Die Stimme des "anderen" Deutschland - epd medien

05.07.2025 06:42

In diesem Jahr wird der 150. Geburtstag des Schriftstellers Thomas Mann (1875-1955) gefeiert - und zugleich 80 Jahre Kriegsende. Dieses Kriegsende hatte Mann in seinem Exil in den USA jahrelang herbeigesehnt. Von Oktober 1940 bis Mai 1945 redete er insgesamt 59 Mal über die britische BBC seinen "deutschen Hörern" ins Gewissen und forderte sie zum Widerstand gegen das Hitler-Regime auf.

Thomas Manns Rundfunkreden an die "deutschen Hörer"

Thomas Mann bei einem Rundfunkvortrag um 1928

epd Der Schriftsteller Thomas Mann verließ Deutschland schon im Februar 1933, kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Er war von einer Lesereise, die ihn nach Amsterdam, Brüssel und Paris geführt hatte, nicht nach München zurückgekehrt. Zunächst lebte er im Exil in der Schweiz, 1938 übersiedelte er in die USA. Seine Ankunft am 21. Februar 1938 mit dem Schiff in New York war ein Politikum und eine Sensation.

Vier Jahre zuvor hatte ihm das Magazin "Time" als erstem nicht-anglophonen Autor ein Cover gewidmet. Mann galt als Verkörperung deutscher Kultur und als Gegenspieler Hitlers. Noch auf dem Schiff gab er eine erste Pressekonferenz. Dabei sagte er die Annektierung Österreichs voraus und sprach die berühmten Sätze: "Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir. Ich lebe im Kontakt mit der Welt und ich betrachte mich selbst nicht als gefallenen Menschen."

Der Deutsche Dienst der BBC

In Deutschland, wo Thomas Mann 1936 ausgebürgert worden war und seine Bücher nicht mehr verkauft werden durften, schätzten ihn und sein Werk weiterhin viele Menschen. Darauf setzten die Verantwortlichen der BBC, als sie ihm Sendezeit einräumten.

Der Deutsche Dienst der 1922 gegründeten British Broadcasting Corporation war erst 1938 auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise eingerichtet worden. Und zwar in aller Eile am 27. September. Die britische Regierung wollte sich damit eine Möglichkeit schaffen, ihre politischen Standpunkte Hörern und Hörerinnen in Deutschland zu vermitteln. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs expandierte das Programm weiter und es entstanden neue dokumentarische und kabarettistische Sendeformen, an denen auch deutsche Emigrantinnen und Emigranten mitwirkten.

Die Niederlage Frankreichs im Jahr 1940 und der Beginn der Luftschlacht um England bedeuteten eine neue Phase im europäischen Krieg. Das war der Moment, in dem Thomas Mann das Angebot der BBC akzeptierte, regelmäßig zu seinen ehemaligen Landsleuten zu sprechen. Diese Sendungen mit dem Titel "Deutsche Hörer!" dauerten durchweg sieben bis acht Minuten. Erika Mann hatte ihren Vater seit Jahren im publikumswirksamen Widerstand bestärkt, womöglich stammte die Idee für diese Reihe von ihr.

Mann sprach seine "deutschen Hörer" direkt an

Im Vorwort zur ersten Ausgabe der bis dahin gesammelten Reden, die bereits 1942 erschien, schilderte Thomas Mann die recht umständliche Prozedur, die nötig war, um seine Worte nach Deutschland gelangen zu lassen: "Die Sendungen geschahen zunächst auf dem Wege, dass ich meine Texte nach London kabelte und ein deutschsprachiger Angestellter der BBC sie dort verlas. Auf meine Anregung bediente man sich bald einer, wenn auch umständlichen, so doch direkteren und darum sympathischeren Methode. Ich spreche nun, was ich jeweils zu sagen habe, im Recording Department der NBC von Los Angeles selbst auf eine Platte, diese wird auf dem Luftwege nach New York gesandt und ihr Inhalt durch das Telefon auf eine andere Platte in London übertragen, die dann vor dem Mikrophon abläuft. Auf diese Weise hören diejenigen, die drüben zu lauschen wagen, nicht nur meine Worte, sondern auch meine eigene Stimme."

