"Den Diskurs ermöglichen" - epd medien

27.04.2025 09:05

Der stellvertretende MDR-Chefredakteur Florian Meesmann hat eine "neue kommunikative Redlichkeit in der gesellschaftlichen Debatte" und in den Medien gefordert. "Wir müssen uns und unserem Gegenüber wieder mehr zumuten", sagte Meesmann beim Symposium "Kommunikation stärkt Demokratie" am 9. April in Leipzig. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk könne in vielfältiger Weise einen solchen Diskurs ermöglichen. Das Symposium wurde veranstaltet vom Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig zusammen mit den Kommunikationsverbänden DPRG, BdKom und GPRA.

Florian Meesmann über die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks

epd Wozu brauchen wir eigentlich noch Medien? Jeder von uns kann doch längst senden, was, wo, wie und wann er will! Mit einem simplen Post kann jeder von uns mehr Menschen erreichen als mit manchem noch so durchdachten publizistischen Produkt, jedem TV-Beitrag, jeder noch so ehrwürdigen Tageszeitung.

Einzige Voraussetzung: Der Inhalt wird vom Algorithmus der jeweiligen Plattform belohnt.

Ob die Fakten stimmen? Wie relevant das ist? Oft bestimmt das erwartete Echo die Botschaft. So können Emotionen fast mühelos die Fakten verdrängen, das Gerücht die recherchierte Geschichte, die Lüge jede Wahrheit.

Algorithmisierung des Diskurses

Die Polarisierungsunternehmer unserer Zeit haben diese Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie längst verinnerlicht. Sie haben verstanden und ändern unsere Kommunikationsräume in rasantem Tempo. Bernhard Pörksen und andere sprechen zu Recht von der Algorithmisierung des Diskurses.

Der Gegensatz, die Zuspitzung, der Konflikt. All das wird nicht nur wahrgenommen, sondern bis zur Schmerzgrenze verstärkt. Übertönt wird dagegen vieles, was den Kern unserer Demokratie ausmacht. Die Ambivalenz, das abwägende Einerseits-Anderseits, der graue Kompromiss. Der Diskurs als Ort der Problemlösung, ganz in der Tradition der Aufklärung, droht unter der Last der Polarisierung zu verstummen.

Das ideale Umfeld für gezielte Desinformation.

Die Folgen sind fatal: Reale gesellschaftliche Prozesse und ihre digitale Spiegelung verzerren einander. Es entsteht dröhnender Lärm statt lösungsorientiertem Diskurs. Der Umgangston schrill, die Sprache rau, der Umgang mit der Wahrheit lax. Das ideale Umfeld für gezielte Desinformation. Misstrauen breitet sich aus. Der Demokratie tut das nicht gut.

Dabei sind die Herausforderungen für die Demokratie so groß wie lange nicht.

Demokratie, schreibt der Soziologe Andreas Reckwitz, ist in der akademischen Debatte per se wertvoll und schützenswert, für viele Menschen aber auch Mittel zum Zweck, damit Probleme gelöst werden.

Wenn das nicht gelingt oder nicht in dem Maße, in dem dies erwartet wird, unabhängig davon, wie realistisch oder berechtigt die Erwartungen sind, dann wird schnell das System infrage gestellt.

Ein Verlust an Sicherheit und Homogenität.

Seit Jahrzehnten lebt die Demokratie immer auch davon, dass die Erwartung des materiellen Aufstiegs für viele erfüllt wird, dass der Fahrstuhl für die meisten weiter nach oben fährt. Was aber geschieht, wenn diese Erwartungen nicht mehr oder nicht mehr zuverlässig erfüllt werden?

Genau das haben viele Menschen in den Polykrisen der vergangenen Jahre erlebt: Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, die Folgen der Migration. Der Staat und seine Institutionen wirken schwach und überfordert, viele Menschen fühlen große Unsicherheit. Ein Verlust an Sicherheit und Homogenität. Sozial, kulturell und auch im Diskurs.

Alles geht den Bach runter, und ich kann nichts dagegen tun.

In der Folge sehen wir einen gravierenden Vertrauensverlust. Neue Dimensionen der Ungewissheit haben das Vertrauen in den Staat tief erschüttert. Die Frankfurter Sozialpsychologin Vera King zeigt, wie sich Vertrauen in ein entgrenztes Misstrauen gewandelt hat. Neue Gemeinschaften des verabsolutierten Misstrauens gegenüber Medien, Politik und Wissenschaft seien entstanden, so King.

Und das kann sich auf den Alltag übertragen: Wer hat nicht schon Menschen erlebt, die jeden verspäteten Bus, jede Service-Panne im Café, jedes Missverständnis im Straßenverkehr als neuerlichen Beleg einer allgemeingültigen Erzählung des Niedergangs verstehen?

Alles geht den Bach runter, und ich kann nichts dagegen tun.

Vertrauensverlust auf allen Ebenen

Diese komplexe Seelenlage bespielt niemand so gut wie der politische Populismus von links und rechts, niemand hat besser verstanden, die Überforderung und die Enttäuschung des Einzelnen in simple Parolen zu übersetzen. Die da oben sind schuld, ich selbst machtlos. Diese verlockende Unmündigkeit verbindet sich mit einer schlichten Weltsicht: Alles, was nicht meine Meinung ist, muss eine Lüge sein.

Pressefreiheit, Parlamente oder unabhängige Gerichte - die Institutionen der Demokratie werden ins Lächerliche gezogen, die mühseligen Prozesse der freiheitlich demokratischen Gesellschaftsordnung diffamiert.

