04.06.2025 07:00
Peter Müller über den Zustand der öffentlichen Debatte in Deutschland
epd Ich freue mich sehr, heute Abend hier bei Ihnen sein und ein paar Gedanken über den Zustand der öffentlichen Debatte mit Ihnen austauschen zu können. Dies ist allerdings kein vergnügungssteuerpflichtiges Thema. Deshalb kann ich Ihnen auch keine vergnügliche halbe Stunde versprechen. Das Thema gibt Anlass zur Sorge.
Dafür spricht schon die Sicht von außen auf diese Debatte. Zitat: "Die Bedrohung, die mir in Bezug auf Europa die meisten Sorgen bereitet, ist die Bedrohung von innen. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist, fürchte ich, auf dem Rückzug." Diese Äußerung fiel auf der Münchner Sicherheitskonferenz und stammt von J.D. Vance, dem neuen amerikanischen Vizepräsidenten.
Jetzt könnte man sagen: Klar, das ist ein Vertreter dieser neuen amerikanischen Administration, die im Moment mal so nebenbei die regelbasierte Weltordnung zertrümmert, die transatlantische Partnerschaft unterminiert und eine werteorientierte Politik durch eine skrupellose, im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen gehende Politik des Deal-Making ersetzt.
Die Binnensicht auf die Debatte ist nicht viel besser.
Aber die Binnensicht auf die öffentliche Debatte in unserem Land ist nicht viel besser. Dies belegen etwa folgende Zitate aus der "Neuen Zürcher Zeitung" im Oktober des vergangenen Jahres: "Deutschland braucht keine Zensurapparate." - "Meldestellen, die gegen Äußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze vorgehen, sind aber nichts anderes als staatlich geförderte Zensurapparate."- "Eine Zeit, in der Privatmeinungen engmaschig überwacht wurden, gab es schon einmal in Deutschland. Es war die Zeit des Überwachungsstaats DDR."
Wem dies als Ausweis des bedenklichen Zustandes des demokratischen Diskurses nicht genügt, der sollte zumindest die Ergebnisse des Freiheitsmonitors des Meinungsforschungsinstituts Allensbach zur Kenntnis nehmen. Allensbach untersucht seit vielen Jahren die Frage: Glauben die Deutschen, dass man in Deutschland seine Meinung frei äußern kann? Bis etwa Ende des vergangenen Jahrhunderts waren die Ergebnisse stabil und ziemlich eindeutig. Etwa 80 Prozent der Befragten haben gesagt, in Deutschland könne man seine Meinung frei äußern. Die übrigen waren skeptisch.
Seit der Jahrhundertwende hat sich dies dramatisch verändert. 2023 haben nur noch 40 Prozent der Befragten erklärt, in diesem Land könne man seine Meinung frei äußern. 44 Prozent waren anderer Meinung. Im letzten Jahr war es wieder ein bisschen besser. 47 Prozent haben gesagt, es geht, seine Meinung frei zu äußern. 41 Prozent haben das anders gesehen. Trotzdem sehen unverändert zwei von fünf Befragten die Meinungsfreiheit als nicht mehr gewährleistet an. Das ist insbesondere deshalb problematisch, weil jemand, der bezweifelt, dass Meinungsfreiheit herrscht, über kurz oder lang sein Vertrauen in die demokratische Ordnung verlieren wird.
Meinung ist immer etwas subjektiv Wertendes.
Angesichts dessen stellen sich zwei Fragen. Erstens: Ist die Skepsis gegenüber der Meinungsfreiheit berechtigt? Und zweitens: Was ist zur Überwindung dieser Skepsis zu tun, damit der in einer freiheitlichen Demokratie unverzichtbare öffentliche Diskurs keinen weiteren Schaden nimmt? Bei der Befassung mit diesen Fragen ist es naheliegend - und wohl auch so intendiert -, dass der Jurist zunächst einmal auf die normativen Grundlagen zurückgreift. Trotzdem möchte ich versuchen, neben der normativen Betrachtung auch ein paar Anmerkungen zur Verfassungswirklichkeit und möglicherweise sich daraus ergebenden Konsequenzen zu machen.
Verfassungsrechtlich ist sedes materiae Artikel 5 des Grundgesetzes. Dort heißt es: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten." Die Vorschrift garantiert darüber hinaus die Pressefreiheit sowie die Rundfunkfreiheit und etabliert ein Zensurverbot.
