeder der acht bisher ausgestrahlten Folgen eine berühmte Persönlichkeit der Weltgeschichte porträtiert (Jane Goodall, Willy Brandt, Margarete Steiff und andere), arbeitet sich mit Reenactments, Animationen, dokumentarischem Material und Musik durch die jeweilige Biografie. Der betriebene Aufwand ist enorm.
Auf der Strecke bleibt manchmal der Inhalt. Speziell das Porträt über die schwarze Pianistin und Bürgerrechtsaktivistin Nina Simone entwickelte sich nach unserem Dafürhalten zu weit weg von den historischen Fakten hin zu einer stark romantisierenden Haltung. Da eine zweite Staffel bereits in Arbeit sein soll, ergibt sich vielleicht im nächsten Preisjahr eine neue Chance.
In ihrer audiovisuellen Wuchtigkeit hat uns "Pauline" (Disney+), eine rein fiktionale Produktion und die einzige Nominierung für einen Privatsender, fast erschlagen - aber auf mitreißende Weise. Tempo in Kamera und Schnitt, Motion Graphic Design von der ersten bis zur letzten Minute durchdacht, dazu die passende Umklammerung mit Musik und dröhnendem Sound, ein düsteres Color Grading und überhaupt viel Liebe zum Detail.
Das pseudo-religiöse World-Building in der Tradition von "Twilight" und "Vampire Diaries" versteht man in dieser eindeutig erst für Jugendliche tauglichen Drama-Serie nach wenigen Shots. Es nahm uns gefangen, allerdings ließ uns die Message der Story etwas ratlos zurück: Das Medizinstudium ist für die 19-jährige Pauline zum Greifen nah, doch dann wird sie nach einem One-Night-Stand schwanger und ist hin- und hergerissen, ob sie den Antichristen in ihrem Leib tatsächlich gebären soll. Ein Genre-Fan in unserem Kreis fasste unsere Diskussion folgendermaßen zusammen: "Folge deiner Libido und lass dein Studium sausen. Ist das pädagogisch wertvoll? Nein! Aber es ist eine gute Geschichte."
Dass sich eine gute Geschichte und relevante Themensetzung mit pädagogischem Mehrwert nicht ausschließen müssen, dafür steht "Hungry" (ZDF). Die sechsteilige Serie folgt der 17-jährigen Ronnie, die gegen ihren Willen in die Psychiatrie eingewiesen wird, damit sie nicht an ihrer Essstörung zugrunde geht.
Ausgedacht hat sich diese Geschichte die Autorin und Poetry-Slammerin Zoe Magdalena, Jahrgang 1994. Schon ihr erster Roman, den sie mit 17 (!) schrieb, handelte von einer an Bulimie erkrankten Teenagerin. Dass sie nun in der ZDF-Serie die wesentlich jüngere Ronnie auch noch selbst spielt, ist ein Geschenk und steht nicht im Widerspruch zu ihrem realen Alter. Ihre Wortkargheit, ihre nuancierte Mimik und Körpersprache vermitteln die Emotion von Nähe bis Verzweiflung auf den Punkt.
Ebenso überzeugt hat uns Zoe Magdalenas Spezial-Leistung als Drehbuchautorin: "Hungry" erzählt eine Heldenreise ohne Illusion. Krankheit ist und bleibt beschissen und Heilung ein lebenslanger Prozess mit Fort- und Rückschritten. Vorbildlich fanden wir, dass alle Figuren nicht auf ihr Leiden reduziert werden. Die Patientinnen labeln sich zwar scherzhaft "Essis", "Depressis" und "Ritzis", aber im Vordergrund stehen zwischenmenschliche Dynamiken. Mal sind die heranwachsenden Frauen Rivalinnen, mal Mitstreiterinnen, mal Projektionsfläche für Ängste, Wut und Sehnsüchte. "Hungry" macht alles richtig - und war in unseren Augen daher absolut preiswürdig.