Thomas Mann sprach zum ersten Mal selbst am 18. März 1941. Leider haben sich nur wenige der Kommentare mit der Stimme von Thomas Mann erhalten. Der Literaturnobelpreisträger sprach seine "deutschen Hörer" direkt an. Er konnte davon ausgehen, dass ihm zumeist Hitler-Gegner zuhörten. Auf dem Höhepunkt der militärischen Macht des NS-Regimes, als ein großer Teil Europas von deutschen Truppen besetzt war, setzte Mann alle Hoffnung auf die Briten und die Amerikaner.

Hoch emotionalisierte Sprache und affektgeladene Polemik.

In der psychologischen Kriegsführung der Briten nahmen die Ansprachen von Thomas Mann eine zentrale Rolle ein, auch wenn die Formulierungen, die er benutzte, bei den BBC-Verantwortlichen mehr als einmal Anstoß erregten, denn sie verletzten grundlegende Prinzipien. Nur bei Thomas Mann und an keiner anderen Stelle im Programm des Deutschen Dienstes wurde offen zum Widerstand gegen Hitler, zu Sabotageakten oder gar zum gewaltsamen Umsturz aufgerufen.

Die Publizistin und Dramaturgin Sonja Valentin hat die Reden an die "deutschen Hörer" untersucht und kommt zu dem Ergebnis: "Die bisweilen hoch emotionalisierte Sprache und die affektgeladene Polemik, mit der Thomas Mann seine deutschen Hörer konfrontierte, stehen in deutlichem Kontrast zu der Rolle des besonnenen und reflektierten Intellektuellen, die Thomas Mann bei seinen öffentlichen Auftritten in den USA einnahm. Seine Wut und Verzweiflung über die politischen Ereignisse in Deutschland und seine Empörung angesichts der Passivität der deutschen Bevölkerung fanden in keinen anderen öffentlichen Äußerungen so deutlichen Ausdruck wie in seinen Radioansprachen."

BBC versuchte mäßigend auf Mann einzuwirken

Im BBC-Archiv hat Sonja Valentin Dokumente gefunden, die zeigen, auf welchen verschlungenen Wegen versucht wurde, auf Thomas Mann mäßigend einzuwirken - ohne spürbaren Erfolg. Vor offener Kritik scheuten die BBC-Verantwortlichen zurück, um ihren wichtigsten und wahrscheinlich wirkungsvollsten Mitarbeiter nicht zu verlieren. Andererseits blieb die Sorge, dass durch zu aggressive Formulierungen Hörer in Deutschland abgeschreckt werden könnten.

Die Freiheiten, die Thomas Mann bei seinen Ansprachen genoss, waren im deutschsprachigen Programm der BBC die große Ausnahme. Denn die meisten der emigrierten Deutschen wurden als Sprecher, Ansager, Übersetzer oder als Autoren eingesetzt. Die Verantwortlichen der BBC wollten den Eindruck vermeiden, beim Deutschen Dienst handele es sich um einen "Emigrantensender" von deutschen Oppositionellen. Sie fürchteten um die Glaubwürdigkeit der Programme, die in den Nachrichten der Wahrheit verpflichtet blieben, allerdings nicht in den Kommentaren.

"Abhörverbot" für ausländische Sender

Thomas Mann über die BBC zu hören, war in Deutschland gefährlich. Denn mit Kriegsbeginn galt ein generelles Abhörverbot für ausländische Sender. Obwohl die Schwarzhörer verschiedene Strategien entwickelten, um unerkannt zu bleiben, mussten sie jederzeit damit rechnen, bei der Gestapo denunziert zu werden. Gnade konnte ein "Rundfunkverbrecher", wie der NS-Terminus hieß, nicht erwarten. Zuchthausstrafen von sieben oder acht Jahren waren keine Seltenheit. Nicht wenige mussten ihren Wunsch, sich ein objektiveres Bild von der innenpolitischen oder militärischen Lage zu verschaffen, mit dem Leben bezahlen, denn auf die Verbreitung ausländischer Nachrichten konnte die Todesstrafe stehen.

