03.07.2025 11:59
Das neue ARD-Format "Klar" ist weiter in der Kritik
epd Selten hat ein neues TV-Format so viel Kritik hervorgerufen wie die von der BR-Redakteurin Julia Ruhs präsentierte ARD-Sendung "Klar" im April. Jan Böhmermann bezeichnete die Auftaktfolge "Migration: Was falsch läuft" im "ZDF Magazin Royale" indirekt als "rechtspopulistischen Quatsch". Für den Verein Neue deutsche Medienmacher:innen war die erste "Klar"-Sendung ein "Tiefpunkt in der Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks".
Eine instruktive Kritik formulierte Leonhard Rosenauer, der Rezensent der "Berliner Morgenpost": "Julia Ruhs und die Redaktion nutzen das neue Format vor allem dafür, Frust zu kanalisieren." Das ist ein zentraler Satz, weil er deutlich macht, was die von NDR und BR verantwortete Sendung von dem unterscheidet, was wir bisher als Fernsehjournalismus kannten. Diese Stoßrichtung untermauerten die Macher selbst durch den Titel der zweiten Folge: "Der Frust der Bauern".
Formal ist "Klar" ein Pilotprojekt, für das drei Folgen vorgesehen sind. Eine "Evaluation" erfolge nach Abschluss der "Pilotphase", sagte eine Sprecherin des NDR dem epd. Nach der dritten Folge, die für den 30. Juli angekündigt ist, soll eine Entscheidung darüber fallen, ob "Klar" eine Zukunft hat.
Der NDR klassifiziert die Sendung als "Reportagemagazin". Die erste Folge hat tatsächlich einen gewissen Magazincharakter. Hauptbestandteil ist eine Reportage über Michael Kyrath, dessen 17-jährige Tochter Ann-Marie zusammen mit ihrem Freund im Januar 2023 in Brokstedt in einem Regionalzug von einem psychisch kranken Asylbewerber erstochen wurde. Die Reportage wird in mehrere Abschnitte aufgeteilt. Darum herumgruppiert sind Kurzbeiträge, deren Themen, so suggerieren es jedenfalls die Macher, im Zusammenhang damit stehen, dass bei der "Migration" etwas "schiefläuft"
Die am 11. Juni gesendete zweite Folge, die kurzfristig um drei Wochen verschoben worden war, ist eher eine Presenter-Dokumentation. Wie in der ersten Folge agiert Julia Ruhs sowohl als Moderatorin als auch als Interviewerin. An beiden Folgen waren neben Ruhs fünf weitere Autorinnen und Autoren beteiligt. In der Redaktion gab es zwischen der ersten und zweiten Folge einen Wechsel. Am 26. Mai hatte der NDR dem epd mitgeteilt, die Redaktion bestehe aus den leitenden Redakteuren Thomas Berbner (NDR) und Andreas Bachmann (BR). In der zweiten Folge firmiert auf BR-Seite aber Mike Lingenfelser anstelle von Bachmann unter "Redaktion".
Als Thema der ersten Sendung gibt Moderatorin Ruhs gleich zu Beginn "illegale Migration" vor. Journalisten verwenden den mindestens irreführenden Begriff "illegale Migration" häufig, im günstigsten Fall lässt sich das vielleicht noch mit Nachlässigkeit erklären. Bei einer Sendung, an der monatelang gearbeitet wird, kommt das als Erklärung aber kaum infrage. Die Organisation Pro Asyl schrieb 2023 dazu: "Wenn von einer 'illegalen' Einreise gesprochen wird, schwingt mit, dass die Menschen dabei eine Straftat begehen würden." Die Genfer Flüchtlingskonvention besage aber, dass Flüchtlinge nicht für die unerlaubte Einreise in das Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates bestraft werden dürfen. Mit anderen Worten: Eine Einreise, die nicht bestraft wird, kann keine Straftat sein.
Die Verwendung des Begriffs "illegale Migration" an exponierter Stelle weist also von vornherein darauf hin, dass die Sendung wenig seriös ist. Das wird am Ende des Films auf eine neue Stufe gehoben, wenn Ruhs fragt: "Was ist eure Meinung über die illegale Migration?" Und das, nachdem den Zuschauern 45 Minuten lang eingebläut wurde, dass man "über die illegale Migration" nur eine "Meinung" haben kann.
Das gefällt vielleicht nicht jedem.
Einen Tag vor der ersten Sendung hatte Ruhs bei X geschrieben: "Das gefällt vielleicht nicht jedem, aber NDR und BR starten ein neues Format - für mehr Meinungsvielfalt. Wir haben in den letzten Jahren zu oft unliebsame Themen + Meinungen ausgeblendet." In der ersten Sendung wurden dann aber vor allem "Meinungen" aufgegriffen, die täglich den vergangenen Bundestagswahlkampf dominiert hatten.
