Das Leiden der Menschen - epd medien

11.06.2025 09:03

Die Arte-Dokumentation "Osteuropa zwischen Hitler und Stalin - Das große Sterben", zeigt, wie Hitler und Stalin in Osteuropa in den 30er und 40er Jahren gleichermaßen auf die Mechanismen von Terror, Massenmord und Hungersnöten setzten. Schätzungen zufolge wurden rund 14 Millionen Menschen so ermordet.

Dokumentation "Osteuropa zwischen Hitler und Stalin"

Deutsche Soldaten vor einer brennenden Scheune: Auf ihrem Eroberungsfeldzug in Osteuropa zerstörte die Wehrmacht gezielt die Lebensgrundlagen der Zivilbevölkerung

epd Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Aus diesem Anlass blickt das lineare Fernsehen mit unterschiedlichen Formaten zurück auf 1945. Der Fokus richtet sich dabei meist auf das Nazi-Regime und die von ihm verübten Verbrechen. In den Hintergrund gerät dabei, dass der Holocaust, die fabrikmäßige Vernichtung von sechs Millionen Juden, geographisch vorwiegend nach Osteuropa verlagert wurde. Vor diesem Hintergrund ordnet Kirsten Esch die Gräueltaten der Nazis in eine historische Kontinuität des Grauens ein.

In ihrer Dokumentation weitet sie den Blick auf ein umfangreiches osteuropäisches Territorium. Es geht um ein Gebiet, das sich von der Ostsee über die heutigen baltischen Staaten bis zum Schwarzen Meer und von Polen bis nach Russland erstreckt. Für die hier lebenden Balten, Belarussen, Ukrainer, Polen - und vor allem für Juden - waren die Kriegsverbrechen der Nazis nur eine Episode in einer Kontinuität des Grauens.

Mord durch Hunger

Der Film erinnert daran, dass sich auf diesem Gebiet bereits im Ersten Weltkrieg das russische Reich, das osmanische Kaiserreich und Österreich-Ungarn bekämpften: "Die multiethnische Bevölkerung lebt hier in ständig sich verschiebenden Grenzen unter wechselnden Herrschern." Im Fokus von Verfolgungen und Repressionen stand meist die jüdische Bevölkerung. Selbst nach dem Sieg der Roten Armee über die deutschen Nazi-Invasoren lebten osteuropäische Juden in der Sowjetunion weiter in einem Klima der Angst, der Diskriminierung und der Repression.

Bereits in den Jahren 1932/33 kamen in der Ukraine mehrere Millionen Menschen zu Tode, unter ihnen zahlreiche jüdische Bauern, durch eine von Stalin verursachte, politisch herbeigeführte Hungersnot. Die aus dem Ukrainischen stammende Bezeichnung Holodomor dafür bedeutet "Mord durch Hunger".

Krieg geht über in Besatzung und ist von Anfang an verbunden mit Ausschreitungen.

Eschs 90-minütige Dokumentation schlägt einen weiten historischen Bogen von den 1930er Jahren bis in die frühe Nachkriegsära. In dieser komplexen Gemengelage könnte man als Zuschauer den Überblick verlieren, doch das ist in "Osteuropa zwischen Hitler und Stalin - Das große Sterben" nicht der Fall. Jede geschilderte Epoche wird geopolitisch eingeordnet. Als roter Faden fungiert das Leiden der Menschen. Der Film rückt die eigentlichen Kriegshandlungen eher in den Hintergrund: "Krieg geht über in Besatzung und ist von Anfang an verbunden mit Ausschreitungen - und diese Ausschreitungen kosten mehr Opfer als die eigentlichen Kampfhandlungen", sagt die Historikerin Tatjana Tönsmeyer, deren These der Film mit Beispielen belegt.

Eine solche Ausschreitung schildert die Polin Wanda Traczyk-Stawska, die als Zwölfjährige Zeugin deutscher Gräueltaten wurde: "Die Bombe traf das Nachbarhaus. Ich sah eine Frau rennen mit einem Baby auf dem rechten Arm. Sie hat es genau so gehalten", wie Traczyk-Stawska es vor der Kamera gestisch andeutet. "Als die Deutschen sie weglaufen sahen, haben sie auf das Kind geschossen. Es fiel auf die Straße. Es war nichts von ihm übrig, weil sie mit schwerem Maschinengewehr geschossen haben. Ich sah, wie dieses Kind zerfetzt wurde. Bis heute trage ich diesen Anblick in mir."

Die Ausführlichkeit, mit der die heute 98-Jährige zu Wort kommt, lässt die grauenhafte Szene gegenwärtig werden. Das gesprochene Wort hat eine andere Authentizität als Bilddokumente, auf die der Film ebenfalls zurückgreift. Am Beispiel der baltischen Staaten, die nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Juni 1941 Hoffnung auf bessere Zeiten schöpften, verdeutlicht der Film die strategische Bedeutung von Film- und Fotodokumenten. Zu sehen ist beispielsweise, wie Wehrmachtsoldaten die Leichen politischer Gefangener präsentierten, um "das Ausmaß der sowjetischen Verbrechen" in Litauen sichtbar zu machen.

Rache an jüdischen Bolschewiken.

Geschürt werden sollte damit allerdings nicht der Hass auf die eigentlichen Täter des sowjetischen Geheimdienstes NKWD. Die Nazis nutzten die Gelegenheit, um die Sowjetunion "als jüdisches Produkt" zu denunzieren. Entfesselt wurde dabei, so zeigt die Dokumentation, eine blutrünstige Mordlust, die sich "nicht gegen sowjetische Besatzer, sondern gegen Juden" richtete, die als "Hauptschuldige an den Verbrechen der Sowjetunion ausgemacht" wurden. Bilddokumente zeigen Juden, die mit Eisenstangen zu Tode geprügelt wurden. "Die Deutschen", so die Historikerin Katja Makhontina, haben solche Ausschreitungen "fleißig fotografiert, um die Komplizenschaft festzuhalten". Dokumentiert werden sollte mit solchen Fotos und Filmen, dass die Litauer eine "lang ersehnte Rache an jüdischen Bolschewiken" nähmen.

Durch diese Kommentierung werden grauenhafte Bilder nicht, wie es in Dokumentationen häufig geschieht, als vermeintlich neutrale Belege herangezogen. Fotos und Filme werden überhaupt erst lesbar gemacht. Obwohl nicht alle Betrachtungen neu sind, erschließt die historische Dokumentation Zusammenhänge und Querverbindungen, die den Blick auf die osteuropäische Region verändern. Kirsten Esch beleuchtet die Mechanismen von Terror, Massenmord und Hungersnöten, bei denen sich Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands und der Sowjetunion unter Josef Stalin überschnitten und ergänzten. Eine vielschichtige Betrachtung.

infobox: "Osteuropa zwischen Hitler und Stalin - Das große Sterben", Dokumentation, Regie und Buch: Kirsten Esch, Kamera: Oliver Bibl, Jeremy Rothman, Produktion: Vincent Productions (Arte/NDR, 10.6.25, 20.15-21.45 Uhr, Arte-Mediathek bis 7.9.25)



Zuerst veröffentlicht 11.06.2025 11:03

Manfred Riepe

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KArte, KNDR, Dokumentation, Esch, Riepe

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