Alltag im Nationalsozialismus - epd medien

26.04.2025 11:00

Die ARD-Dokumentation "Hitlers Volk - Ein deutsches Tagebuch" erzählt mithilfe von Tagebucheinträgen und Feldpostbriefen vom Alltag im Nationalsozialismus. Der streng subjektive Blick ist reizvoll, doch es fehlt die Einordnung.

ARD-Dokumentation "Hitlers Volk - Ein deutsches Tagebuch"

Eine Alltagsszene aus "Hitlers Volk" im Graphic-Novel-Stil

epd Wie man sieht, findet sich immer noch ein Titel mit Hitler, der im öffentlich-rechtlichen Zeitgeschichtsfernsehen noch nicht vergeben wurde. In dieser dokumentarischen ARD-Serie stehen fünf Männer und drei Frauen also für "Hitlers Volk". Die Zeit von 1933 bis 1945 wird chronologisch aus ihrer Perspektive erzählt, ohne Interviews mit Fachleuten, nur mit einigen einordnenden Anmerkungen aus dem Off. Grundlage sind Tagebücher sowie einige Feldpostbriefe, gelesen unter anderem von Mala Emde, Ulrich Matthes und Ulrich Noethen.

Reenactment gibt es nicht, dafür aber zahlreiche Graphic-Novel-Szenen, die Alltag, existenzielle Situationen, Sorgen, Angst und Liebesglück zum Ausdruck bringen. Die eindrucksvollen Zeichnungen von Vincent Burmeister sind eine willkommene Abwechslung in dem stetigen und hastig geschnittenen Fluss aus Archivbildern, die manchmal verfremdet und meist ohne Quellenangaben gezeigt werden. Wenn die Tagebücher darauf Bezug nehmen, werden auch Hitler-Reden und NS-Propaganda einbezogen. Wenn es nicht ausreichend Bildmaterial von den Tagebuch-Protagonisten gibt, werden manchmal Szenen mit ähnlich aussehenden Personen eingefügt. Die Bild-Ton-Schere geht nicht allzu weit auseinander, aber was hier "echt" ist, bleibt oft unklar. Lebendigkeit geht vor Authentizität - ein zweifelhaftes Vorgehen.

Ein wunderbar erhebendes Erlebnis für uns alle.

Natürlich hat der streng subjektive Tagebuch-Blick einen unbestreitbaren Reiz. Menschen berichten in unverstellter Unmittelbarkeit aus ihrem Alltag - ohne das Wissen um den Fortgang der Geschichte, der Nachgeborenen das Urteilen (und Verurteilen) leichter macht. Die 44-jährige Hamburgerin Luise Solmitz schrieb im Februar 1933 in ihr Tagebuch über ein "wunderbar erhebendes Erlebnis für uns alle", also auch für ihren Mann Friedrich und ihre zwölfjährige Tochter Gisela. Mit einem Fackelzug feierten die Nationalsozialisten die Machtübernahme, und die Familie war "wie berauscht vor Begeisterung".

Schon bald brach jedoch das Unheil über die Familie herein, denn Friedrich Solmitz war zwar getaufter Christ, Soldat im Ersten Weltkrieg und von deutschnationaler Gesinnung, aber auch jüdischer Abstammung. Davon erfuhr die nichtsahnende Gisela im Mai 1933, als ihre Schule einen Arier-Nachweis verlangte. Dass die Tochter laut Luise eine "Juden-Hasserin" war, erscheint nicht verwunderlich, denn die Mutter schrieb in ihr Tagebuch: "Nichts geht mir über Mann und Kind, und dennoch weiß ich, dass Hitlers Rassegesetze richtig sind." Auch im März 1936, nach dem Einmarsch der Wehrmacht in das entmilitarisierte Rheinland, war sie noch "ganz beglückt (…) von der Größe Hitlers, der Gewalt dieses Mannes". Luise Solmitz liefert ein tadelloses Beispiel für die Widersprüchlichkeit von "Hitlers Volk".