Das Einrennen offener Türen als mutigen Akt zu feiern, ist allerdings nicht neu im ARD-Kosmos. Das Content-Netzwerk Funk kündigte das im Mai 2024 gestartete, vom WDR produzierte Format "Die andere Frage" so an: "Warum schiebt Deutschland so wenig ab? Brauchen wir ein Kopftuch-Verbot an Schulen? Muss ich vor Drogenabhängigen Angst haben?" Bei denen, die sich "solche Fragen" stellten, entstehe "die Sorge, (…) schnell an den Pranger der politischen Korrektheit oder in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden". Das Funk-Format, hieß es damals, stelle "Fragen, die an anderer Stelle zu kurz kommen".
"Migration: Was falsch läuft" ist eine Mischung aus Beiträgen, deren Themen für sich genommen durchaus wert sind, aufgegriffen zu werden. Hier werden sie aber auf fragwürdige Weise zu einem apokalyptischen Mosaik zusammengefügt: Ein Filmteam begleitet Polizisten, die in der Stuttgarter Innenstadt eine Waffenverbotszone kontrollieren, und liefert Bilder, die die mannigfaltigen Verstöße gegen das Verbot dokumentieren. Ein anderes "Klar"-Team ist mit Levi Salomon unterwegs und filmt, wie der Vorsitzende des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus als Beobachter bei einer pro-palästinensischen Demonstration Anfeindungen erlebt.
Das ist ein relevantes Thema, aber in jenem Teil von "Migration: Was falsch läuft" findet man eine Passage, die besonders weit von öffentlich-rechtlichen Standards entfernt ist. Im Off-Text heißt es an dieser Stelle: "Seite an Seite: Linke und Islamisten". Der Sprecher macht dann eine kunstvolle Pause, ein Transparent mit der Aufschrift "Jin Jiyan Azadi" rückt in den Mittelpunkt des Bildes. Der Slogan, der "Frau, Leben, Freiheit" bedeutet, fand nach dem Tod von Jina Mahsa Amini in Iran auf Demonstrationen weltweit Verbreitung. Schließlich setzt der Sprecher seinen Kommentar fort. Es handle sich hier um "eine aggressive Mischung". Wollen uns die Filmemacher weismachen, dass "Islamisten" gegen ein islamistisches Regime demonstrieren?
Franzosen und Belgier machen richtig Randale.
In "Der Frust der Bauern", der zweiten Ausgabe von "Klar", spielt eine Gruppierung eine wichtige Rolle, die laut einem rund zwei Wochen vor der Ausstrahlung ergangenen Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts als "rechtspopulistisch" bezeichnet werden darf: die Organisation "Land schafft Verbindung Schleswig-Holstein und Hamburg". Dieser Regionalgruppierung gehört auch der Landwirt Thomas Schneekloth an, der in der Sendung als eine der zentralen Figuren der Bauernproteste in Schleswig-Holstein vorgestellt wird. Mehrfach kommt in der Sendung zur Sprache, dass Schneekloth bei der Bundestagswahl in diesem Jahr erstmals die AfD gewählt hat.
Anfangs sieht man ihn, wie er beim Frühstück einen Nachrichtenbeitrag in verschiedenen Whatsapp-Gruppen postet. "Ich seh’ mich so'n büschen als der, der die Leute so'n büschen mit anzündet", sagt er. Über Schneekloths Erfahrungen bei Bauernprotesten gegen die Politik der Europäischen Union sagt Julia Ruhs: "In all den Jahren hat er immer wieder festgestellt: Franzosen und Belgier machen richtig Randale."
Wir dachten, wir sind jetzt hier im Bürgerkrieg.
Darauf folgen Bilder von Ausschreitungen bei Bauernprotesten in Brüssel, die während des Treffens der EU-Agrarminister am 24. März 2024 stattfanden. Zu sehen sind brennende Barrikaden. "Wir sind nach Brüssel reingekommen das erste Mal - wir dachten, wir sind jetzt hier im Bürgerkrieg. Das war ein schönes Gefühl, erst mal - um Aufmerksamkeit zu kriegen", sagt Schneekloth. Dass bei den Protesten Polizeibeamte verletzt worden seien, finde Schneekloth "nicht gut", ergänzt Ruhs. Es wurden aber nicht nur Polizisten verletzt. Das ZDF berichtete damals online, "in der Nähe des Gebäudes der Europäischen Kommission" seien "Gegenstände wie Fahrräder und Mülltonnen von einer Überführung geworfen" worden.