Die offizielle Statistik der sogenannten Rundfunkverbrechen weist 985 Verurteilungen allein für das Jahr 1942 aus, wobei die Zahl der ohne ein Gerichtsverfahren in ein Konzentrationslager eingelieferten Häftlinge nicht bekannt ist. Auch die konspirative Flüsterpropaganda in Deutschland beschäftigte sich mit dem Abhörverbot und reimte: "Drei kleine Meckerlein, die hörten Radio. / Der eine stellte England ein, da waren's nur noch zwo." Ein anderer, ebenfalls populärer Zweizeiler hieß: "Lieber Gott, mach mich taub, / dass ich nicht am Radio schraub."

Am Radio schrauben, das hieß, aus dem Mittelwellenempfänger einen Kurzwellenempfänger zu machen, um die deutschsprachigen Sendungen der Alliierten besser hören zu können. Der Deutsche Dienst der BBC sendete deshalb regelmäßig detaillierte Bastelanleitungen, mit deren Hilfe jeder Volksempfänger zum Kurzwellen-Weltempfänger umgerüstet werden konnte. Allerdings konnten die Appelle von Thomas Mann auch über Mittelwelle gehört werden, zumindest im Westen und in der Mitte Deutschlands.

"Die Stimme eines Freundes"

Thomas Mann zu hören war gefährlich, trotzdem taten es Millionen Deutsche. Denn er sprach das aus, was viele dachten, und er berichtete über die Mordaktionen der Nationalsozialisten, die in Deutschland geheim gehalten wurden. Er redete als "Freund" zu Menschen, die Hitler verachteten, zunächst noch auf Augenhöhe. Schon in seiner ersten Sendung vom Oktober 1940 bezeichnete er sich als deutschen Schriftsteller, dessen Bücher "vom Deutschesten handeln". Er wollte also bewusst nicht als Überzeugungs-Emigrant, als unterdessen Fremder gesehen werden, sondern als Mensch, der eng mit seinem Heimatland verbunden blieb.

Dieses Band war ihm wichtig, er betonte sein Deutschtum immer wieder in seinen Reden. Um das überzeugender zu machen, war es auch nötig, dass Thomas Mann selbst sprach. Das war ab der fünften Sendung der Fall, in der er gleich zu Beginn betonte, dass seine Stimme die "Stimme eines Freundes" sei. Immer wieder appellierte er an seine "deutschen Hörer", nicht tatenlos zuzusehen, wenn nationalsozialistisches Unrecht geschehe. Er forderte sie auf, Widerstand zu leisten, um das Regime zu beseitigen. Sonst wäre ihnen die Rache der Alliierten sicher.

Dabei hielt sich Thomas Mann nicht an Vorgaben der BBC, die zwischen nationalsozialistischen und anderen Deutschen unterschied. Von Ansprache zu Ansprache nahm er immer stärker alle Deutschen in die Haftung für Krieg, Massenmord und Zerstörungen. Sie sollten sich selbst befreien. Aber seine Hoffnung auf einen Volksaufstand, der Hitler stürzen und damit das nationalsozialistische Regime beseitigen würde, erfüllte sich nicht.

Schimpfkanonaden

In Hitler sah Thomas Mann den Antichristen, den personifizierten Teufel, den er auch mit biblischen Zitaten verbal bekämpfte. Die Liste der Schmähungen, mit denen er den "Führer" und dessen Schergen belegte, seien, so der in den USA lebende deutsche Germanist Karl-Michael Lützeler, "eine bisher noch nicht erschlossene Quelle für Schimpf-Wörterbücher".