So wächst eine Abneigung gegen unsere Gesellschaft, ihre Art zu kommunizieren, ihre Art Konflikte zu lösen, gegen den Staat. Ein Vertrauensverlust auf allen erdenklichen Ebenen. Das bringt die Demokratie in ernste Gefahr.

Warum brauchen wir in dieser Ausgangslage Medien und warum den öffentlich-rechtlichen Rundfunk?

Verlässliche Informationen

Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) birgt diese Ausgangslage eine gewaltige Herausforderung. Zunächst gerät er in dröhnenden Zeiten gehörig unter Druck. Das zeigt der anhaltende Streit um die angemessene Beitragshöhe, der nun vom Bundesverfassungsgericht geklärt werden muss. Und doch haben wir eine riesige Chance, uns neu zu erfinden und zu legitimieren, wenn wir uns denn kraftvoll und schnell verändern.

Das Bedürfnis nach verlässlichen Informationen ist überwältigend in Krisenzeiten. Um Vertrauensanker zu bleiben, müssen wir den öffentlichen, digitalen Raum mit seriösen, verlässlichen Informationen prägen. Das kann helfen, der Polarisierung in der Gesellschaft entgegenzutreten.

Im Idealfall gelingt es uns, dadurch neue soziale Räume zu schaffen, in denen wir mit unseren Nutzerinnen in einen Dialog gehen. Dieser darf weder Selbstzweck noch Inszenierung eines elitären Diskurses sein.

Nähe zur Lebenswelt der Nutzer

Unsere Relevanz bestimmt sich durch radikale Verständlichkeit. So können wir Entwicklungen einordnen und Orientierung bieten. Regionalität verstehen wir als Nähe zur Lebenswelt unserer Nutzer. Die Debatte würdigen wir als eine gemeinsame Suche nach Lösungen. Mit mündigen Protagonisten, die Verantwortung für sich und für andere übernehmen.

So stärken wir den kritischen Menschen gegenüber der Macht der Algorithmen.

Das bedeutet mehr Demut vor den Nutzerinnen: Liefern wir bei komplexen, politischen Themen genug Orientierung, um unsere Zuschauerinnen in ihrer Lebenswelt entscheidungsfähig zu machen? Lassen wir möglichst viele Menschen Verlässlichkeit und Vertrauen erleben? Dann müssen Reichweite und publizistische Exzellenz kein Widerspruch sein.

Unabhängige Instanz

Hat sich der Diversitätsbegriff bislang häufig auf die Berücksichtigung von Minderheiten konzentriert, dürfen wir in Zukunft auch andere Gruppen nicht aus dem Blick verlieren. Die, die nicht in den gut situierten Vierteln der Großstädte leben, sondern auf dem Land. Die, die kein Abitur, geschweige denn einen Studienabschluss haben. Die, deren Lebensweg nicht durch Privilegien aller Art befördert wurde. Es gilt, möglichst viele Perspektiven zu berücksichtigen

Wir müssen lernen, Unterschiede ernst zu nehmen und zu würdigen. So können wir Demokratie, den Rechtsstaat und auch die Freiheit der Medien erlebbar machen. Dazu gehört auch die traditionelle Rolle als kritische, unabhängige Instanz der sogenannten Vierten Gewalt im Gemeinwesen.

Gemeinsame technische Infrastruktur

Wir müssen uns fragen, wie es uns gelingt, eigene Plattformen mit unseren Inhalten kraftvoll zu machen, anstatt andere Plattformen zu stärken, deren Algorithmen unsere Werte nicht kennen und unsere Gesellschaft weiter spalten.

Bei den Mitteldeutschen Medientagen hier in Leipzig Anfang April forderte der ARD-Vorsitzende und Intendant des Hessischen Rundfunks Florian Hager die deutschen Medien zur Entwicklung einer gemeinsamen Strategie auf. Wichtig sei vor allem die Schaffung einer gemeinsamen technischen Infrastruktur, die die deutschen Medienunternehmen weniger abhängig von großen, zumeist US-amerikanischen Konzernen mache, sagte er. Technische Autonomie und Plattformautonomie gehören für einen ÖRR der Zukunft zusammen.

Kommunikation stärkt Demokratie, heißt es in der Einladung zum heutigen Tag. Doch wer die Demokratie durch Kommunikation stärken möchte, muss zunächst verlorenes Vertrauen zurückgewinnen.

Wir müssen uns und unserem Gegenüber wieder mehr zumuten.

Ganz gleich, ob schärfere Gesetze, mehr Eigenverantwortung oder weniger Geld: Zu oft hören wir: Das können wir den Nutzern, Kunden, Wählern nicht zumuten. Aus Angst vor Überforderung, vor Abwendung oder schlicht aus Bequemlichkeit, obwohl viele spüren, dass es besser wäre, Dinge zu benennen, um sie ändern zu können. Auch das kann Misstrauen schaffen.

Deshalb brauchen wir eine neue kommunikative Redlichkeit in der gesellschaftlichen Debatte, in den Medien, aber auch in den Unternehmen, den Verbänden und auch im Parlament. Nur so können wir Vertrauen zurückgewinnen in die Kraft unserer Gesellschaft und in die Kraft jedes Einzelnen.

Dazu gehört vor allem eines: Wir müssen uns und unserem Gegenüber wieder mehr zumuten. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk kann in vielfältiger Weise diesen Diskurs ermöglichen. So stärkt Kommunikation unsere Demokratie.

dir



Zuerst veröffentlicht 27.04.2025 11:05 Letzte Änderung: 29.04.2025 15:49

Schlagworte: Medien, Rundfunk, Öffentlichkeit, Dokumentation, Demokratie, Medienkritik, Meesmann, BER, NEU

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