Antisemitismus und Rassenwahn

Ihre Familie bleibt zusammen und überlebt die NS-Zeit. Im Gegensatz zum jüdischen Lehrer Willy Cohn aus Dresden, seiner Frau Trudi und den Töchtern Susanne (9) und Tamara (3), die im November 1941 in einem Wald nahe Kaunas/Litauen erschossen werden. Weil die Perspektive des Geschichts-Erklärers aus der Zukunft konsequent vermieden wird, ist in "Hitlers Volk" kein einziges Mal vom NS-Beschluss der Judenvernichtung, vom Holocaust oder von Auschwitz die Rede. Das ist irritierend, allerdings sind Antisemitismus und Rassenwahn in Deutschland von Beginn an Thema, nicht nur in den Tagebüchern von Willy Cohn und Luise Solmitz.

Die Grausamkeit des Vernichtungsfeldzugs belegen zum Beispiel die Tagebuch-Einträge des Wehrmachtssoldaten Helmut Fischer, der von Massen-Erschießungen gehört hatte. "Nur die Kinder sollen sich, wie mir ein Augenzeuge, unser Werkmeister, berichtete, etwas angestellt haben", schreibt Fischer, dessen Name auf Wunsch von Angehörigen geändert wurde.

Gewalt und sozialer Druck

Auch die junge Gärtnerin und naive Mitläuferin Inge Thiele, die wohl für die Deutschen "aus einfachen Verhältnissen" stehen soll, heißt eigentlich anders. Überzeugte Nationalsozialisten sind Hitlerjunge Franz Schall und Egon Oelwein, ein Funktionär im Reichsarbeitsdienst, dessen Tagebuch erst Anfang 1938 beginnt, der später der Waffen-SS beitritt und im Krieg ums Leben kommt.

Wie Nazi-Gegner durch Gewalt und sozialen Druck dazu gebracht wurden, sich dem Regime zu beugen, erzählen die Tagebücher des Gastwirts Matthias Mehs aus Wittlich in der Eifel. Zentrumspolitiker Mehs ist Stadtverordneter und übt sich nach und nach in Anpassung. Nach dem Krieg wurde Mehs Bürgermeister und CDU-Bundestagsabgeordneter.

Streng subjektiver Blick

Die 1939 im Alter von 14 Jahren mit ihrer Familie aus Japan heimgekehrte Ortrun Koerber, die mit wachsendem Entsetzen den Alltag in Schule, im Bund Deutscher Mädchen (BDM) und im Arbeitsdienst beschreibt, vervollständigt die Auswahl.

Der streng subjektive Blick kann keine umfassende Darstellung des Lebens im Nationalsozialismus bieten, die dreieinhalbstündige Serie wird für die Ausstrahlung im Ersten auf 90 Minuten gekürzt. Was im Lebensumfeld der acht Tagebuch-Autorinnen und -Autoren nicht auftaucht, wird nicht thematisiert. Auch mag die nationale Beschränkung legitim sein, weil der Fokus ausdrücklich dem Alltag und den Einstellungen der Deutschen gilt. Aber sie verengt natürlich den Blick, was letztlich zu einer historisch fragwürdigen Darstellung führt. Zum Beispiel scheint es so, als habe es Luftangriffe nur auf deutsche Städte gegeben.

Die Tagebuch-Zeugnisse sind eindrucksvoll, die Archivbilder schockierend, aber von den verheerenden Zerstörungen, die die deutsche Luftwaffe zuvor in anderen Ländern anrichtete, ist nicht die Rede. Die Serie, die sich ja vor allem an ein jüngeres Publikum in der Mediathek richtet, hätte mehr historische Einordnung nötig als den Verweis per QR-Code auf den Achtteiler "NS-Cliquen" in der ARD-Audiothek.

infobox: "Hitlers Volk - Ein deutsches Tagebuch", vierteilige Dokumentation (ARD-Mediathek/RBB/SWR/RB/MDR, seit 22.4.25, ARD, 5.5.25, 22.50-0.20 Uhr), Regie und Buch: Eva Röger, Daniel Ast, Jürgen Ast, Produktion: Astfilm Productions



Zuerst veröffentlicht 26.04.2025 13:00

Thomas Gehringer

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, Dokumentation, Röger, Ast, Gehringer

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