Wenn in einer öffentlich-rechtlichen Sendung ein Vertreter eines anderen politischen Spektrums über das "schöne Gefühl" des "Bürgerkriegs" sinniert hätte, ohne dass es journalistisch angemessen eingeordnet würde, wenn eine Autorin in diesem Zusammenhang in leicht verzücktem Tonfall über "Randale" gesprochen hätte, hätte das exzessive mediale Debatten zur Folge gehabt und verantwortliche Redakteure hätten ihren Job verloren.
In der zweiten "Klar"-Folge kommt zwar zur Sprache, dass die Bauern mit ihren Protesten "gegen die europäische Agrarpolitik einiges erreicht" hätten. "Die Pflicht, vier Prozent der Ackerfläche stillzulegen für den Artenschutz, kommt erst einmal nicht", sagt Ruhs. Dennoch vermittelt die Sendung den Eindruck, die Bauern wären die Geächteten und Geknechteten dieser Republik. Ein der Verzweiflung naher rheinland-pfälzischer Obstbauer sagt, wenn der Mindestlohn in diesem Jahr auf 15 Euro erhöht werde, drohe ihm, dass er sein "Lebenswerk" verliere. "Ganz viele Kollegen sind beim Psychologen", sagt der Obstbauer.
Als vorbildlich beschreibt "Klar" dagegen die Lage in Österreich, wo sich die Bauern wertgeschätzt fühlten von "der Politik" - zum Beispiel, weil die dortige Landwirtschaftskammer "regelmäßig direkt in die Dörfer" komme und "bei der Antragstellung für die EU-Fördertöpfe" helfe. Diese Hilfe beschreiben die "Klar"-Macher mit ermüdender Detailgenauigkeit. An dieser Stelle ist "Klar" Nischen-Fernsehen im eher schlechten Sinne.
Eine für das Selbstverständnis von "Klar" möglicherweise vielsagende Passage folgt am Ende von "Der Frust der Bauern". Ruhs reist ein letztes Mal zu Bauer Schneekloth, sie will wissen, was er dazu sagt, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz die AfD in einem Gutachten als gesichert rechtsextremistisch eingestuft hat. Das sei ein "Urteil, das man glauben kann oder nicht", lautet die Antwort. Obwohl die Beurteilung eines mehr als 1.000 Seiten starken Gutachtens keine Glaubensfrage sein sollte, fragt Ruhs: "Und - glaubst du das?" Schneekloth: "Nee, glaube ich nicht. Ich glaub’ tatsächlich, dass die Regierung damit die Opposition bloß klein halten will." Ruhs fragt weiter: "Wenn Leute jetzt sagen: Der Thomas hat rechtsextrem gewählt - was macht das mit Dir?" Da muss der Thomas herzlich lachen: "Das macht mit mir gar nichts."
Spätestens an dieser Stelle fragt man sich, was Schneekloths Bekenntnis zur AfD mit dem eigentlichen Thema der Sendung - der Unzufriedenheit der Bauern mit ihrer wirtschaftlichen Lage - zu tun hat.
Wenn die keinen großen Patzer machen, werden die Baurn ruhig bleiben.
Am Rande geht es auch darum, was die im Film befragten Bauern vom neuen Bundeslandwirtschaftsminister Alois Reiner erwarten. Ruhs sagt: "Die Union ist nicht mehr seine politische Heimat, doch auch Thomas Schneekloth möchte Alois Rainer eine Chance geben." Hier schwingt ein Unterton mit: Wenn der CSU-Minister etwas tun sollte, was die Unzufriedenheit bei Schneekloth und anderen triggert, dann gibt es wieder Randale. Schneekloth selbst sagt: "Wenn die keinen großen Patzer machen, werden die Bauern ruhig bleiben."
In einem am 21. Juni in der taz erschienenen Artikel zu "Der Frust der Bauern", der auch Kritik an der Sendung aus Landwirtkreisen aufgreift, schreibt Jost Maurin, die zweite "Klar"-Folge "hätte ähnlich unausgewogen und unkritisch gegenüber der AfD auch bei rechtspopulistischen Sendern wie Nius oder Auf1 laufen können." Was die Unausgewogenheit angeht, ist es vor allem gravierend, dass die Stimmen "von Umweltschützern oder Wissenschaftlern (fehlen), die abseits von rechts, links Missstände in der Landwirtschaft einordnen", schreibt Maurin.
Die Rolle der Landwirtschaft bei der Klimaerwärmung - laut Umweltbundesamt trug die Landwirtschaft im Jahr 2023 14,4 Prozent zu den gesamten Treibhausgasemissionen in Deutschland bei - ist bei "Klar" kein Thema. Das ist insofern bemerkenswert, als die Landwirtschaft auch die Folgen der Klimaerwärmung direkt zu spüren bekommt.