Nur 24 Minuten hat "Lang lebe der Fischfriedhof" (ARD/BR) Zeit, um die Geschichte einer Gruppe von Jugendlichen in einer psychiatrischen Tagesklinik auszubreiten. Als Projektarbeit wollen sie im Garten einen Teich bauen. Doch der Plan droht zu scheitern, als die verhaltensauffällige Luzie dazustößt. Der Kurzfilm, bereits mehrfach auf Festivals ausgezeichnet, lässt die Sache mit dem Teich eskalieren: Fische sterben!
Das ist nicht ohne Komik und Charme, wirkte aber auf uns etwas übertrieben im Dienst der Coolness. Auch die Darstellung der Störungen, das Austicken für den Effekt, fanden wir eher stereotyp und behauptet als nah an der Realität. Andererseits: Muss man das einem Kurzfilm nicht verzeihen? Es bleibt eine offene Frage, soll aber Filmschaffende auf keinen Fall daran hindern, sich weiter mit dem Thema mentale Gesundheit zu befassen. Vor dem Hintergrund, dass die Shell Jugendstudie 2024 eine deutliche Zunahme von Sorgen und Ängsten bei Jugendlichen festgestellt hat sowie ein Unwissen, wie mit Stress, Erschöpfung, Überforderung umzugehen ist, braucht es weitere Befassung.
Bitte keine Hemmungen, wenn es darum geht, Kindern und Jugendlichen schwierige Themen zuzumuten oder sie mit weltpolitischen Konflikten zu konfrontieren, bei denen selbst Erwachsene den Durchblick verlieren! Das ist unser Appell, nachdem wir "Atlas" (Funk/NDR) gesichtet und mit einem Preis bedacht haben.
Bei dem Youtube-Format handelt es sich um eine junge Auskopplung des traditionsreichen ARD-Auslandsmagazins "Weltspiegel". Die beiden Hosts Tessniem Kadiri und Don Pablo Mulemba führen im Wechsel in Regionen, von denen man sonst in den Nachrichten eher selten hört.
Meist ausgehend von einem Social-Media-Phänomen gräbt sich "Atlas" in die Tiefe: Wie kommt es, dass zwei Brüder mit Ferraris, Privatjets und Millionen-Villen protzen, während in ihrem Heimatland Syrien die Menschen jahrzehntelang vom Assad-Regime brutal unterdrückt wurden? Warum geht die Schere zwischen Arm und Reich nirgendwo in Afrika so weit auseinander wie im reichsten Land Nigeria?
Auch bei einem in seiner Komplexität so verfahrenen und politisch aufgeladenen Thema wie den Spannungen im Westjordanland bleibt die Betrachtung differenziert, sachlich und fair. Präsentation, Themenaufbereitung und Moderationssprache kommen mit dem Youtube-typischen Touch daher, ohne es aber zu überreizen. Die informierende und orientierende Qualität von "Atlas" wird nie überlagert von unseriösen Clickbaiting-Effekten. Korrespondenten aus dem ARD-Netzwerk liefern fundierten Hintergrund. So werden Jugendliche in ihrem Informationsbedürfnis bestens abgeholt und können zugleich entscheiden, ob sie sich weiter mit dem Thema beschäftigen.
"Atlas" ging bereits 2022 an den Start, wenige Wochen nach der russischen Invasion in der Ukraine. Angesichts der Multi-Krisen in der Welt hat das Auslandsmagazin für Junge Menschen seine Relevanz aber über die Jahre noch gesteigert.
Copyright: Foto: Enric Mammen
Darstellung: Autorenbox
Text: Senta Krasser war Mitglied der Jury Kinder & Jugend.
Zuerst veröffentlicht 08.04.2025 09:15
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Auszeichnungen, Preise, Grimme-Preis, Jury-Bericht, Kinder, Jugend, Krasser
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