Was bedeutet das? Geschützt wird zunächst die Meinungsfreiheit. Meinung ist immer etwas subjektiv Wertendes. Diesbezüglich ist die deutsche und auch die europäische Rechtstradition eine andere als die amerikanische - ein Umstand, der bei manchen Debatten, die wir zurzeit führen, unzureichend berücksichtigt wird.
Das europäische Verständnis ist ein anderes.
Im US-amerikanischen First Amendment wird nicht die Meinungsfreiheit garantiert, sondern die Redefreiheit. "Freedom of Speech" - das geht über die bloße Meinung, über die wertende Betrachtung hinaus. Deutlich wird dies bei der Frage: Gibt es ein Recht zur Lüge? Aus amerikanischer Sicht ist es eindeutig, dass die Redefreiheit auch das Recht zur Lüge mit umfasst. Wir haben zurzeit ja einen US-Präsidenten, der von diesem Recht durchaus intensiv Gebrauch macht.
Das europäische Verständnis ist eine anderes. Es sieht das Recht zur Lüge nicht als uneingeschränkt geschützt an. Dabei wird erkannt, dass es schwierig ist, zwischen Meinungen und Tatsachen zu unterscheiden. Deshalb gilt der Grundsatz: In dubio pro libertate. Wenn eine genaue Zuordnung nicht möglich ist, ist davon auszugehen, dass eine grundrechtlich geschützte Meinungsäußerung vorliegt. Aber jedenfalls die vorsätzliche und nachweisliche Falschbehauptung fällt nach europäischer und deutscher Tradition schon nicht unter den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Das ist ein wesentlicher Grund für die unterschiedlichen Bewertungen diesseits und jenseits des Atlantiks, mit denen wir aktuell konfrontiert sind.
Aus deutscher verfassungsrechtlicher Sicht ist die Meinungsfreiheit zudem auch kein allen anderen Freiheiten vorgelagertes Über-Grundrecht, sondern ein Grundrecht, das zu den sonstigen Grundrechten in Beziehung gesetzt und mit diesen abgewogen werden muss. Deshalb gibt es Grenzen der Meinungsfreiheit. Diese sind verfassungsrechtlich konkretisiert im Artikel 5 Absatz 2 des Grundgesetzes. Danach findet die Meinungsfreiheit ihre Grenzen in den allgemeinen Gesetzen, dem Schutz der Jugend und dem Schutz der persönlichen Ehre. In der Folge besteht immer die Notwendigkeit, Grundrecht und Grenzen gegeneinander abzuwägen. Weder geht das eine dem anderen generell vor noch das andere dem einen.
Die Meinungsfreiheit schützt auch die abwegige Meinung.
Trotzdem greift die Meinungsfreiheit weit. Sie schützt auch die abwegige Meinung, die polemische Meinung, die geschmacklose Meinung, die unanständige Meinung - all das fällt in den Schutzbereich von Artikel 5 Absatz 1 GG und ist allenfalls am Maßstab des Artikels 5 Abs. 2 GG zu messen. Selbst Meinungen, die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung abzielen, unterfallen dem Schutzbereich der Norm. So hat es jedenfalls das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt und darauf verwiesen, dass es vorrangig Aufgabe der geistigen Auseinandersetzung und der Aufklärung in Erziehung und Schule sei, sich gegen solche Äußerungen zu wehren.
Neben der weit gefassten Meinungsfreiheit wird in Artikel 5 GG die Rundfunk- und die Pressefreiheit garantiert. Dabei ist in unserem Zusammenhang in den Blick zu nehmen, dass das Bundesverfassungsgericht diese beiden Freiheiten nie als reine Berechtigungen gesehen, sondern ihnen immer auch eine dienende Funktion im demokratischen Gemeinwesen zugewiesen hat. Die Rundfunk- und die Pressefreiheit haben danach die Aufgabe, die notwendigen Informationen zu vermitteln und die Abbildung der Meinungsvielfalt sicherzustellen, damit die Bürgerinnen und Bürger auf dieser Grundlage sich ihre eigene Meinung bilden können.