Trotz der vielfältigen Kritik an "Klar" war die Sendung in der Sitzung des NDR-Rundfunkrats am 27. Juni kein Thema. Das hat auch mit den formalen Hürden für Programmbeschwerden zu tun. Die zahlreichen Zuschriften, die es nach der ersten Ausgabe gab, werden erst einmal von der Redaktion oder der Intendanz beantwortet. Erst wenn der Petent mit der Antwort nicht zufrieden ist, wird der Rundfunkrat tätig.
Nach epd-Informationen wurde zudem in der Sitzung des Programmausschusses am 6. Mai mit dem Sender vereinbart, dass das Aufsichtsgremium die dritte Ausgabe noch abwartet, ehe es ein Urteil abgibt. Die erste Rundfunkratssitzung nach der dritten "Klar"-Folge findet am 26. September statt. Der Programmausschuss trifft sich am 16. September. Aus den veröffentlichten Ergebnissen der Sitzung vom 6. Mai geht aber hervor, dass sich die Mitglieder zumindest auf der Beratungsebene bereits mit der ersten "Klar"- Sendung befasst haben. Unter anderem bat der Ausschuss die Programmdirektion, "dem Gremium zur nächsten Sitzung einen Faktencheck wichtiger Aussagen der Sendung vorzulegen". Die Beratungsergebnisse dieser Sitzung, die am 17. Juni stattfand, waren bei Redaktionsschluss dieses Textes noch nicht veröffentlicht.
Kritisiert wurde mangelnde Ausgewogenheit.
Möglicherweise geht es in Sachen Faktencheck unter anderem um die in der ersten Folge aufgestellte Behauptung, der Asylantrag des Täters von Brokstedt sei abgelehnt worden. Ein Zuschauer schrieb dem NDR, dass dies nicht zutreffe. Auf Bluesky schreibt dieser Zuschauer dazu, dem Asylantrag sei "teilweise stattgegeben worden". Dem Mann sei der "mit dem Asylantrag beantragte subsidiäre Schutz zuerkannt" worden.
In dem Bericht zur Programmausschuss-Sitzung am 6. Mai heißt es: "Kritisiert wurde von einzelnen Ausschussmitgliedern u. a. eine mangelnde Ausgewogenheit der Sendung, eine Überfrachtung mit Einzelthemen sowie eine zu starke Emotionalisierung." Diese Beobachtung greift zu kurz, da die starke Emotionalisierung von vornherein intendiert war. "Klar" will nicht durch Argumente überzeugen, sondern Stimmungen und Gefühle verstärken oder gar entfachen.
Für die Gremienmitglieder dürfte es im September auf folgende Frage hinauslaufen: Haben wir es bei "Klar" mit politischem Boulevardfernsehen zu tun? Wäre es das, könnte man sagen: Boulevardjournalismus muss nicht argumentieren, er muss nicht überzeugen, sondern darf mit emotionalen Mitteln arbeiten. Eine andere Frage ist, ob diese Form von Fernsehjournalismus mit dem öffentlich-rechtlichen Auftrag vereinbar wäre.
Einiges spricht aber auch für die These, dass es sich bei "Klar" überhaupt nicht um Journalismus handelt - obwohl hier, so widersprüchlich das klingen mag, journalistische Mittel genutzt werden (Beoachtungen, Interviews, Reportage-Elemente). Möglicherweise halten es die "Klar"-Macher eher mit dem Bauern Thomas Schneekloth: "Wir sind, die die Leute ein bisschen anzünden."
infobox: "Klar - Migration: Was falsch läuft", Dokumentation mit Julia Ruhs, Regie und Buch: Lukas Föhr, Johannes Jolmes, Julia Ruhs, Heiko Sander, Benedikt Scheper, Caroline Schmidt (NDR/BR, 22.00-22.45 Uhr und in der ARD-Mediathek); "Klar - Der Frust der Bauern", Dokumentation mit Julia Ruhs, Regie und Buch: Claudia Drexel, Johannes Jolmes, Philip Kuntschner, Karen Münster, Julia Ruhs, Caroline Schmidt (NDR/BR, 11.6.25, 22.00-22.30 Uhr)
Copyright: Foto: privat
Darstellung: Autorenbox
Text: René Martens ist freier Journalist und Autor von epd medien
Zuerst veröffentlicht 03.07.2025 13:59 Letzte Änderung: 03.07.2025 19:10
Schlagworte: Medien, Fernsehen, ARD, NDR, BR, Klar, Martens, Ruhs, BER, NEU
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