Sitzengeblieben - epd medien

24.06.2025 08:40

Ein Jahr lang durften die Filmemacherinnen Anna Lena Karn und Maryam Bonakdar die Schülerinnen und Schüler der ersten Klasse der Grundschule Gräfenau für ihre Dokumentation "Schulverlierer" begleiten. Sie fanden engagierte Lehrerinnen, aber wenig Unterstützung durch die Bildungspolitik.

ARD-Dokumentation "Schulverlierer" über Defizite im Bildungssystem

Klassenlehrerin Eva-Maria Wenz mit Schülern und Schülerinnen der Klasse 1e der Gräfenauschule

epd Eine Grundschülerin schaut in die Kamera: neugierig, fragend, abwartend. Solche Szenen in Slow-Motion schneiden die beiden Autorinnen immer wieder in ihre Dokumentation ein wie ein Fragezeichen. Die Dokumentation "Schulverlierer" von Anna Lena Karn und Maryam Bonakdar ist kein Schnellschuss, sondern die Kür des Dokumentarischen, eine Langzeitbeobachtung. Sie hat das, was im Zeitalter der multimedialen Beschleunigung fehlt, den genauen Blick auf die Verhältnisse und darauf, wie sie sich entwickeln.

Den Anlass für die SWR-Dokumentation "Schulverlierer" gab ein Interview mit Barbara Mächtle, Rektorin der Gräfenau-Grundschule in Ludwigshafen. Darin sagte sie, dass 39 von 126 Kindern der ersten Jahrgangsstufe diese wiederholen müssten. Das Interview brachte die Schule in die Schlagzeilen und gab Mächtle die Chance, das Thema Bildung und die Defizite des Bildungssystems öffentlich zu machen. Ein Jahr lang konnten die SWR-Autorinnen nun die Klasse 1e begleiten.

Man merkt, wenn die Kinder nicht im Kindergarten waren.

98 Prozent (!) der Kinder an der Gräfenau-Grundschule haben einen Migrationshintergrund - bundesweit ist es "nur" ein Drittel. Viele der 22 Kinder aus der 1e haben starken Förderbedarf. Geduldig zeigt Klassenlehrerin Eva-Maria Wenz Amalia, wie man den Stift richtig hält, und Sabri, wie er seinen Namen buchstabieren kann. "Man merkt, wenn die Kinder nicht im Kindergarten waren", sagt Wenz. Basisfähigkeiten, Sprache, Unselbstständigkeit - es häufen sich die Probleme.

Die Autorinnen initiieren über die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eine Umfrage unter 7.000 Lehrern. 87 Prozent sagen, die Erstklässler hätten mehr Defizite als vor zehn Jahren: Verhaltensauffälligkeiten, Konzentrationsschwierigkeiten, fehlende Feinmotorik. 49 Prozent fordern, Kinder, die nicht gut Deutsch sprechen, gar nicht erst einzuschulen.

Der Film zeigt die Trägheit der föderalen Bildungspolitik. 25 Jahre ist es jetzt her, dass die erste "PISA"-Studie in Deutschland den sogenannten PISA-Schock auslöste. Noch immer belegt Deutschland nur den 14. Platz unter 38 Ländern, wenn es um Ausgaben für Vor- und Grundschulen geht. Die Bundesrepublik gibt weniger als die Hälfte dessen aus, was sich das kleine Luxemburg leistet.

Unterschiedliche Begabungen

In gefühlt allen Diskussionen um Migration und Bildung wird betont, wie wichtig die Beherrschung der deutschen Sprache ist. Dass dann aber für die Gräfenau-Schule nur für sechs Wochen eine Lehramtsstudentin zur Unterstützung abgeordnet wurde, ist absurd. So muss Lehrerin Wenz wieder alleine ihre 22 Schüler in Lerngruppen separieren, weil sich rasch die Schere der unterschiedlichen Begabungen öffnet.

Die Autorinnen suchen nach dem größeren Bild, besuchen eine Kita im Einzugsbereich der Schule. Denn, so die Erziehungswissenschaftlerin Havva Engin, Bildungsbiografien werden in der Kita gemacht - oder gehen verloren. Auch dort sprechen die angehenden Schulkinder 20 verschiedene Sprachen, aber sie lernen geduldig: Vokale, Zahlen, sich auf etwas zu konzentrieren, Zuhören.

Nur im Stadtstaat Hamburg gibt es eine verbindliche Frühförderung, genannt "die Viereinhalbjährigen-Vorstellung". Die Kinder werden anderthalb Jahre vor ihrer Einschulung geprüft auf Motorik, Zahlenverständnis, Sprache. Bei Defiziten müssen sie verpflichtend in die Vorschule. Bundesweit gibt es solche Vorschulen aber nur in drei Ländern - die Autorinnen nennen das sarkastisch "Friedhof der Förderprogramme". Viele Ideen, aber nichts Nachhaltiges.

Viel Engagement, aber erdrückende Probleme.

Rektorin Mächtle machte keine guten Erfahrungen mit der Bildungsbürokratie. Bei einem runden Tisch der rheinland-pfälzischen Politik zu ihrem Thema wurde sie nicht eingeladen. Doch weil bekannt wurde, dass an ihrer Schule erneut 44 Erstklässler nicht versetzt werden sollen, sei Druck auf sie ausgeübt worden, klagt sie. Deshalb wolle sich nicht mehr als Rektorin, sondern nur als Gewerkschaftsmitglied äußern. Am Ende des ersten Schuljahrs darf auch das Filmteam nicht mehr in die Klasse, die Schule solle "zur Ruhe kommen", fordert das Bildungsministerium.

Im Frühjahr 2025 kommt die Nachricht aus der Gräfenau-Schule: wieder haben 35 Kinder das erste Schuljahr nicht geschafft. Rektorin Mächtle zieht eine bittere Bilanz. Wenn sie sich nicht äußern dürfe, wenn nach außen alles schöngeredet werde, werde das Problem nicht gelöst.

So endet diese Dokumentation so nüchtern, wie sie begonnen hat: "Viel Engagement, aber erdrückende Probleme im Bildungssystem." Das Fazit der Autorinnen ist ein "Sitzengeblieben" für die politisch und bürokratisch Verantwortlichen. Die Dokumentation illustriert ihre brisanten, aber überzeugenden Aussagen mit betont unspektakulären Szenen. Das ist klassisches, gut recherchiertes öffentlich-rechtliches Aufklärungsfernsehen.

infobox: "ARD Story: Schulverlierer - Abgehängt schon in der Grundschule?", Dokumentation, Regie und Buch: Anna Lena Karn, Maryam Bonakdar, Kamera: Ole Flashaar, Janson Groß, Boris Mahlau u. a. (ARD/SWR, 11.6.25, 22.50-23.35 Uhr und in der ARD-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 24.06.2025 10:40 Letzte Änderung: 24.06.2025 11:22

Dieter Dehler

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KSWR, Dokumentation, Karn, Bonakdar, Dehler, NEU

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