Vor diesem Hintergrund hat das Gericht zur Rundfunkfreiheit im öffentlich-rechtlichen Bereich eine Sonderdogmatik entwickelt, die ursprünglich den Umständen Rechnung tragen sollte, dass es wenige Frequenzen gab und es eines hohen Kapitalaufwands bedurfte, um überhaupt Rundfunk veranstalten zu können. Obwohl diese Bedingungen zwischenzeitlich weggefallen sind, hat sich an der Dogmatik zur Rundfunkfreiheit im Wesentlichen nichts geändert. Sie besteht aus einer Vielzahl von Instituten und Garantien, die an dieser Stelle aus Zeitgründen im Einzelnen nicht dargelegt werden können.
Der Staat ist nach klassischem Verständnis auf eine Wächterrolle beschränkt.
In unserem Zusammenhang von zentraler Bedeutung ist der Grundversorgungsauftrag. Danach ist es Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die grundlegenden Informationen und die Vielfalt der Meinungen - also den common ground, auf dessen Grundlage sich die politische Willensbildung vollzieht - abzubilden. Aus dieser Aufgabe werden die Bestands- und Entwicklungsgarantie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die Notwendigkeit seiner Staatsferne, die Binnenpluralität und schließlich auch die Rechtfertigung seiner Finanzierung durch eine Zwangsabgabe abgeleitet.
Daneben wird durch die Rundfunkfreiheit auch der private Rundfunk geschützt, der - entsprechend der dienenden Funktion des Grundrechts - einen eigenständigen Beitrag im öffentlichen Diskurs leistet. Deshalb gibt es auch im privaten Rundfunk vielfaltssichernde Pflichtbindungen und journalistische Sorgfaltspflichten. Ursprünglich war die Überprüfung der Beachtung dieser Pflichten neben der Frequenzvergabe die wesentliche Aufgabe der Landesmedienanstalten. Mittlerweile ist diesen Anstalten aber ein Aufgabenpaket übertragen, das weit über diese Fragestellungen hinausgeht. Darauf komme ich später noch einmal zurück.
Schließlich kommt auch der Presse eine dienende Funktion im demokratischen Diskurs zu. Dabei soll die Pluralität der Meinungen durch die Vielfalt unterschiedlicher Presseerzeugnisse abgebildet werden. Der Staat ist dabei nach klassischem Verständnis eher auf eine zurückgezogene Wächterrolle beschränkt, wobei sich angesichts massiver Konzentrationsprozesse zunehmend die Frage stellt, ob das Abwehrrecht, das die Pressefreiheit eigentlich kennzeichnet, nicht auch eine leistungsrechtliche Dimension hat. Kann und darf der Staat aktiv dafür Sorge tragen, Vielfalt im Pressewesen zu erhalten? Darf er zur Sicherung der Außenpluralität subventionieren und dabei sogar nach Bedürftigkeit differenzieren? - Angesichts der aktuellen Entwicklungen im Pressewesen sicherlich eine schwierige, aber berechtigte Debatte.
Die Verfassungswirklichkeit bleibt hinter der normativen Konzeption zurück.
Damit wäre der verfassungsrechtliche Rahmen des öffentlichen Diskurses markiert. Wenn man von diesem theoretischen Konstrukt ausgeht, müsste ein die Vielfalt der Meinungen abbildender und darauf aufbauender Diskurs eigentlich umfassend gewährleistet sein und problemlos ablaufen. Tut er aber nicht. Dass die Verfassungswirklichkeit dem nicht entspricht und die Abbildung der Meinungsvielfalt defizitär ist, wird durch die bereits zitierten Feststellungen im Freiheitsmonitor des Instituts für Demoskopie Allensbach indiziert. Die Verfassungswirklichkeit bleibt hinter der normativen Konzeption der Meinungsfreiheit und der Vielfaltssicherung deutlich zurück. Da es den zeitlichen Rahmen sprengen würde, dies in allen Einzelheiten auszuleuchten, möchte ich mich insoweit auf drei Punkte konzentrieren.
Erster Punkt: Die Frage der Verengung der öffentlichen Debatte innerhalb der Grenzen der Meinungsfreiheit gemäß Artikel 5 Absatz 2 des Grundgesetzes. Zweitens die Frage: Werden eigentlich die Rundfunkanstalten ihrer dienenden Funktion, die zentral für ein demokratisches Gemeinwesen ist, noch gerecht? Und drittens: Funktioniert das grundgesetzliche Konzept des demokratischen Diskurses überhaupt noch unter den veränderten Kommunikationsbedingungen, die sich aus der Entwicklung der Plattformen und der sozialen Medien ergeben?
Erster Punkt, die Verengung des demokratischen Diskurses. Diejenigen, die bei der Allensbach-Befragung erklärt haben, man kann in Deutschland seine Meinung nicht mehr frei äußern, tun dies im Regelfall weniger mit Blick auf die rechtliche Lage. Diese hat sich in relevantem Umfang nicht verändert, seit es das Grundgesetz gibt. Sondern sie tun es, weil sie den Eindruck haben, dass die unbefangene Äußerung der eigenen Meinung zu gesellschaftlicher Ächtung führen kann. Es wird befürchtet, dass man - wenn man bestimmte Positionen vertritt - sehr schnell in eine bestimmte, regelmäßig in eine rechte oder rechtsradikale Ecke gestellt wird. Folge ist die Entstehung von Diskussionstabus und im Anschluss von Repräsentationslücken, weil bestimmte Positionen in der öffentlichen Debatte nicht mehr vertreten sind oder moralisierend abgewertet werden.
Das treibt den Populisten die Hasen in die Scheune.
Deshalb glaube ich, dass wir noch einmal über das Thema: "Wo sind die Grenzen des Sagbaren?" reden müssen. Meine Überzeugung ist: Die Grenzen des Sagbaren werden durch Artikel 5, Absatz 2 des Grundgesetzes bestimmt und durch nichts anderes. Es mag Dinge geben, die unappetitlich sind, die unangenehm sind, die diskriminierend sind, die verletzend sind, die unsäglich sind. Unsagbar sind sie nicht, solange die Grenzen des Artikels 5 Absatz 2 GG, also die allgemeinen Gesetze sowie der Schutz der Jugend und der persönlichen Ehre beachtet werden.
Es ist verständlich, dass in der politischen Debatte das Streben nach Dominanz auch dadurch Ausdruck findet, dass man postuliert, bestimmte Begriffe dürften erst gar nicht verwandt und bestimmte Argumente nicht vorgetragen werden. Dies ist der Versuch der Vermeidung bestimmter Debatten durch moralische Ausgrenzung. Typisches Beispiel ist etwa die Benennung des Unworts des Jahres. Da sind selbsternannte, in keiner Weise legitimierte Experten damit befasst, in verlässlicher politischer Einseitigkeit jedes Jahr ein Wort zum Unwort zu erklären. Selbstverständlich ist dies eine zulässige Meinungsäußerung, die durch Artikel 5 GG geschützt ist.
Aber einen Beitrag zur Bestimmung der Grenzen des Sagbaren leistet das nicht. Wenn dann derartige Postulate noch mit moralischen Absolutheitsansprüchen verbunden werden, leidet die öffentliche Debatte. Die Folge ist, dass Menschen, die nicht radikal sind, sich in der öffentlichen Debatte nicht wiederfinden und ausgegrenzt fühlen. Das treibt am Ende den Populisten die Hasen in die Scheune.
Jede Gesellschaft hat einen Bodensatz an Radikalen.
Deshalb ist die Debatte um die Grenzen des Sagbaren wieder stärker an Artikel 5 des Grundgesetzes zu orientieren. Das scheint mir eine Voraussetzung dafür zu sein, manchen, der dem demokratischen System verloren gegangen ist, zurückzugewinnen. Jede Gesellschaft hat einen Bodensatz an Radikalen. Ich glaube aber nicht, dass dieser Bodensatz über 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Ich glaube nicht, dass über 20 Prozent der deutschen Bevölkerung zwischen Pass- und Biodeutschen unterscheiden, aus der Nato austreten, den Euro abschaffen sowie die Europäische Union verlassen will oder den Nationalsozialismus für einen Fliegenschiss in der deutschen Geschichte hält - wie die AfD dies tut.
Wenn diese Menschen trotzdem die AfD wählen, zeigt dies, dass sie sich in der öffentlichen Debatte nicht mehr vertreten fühlen. Entsprechend müssen wir die öffentliche Debatte breiter führen. Nur dann werden wir diese Menschen zurückgewinnen. Das setzt aber eine stärkere Orientierung an dem Grundsatz voraus, den angeblich Voltaire formuliert hat und der lautet: Ich verachte deine Meinung, aber ich werde mein Leben dafür geben, dass du sie sagen kannst. Wir müssen die Verengung des öffentlichen Diskurses überwinden, wenn wir die demokratische Mitte stärken wollen.
Der zweite Punkt: Wird vor diesem Hintergrund eigentlich der Rundfunk und in Sonderheit der öffentlich-rechtliche Rundfunk seiner dienenden Funktion gerade auch mit Blick auf die Abbildung der Breite des Meinungsspektrums noch gerecht? Ich glaube, diese Frage ist nach wie vor für den Zustand des demokratischen Diskurses von entscheidender Bedeutung. Denn der Info-Monitor der Landesmedienanstalten hat zwar eine geänderte Mediennutzung festgestellt. 42 Prozent der Befragten haben dort gesagt, ihre Mediennutzung habe sich in den letzten fünf Jahren geändert. Aber nach wie vor belegen der Rundfunk und insbesondere die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Platz 1 bei der Frage nach der Hauptinformationsquelle. So haben die Nachrichten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bei dieser Frage eine Quote von 88 Prozent erreicht, die Suchmaschinen nur 79 Prozent.
Hinzu kommt das Problem des Haltungsjournalismus.
Umso wichtiger ist es, dass die Abbildung der Vielfalt der Meinungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk stattfindet. Und da enthüllt der Info-Monitor der Landesmedienanstalten, dass die etablierten Medien diese Funktion nur noch bedingt erfüllen. Nur 60 Prozent der Befragten sehen ihre relevanten Themen aufgegriffen, 34 Prozent sehen sich nicht repräsentiert. Und auf die Frage, ob die Berichterstattung ausgewogen ist, antworten 29 Prozent teilweise und 21 Prozent Nein. Das heißt, die Hälfte der Rezipienten ist der Auffassung, einer nicht ausgewogenen oder einer allenfalls teilweise ausgewogenen Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgesetzt zu sein.
Angesichts dessen glaube ich, dass wir darüber nachdenken müssen, ob die Besetzung der Redaktionen im öffentlich-rechtlichen Bereich wirklich die Meinungsvielfalt in der Gesellschaft angemessen widerspiegelt. Hinzu kommt das Problem des Haltungsjournalismus. Aufgabe insbesondere des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist es nicht, vom Guten und Richtigen zu überzeugen, sondern die Vielfalt der Meinungen abzubilden, damit der Einzelne die Möglichkeit hat, auf dieser Grundlage seine eigene Überzeugung über das Gute und Richtige zu bilden.
Das scheint aber nicht Allgemeingut im journalistischen Bereich zu sein. Vielmehr soll es dort angeblich heißen: Berichtest du noch oder missionierst du schon? Ich habe kürzlich im Rahmen einer bitteren Auseinandersetzung mit dem Herausgeber des "Verfassungsblogs", Maximilian Steinbeis, erlebt, dass gerade hinsichtlich des Verständnisses der Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einiges im Argen liegt.
Dann wird der Journalist als Aktivist missbraucht.
Kollege Steinbeis ist der Auffassung, dass durch die gemeinsame Abstimmung der Union und der AfD im Bundestag die politische Mitte zerstört wurde und dass eine defensive Strategie versuchen könnte, diese politische Mitte wiederherzustellen. Zwingend notwendig sei es dabei aber, jegliche Koalition unter der Führung von Friedrich Merz zu verhindern. So zu denken und zu reden, ist zweifellos sein gutes Recht. Das kann man so sehen oder auch nicht.
Wenn er dann aber hinzugefügt, deshalb sei es Aufgabe der Vorfeldorganisation und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dafür zu kämpfen, dass eine solche Koalition verhindert wird - dann wird der Journalist als Aktivist missbraucht. Das entspricht nicht der Verfassungserwartung des Artikels 5 Absatz 1 des Grundgesetzes an die Rundfunkfreiheit. Das ist nicht dasjenige, was öffentlich-rechtlicher Rundfunk mit Blick auf seine dienende Funktion zu leisten hat.
Deshalb gilt es, sich an einen alten Satz zu erinnern, der wohl aus dem angloamerikanischen Raum kommt, den aber Hanns Joachim Friedrichs immer wieder betont hat und der da lautet: "Ein Journalist darf sich mit nichts gemein machen, noch nicht einmal mit einer guten Sache." Die konsequente Beachtung dieser Maxime könnte nach meiner Überzeugung einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Qualität der öffentlichen Debatte leisten.
Mir scheint das ein fataler Irrtum zu sein.
Dritte Frage: Ist all dies nicht obsolet vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Bereich der sozialen Medien? Wenn gegenwärtige Tendenzen sich verstetigen, wird das Netz demnächst der dominante Ort des demokratischen Diskurses und der politischen Willensbildung sein. Dabei stehen sich zwei gegensätzliche Konzepte hinsichtlich des Ablaufs dieses Diskurses gegenüber. Das eine ist das Konzept der Selbstregulierung, und das andere ist ein Konzept, das auch im Bereich der sozialen Medien einen regulatorischen Rahmen für diesen Diskurs fordert.
Für das erste Konzept streitet die neue amerikanische Administration. Donald Trump hat noch am Tage seines Amtsantritts als Präsident mehrere Dekrete öffentlich in einer Turnhalle unterschrieben - ein für diese Aufgabe durchaus seltsamer Ort. Eines dieser Dekrete betraf die angebliche Wiederherstellung der Redefreiheit: "Restoring the Freedom of Speech". Inhalt des Dekrets war die Ankündigung, die Plattformen künftig von jeglicher Verantwortung für die verbreiteten Inhalte freizustellen. Eine Konsequenz war dann, dass Meta-Chef Mark Zuckerberg das Faktenchecking eingestellt hat. Brauchen wir nicht, hieß es, wir machen das über Community Notes. Es reicht, wenn die Nutzer sich mit dem, was da so verbreitet wird, auseinandersetzen und dies dokumentiert wird. Damit sei die Meinungsfreiheit ausreichend gesichert.
Mir scheint das ein fataler Irrtum zu sein. Dabei bleiben zentrale Dinge völlig außer Betracht. Erstens: Algorithmen sind demokratieblind. Algorithmen haben keinerlei Interesse an der Abbildung von Vielfalt. Sie haben vielmehr Interesse an Nutzerbindung, weil man damit Geld verdienen kann. Zweitens: Bei einer solchen Konzeption bestimmt derjenige, der über den Algorithmus verfügt, über den Inhalt der demokratischen Debatte. Das mag im Interesse einzelner amerikanischer Milliardäre sein. Einem offenen, breit angelegten demokratischen Diskurs dient das aber sicher nicht.
Die Lüge fliegt, und die Wahrheit humpelt hinterher.
Drittens: Das Netz belohnt Hass und Hetze. Das Netz belohnt die Verbreitung von Verschwörungstheorien und Unwahrheiten. Frei nach Jonathan Swift: Die Lüge fliegt, und die Wahrheit humpelt hinterher. Das Netz ist tendenziell eine Vorurteils- und eine Vorurteilsbestätigungsmaschine.
Viertens: Es wäre blauäugig, nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass im Netz der Wettlauf der Systeme stattfindet. Autokratische Staaten, nicht nur Russland, nicht nur China, senden Legionen von Trollen aus, um die demokratischen Ordnungen zu unterhöhlen und zu destabilisieren.
Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass der Schutz der Meinungsfreiheit und des offenen demokratischen Diskurses einen regulatorischen Rahmen auch für dasjenige, was im Netz geschieht, voraussetzt. Es muss insbesondere möglich sein, rechtswidrige Inhalte im Netz löschen zu lassen. Was offline rechtswidrig ist, ist auch online rechtswidrig. Daher brauchen wir Instrumente, um dagegen vorzugehen. Dabei müssen auch die Plattformen in die Verantwortung genommen werden. Dies ist allein national nicht regelbar. Das muss man mindestens auf europäischer Ebene machen. Europa bemüht sich darum. Der DSA versucht, Schritte in diese Richtung zu gehen. Das ist zu begrüßen.
In dem Zusammenhang möchte ich eine Bemerkung zur Frage der sogenannten "Zensurapparate" machen. Hintergrund dahingehender Behauptungen ist die Diskussion um die "vertrauenswürdigen Hinweisgeber", die Trusted Flagger im Sinne des DSA und des Digitale-Dienste-Gesetzes. Bei nüchterner Betrachtung liegt deren Qualifizierung als "Zensurapparate" neben der Sache. Da geht es nicht darum, unliebsame Meinungen in irgendeiner Art und Weise zu unterdrücken. Die Tätigkeit der Trusted Flagger ist beschränkt auf das Auffinden rechtswidriger Inhalte. Leider hat der Chef der Bundesnetzagentur mit einer verunglückten Presseerklärung bei der erstmaligen Zulassung eines Trusted Flaggers zur Verwirrung der Debatte beigetragen. Das ändert nichts daran, dass es in der Sache nicht um Zensur, sondern ausschließlich um die Markierung rechtswidriger Inhalte geht.
Als ideale Trusted Flagger bieten sich die Landesmedienanstalten an.
Trotzdem haben wir ein Problem. Denn die Frage, ob ein rechtswidriger Inhalt vorliegt, ist natürlich so leicht nicht zu beantworten. Ganz am Ende entscheiden darüber die Gerichte. Und die sehen es manchmal über die Instanzen unterschiedlich. Deshalb bewegen wir uns in einem Feld, das anfällig ist für politischen Aktivismus. Zudem: Wenn Sie Privaten als vertrauenswürdigen Hinweisgebern die Möglichkeit geben, strafrechtliche Inhalte zu markieren, ist das ein Stück Privatisierung der Strafverfolgung. Das entspricht eigentlich nicht unserer Rechtstradition.
Außerdem besteht bei einem solchen Vorgehen durchaus das Risiko des Overblocking. Wenn bei Facebook und Instagram auf 8 Millionen Beschwerden wegen der Löschung von Inhalten in mehr als 2 Millionen Fällen diese Inhalte wiederhergestellt worden sind, zeigt das, dass hier ein ernsthaftes Problem existiert. Deshalb glaube ich, wenn man am Modell der vertrauenswürdigen Hinweisgeber festhalten will, sollte man sehr sorgfältig sein, wenn es um deren Auswahl geht. Sinnvoll wäre es, diese Aufgabe auf einen kleinen Kreis von Organisationen zu beschränken, die in die öffentliche Kommunikation eingebunden sind, besonderes Vertrauen genießen und Unparteilichkeit gewährleisten. Als ideale Trusted Flagger bieten sich daher nach meiner Überzeugung die Landesmedienanstalten an.
Unabhängig davon muss auf den Plattformen die Abbildung und Auffindbarkeit der unterschiedlichen Meinungen gewährleistet sein. Daneben muss das Transparenzgebot beachtet werden. Auf wen welche Äußerung zurückgeht und wer damit zu verbinden ist, muss nachvollziehbar sein. Damit sich die Breite der Meinungen abbilden kann, muss es möglich sein, Inhalte diskriminierungsfrei einzustellen und aufrechtzuerhalten.
Ergänzt werden muss dies um die Möglichkeit leichter Auffindbarkeit dieser Inhalte, auch wenn sie in die politische Konzeption des einen oder anderen Plattformbetreibers nicht passen mögen. All das ist Gegenstand der Regelungen im DSA. Und all das ist in den Medienstaatsvertrag der Länder eingeflossen. Meines Erachtens zu Recht. Derartige Regulierungen sind notwendig, wenn wir die nachhaltige Beschädigung der öffentlichen Debatte vermeiden wollen.
Hier haben die Ministerpräsidenten gute Arbeit geleistet.
Ich finde es daher richtig, dass die Politik sich dieser Regulierungsaufgabe gestellt hat. Man darf die Politik ja auch mal loben und muss sie nicht zwingend immer nur beschimpfen. Ich finde, hier haben die Ministerpräsidenten - auch wenn wir längst noch nicht am Ende des Weges angelangt sind - gute und verdienstvolle Arbeit geleistet. Die Folge ist allerdings, dass die Aufgaben der Landesmedienanstalten explodiert sind. Denn sie sind diejenigen, die in erster Linie zur Gewährleistung und Durchsetzung der Meinungsvielfalt im Netz aufgerufen sind.
Und deshalb meine ich: Wenn man schon den Aufgabenkatalog der Landesmedienanstalten wesentlich erweitert, muss man sie auch in die Lage versetzen, diesen Aufgaben gerecht zu werden. Dann muss man auch bereit sein, den Landesmedienanstalten eine personelle, finanzielle und sachliche Ausstattung zur Verfügung zu stellen, die es erlaubt, die zusätzlichen Aufgaben angemessen zu erfüllen.
Deshalb bin ich mir nicht so sicher, ob es der Weisheit letzter Schluss ist, die Finanzierung der Medienanstalten nach einem Anteil am Beitragsaufkommen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu bemessen. Dies gilt erst recht, wenn dieser Anteil bis auf die vierte Stelle hinter dem Komma festgeschrieben ist und ersichtlich die Weiterentwicklung des Aufgabenkatalogs dabei allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Mir erschiene es daher überlegenswert, im Bereich der Landesmedienanstalten einen eigenständigen Ansatz zu wählen, d.h. eine eigene Bedarfsermittlung vorzunehmen und danach die Finanzausstattung festzusetzen. Selbstverständlich müsste dabei - ähnlich wie beim Rundfunkbeitrag - die Staatsferne gewährleistet sein.
Betragsmäßig hat sich da seit 30 Jahren nichts getan.
Dies läge sicher auch im Interesse der Erhaltung und Verbesserung des demokratischen Diskurses in unserem Land. Dabei könnte man im Übrigen gleich noch eine Besonderheit der Finanzierung der Landesmedienanstalten begradigen: Es ist ja gut, dass man eingesehen hat, dass insbesondere für die kleinen Landesmedienanstalten der Anteil am Aufkommen des Rundfunkbeitrags noch nicht einmal zum Überleben reicht. Deshalb gibt es einen Sockelbetrag für alle Medienanstalten. Das ist ein begrüßenswertes Zeichen offensiver Solidarität. Das einzige Problem ist: Betragsmäßig hat sich da seit 30 Jahren nichts getan. Das ist schwerlich vertretbar. Daher ist es unübersehbar, dass es an diesem Punkt ebenfalls dringenden Handlungsbedarf gibt.
Am Ende will ich noch ein letztes Problem der öffentlichen Debatte ansprechen: die Frage des Umgangs mit Fake News. Fake News jenseits der Strafbarkeit werden in vielen Fällen unter den Schutzbereich des Artikels 5 Absatz 1 GG fallen. Und trotzdem müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass sie genutzt werden, um die demokratische Ordnung zu diskreditieren und auszuhöhlen. Was kann man tun?
Meines Erachtens ist uns die wirklich überzeugende Lösung dafür, wie man den demokratischen Diskurs schützt, ohne die Meinungsfreiheit unzulässig einzuschränken, noch nicht eingefallen. Artikel 34 des Digital Services Acts verpflichtet zwar die besonders großen Plattformen, systemische Risiken zu bewerten, auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Debatte und hinsichtlich der Wahlprozesse. Das bleibt alles aber ziemlich im Ungefähren. Dass uns das wirklich helfen wird, vermag ich im Moment jedenfalls noch nicht zu erkennen.
Faktenchecker sind nicht frei vom Vorverständnis.
Die Etablierung einer Rechtspflicht zu Faktenchecks, die es zurzeit nicht gibt, ist möglicherweise auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Faktenchecker sind nicht frei von dem Vorverständnis, das sie mit einbringen. Community Notes nach amerikanischem Vorbild scheinen mir allerdings keine wirklich überzeugende Alternative zu sein. Daher ist es des Schweißes der Edlen wert, darüber nachzudenken, wie mit diesem Thema überzeugend umgegangen werden kann. In irgendeiner Rhetorikschule habe ich einmal gelernt, man sollte am Schluss nie mit einer offenen Frage aufhören. Dennoch bin außerstande, Ihnen die Frage nach dem Umgang mit Fake News heute Abend abschließend zu beantworten.
Dies macht aber eines deutlich: Der Schutz des die Vielfalt der Meinungen beachtenden öffentlichen Diskurses ist eine beständige Aufgabe; sie wird nie an ein Ende kommen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Entwicklungen im Netz. Das entbindet nicht davon, die Dinge, die zum Schutz des demokratischen Diskurses möglich sind, jetzt schon zu tun. Vor allem für die Landesmedienanstalten dürfte es sich dabei um eine Sisyphusarbeit handeln.
Aber seit Albert Camus wissen wir: Sisyphus war ein glücklicher Mensch. Weil jedes Mal, wenn der Stein, den er mühsam den Berg hochgerollt hatte, den Berg wieder herunterrollte, neue Perspektiven eröffnet und neue Wege geebnet wurden. Deshalb wünsche ich den Landesmedienanstalten viel Erfolg bei der weiteren Erfüllung ihrer Sisyphusaufgabe - im Interesse der Erhaltung einer breiten, demokratiestabilisierenden öffentlichen Debatte.
red
Zuerst veröffentlicht 04.06.2025 09:00
Schlagworte: Medien, Peter Müller, DLM, Landesmedienanstalten, Internet
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