Ein Beispiel vom August 1942: "Daß es eine Berührung gibt, die alles, auch das Edelste, augenblicklich in Dreck verwandelt, das erleben wir heute: es ist der National-Sozialismus, dem diese ekle Gabe zuteil wurde. Alle Gedanken der Zeit, (...) alles Gute und Wohlgemeinte reißt er an sich, stiehlt es, verbiegt, verdreht, verdirbt und verschmutzt es, verleiht ihm widerliche Mißgestalt, einen Geruch von Ekel und Hölle - alles, was er anfaßt - und er faßt alles an -, wird unweigerlich in seinen Händen zu Kot und Unflat. Ich habe es früh gesagt und sage es wieder: Das Element der Verhunzung ist das stärkste und bezeichnendste in dieser schauderhaften Erscheinung."

Hitler war für Mann die "gottloseste aller Kreaturen" und eine "Gottesgeißel", auch eine "lichtlose Lügenseele", ein "kümmerlicher Geschichtsfälscher" mit "schadhaftem Gehirn", Goebbels "ein weit aufgesperrtes Lügenmaul" und Göring ein "fetter, putzsüchtiger Groß-, Erz- und Reichsmarschall". Die "Menagerie" um Hitler bezeichnete er als "verruchte Lumpen", "Mordgesindel", "blutige Schmierentruppe" und "räuberische Schwindel-Revolutionäre". Das waren ungewohnte Töne für den Autor der "Buddenbrooks" und des "Zauberbergs".

Hoffnungen auf die "Idee Europa"

Mann griff in seinen kurzen Reden viele Themen auf, oft aktuelle. Und nicht alles, was er sagte, dürfte selbst den Gegnern des NS-Regimes gefallen haben. So verteidigte er im April 1942 die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte, auch Lübeck, und schrieb: "Es wird mehr Lübecker geben, mehr Hamburger, Kölner und Düsseldorfer, die dagegen auch nichts einzuwenden haben und, wenn sie das Dröhnen der R. A. F. über ihren Köpfen hören, ihr guten Erfolg wünschen."

Mann hoffte damals noch, dass die Bombardierung der deutschen Städte mit Tausenden von Toten die Naziherrschaft schneller beenden würde. Denn über den britischen Geheimdienst hatte er von den Euthanasiemorden, dem "irrsinnigen Ernst mit der Ausrottung der Juden" und den Verbrechen in den eroberten osteuropäischen Staaten erfahren. Das behielt er nicht für sich, sondern gab das, was er wusste, an seine deutschen Hörerinnen und Hörer weiter. Dieser "Wahn und Rausch" werde sich am deutschen Volk bitter rächen, sagte er am 30. Oktober 1943. Wer Thomas Mann in der BBC hörte, hätte erfahren können, was mit den jüdischen Deutschen geschah, die aus Städten und Dörfern deportiert wurden.

Große Hoffnungen setzte Thomas Mann auf die "Idee Europa", die Neuordnung des Kontinents nach dem Ende des Krieges. Davon versprach er sich einen lang anhaltenden Frieden. Voraussetzung dafür war die deutsche Kapitulation. Darin sah er, als sie erfolgt war, keine Niederlage wie die meisten Deutschen, sondern eine Befreiung. Deutschland sei, sagte Thomas Mann am 10. Mai 1945, "von dem Fluch wenigstens befreit, das Land Hitlers zu heißen". Zwei Tage nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht wandte er sich mit diesen Worten an seine Landsleute: "Wie bitter ist es, wenn der Jubel der Welt der Niederlage, der tiefsten Demütigung des eigenen Landes gilt! Wie zeigt sich darin noch einmal schrecklich der Abgrund, der sich zwischen Deutschland, dem Land unserer Väter und Meister, und der gesitteten Welt aufgetan hatte!"

Von den Deutschen enttäuscht

Thomas Mann über das Radio zu hören, bedeutete für viele Deutsche, die nicht zu den Nazi-Anhängern zählten, dass es das andere Deutschland noch gab. Das war Trost und Ermutigung, und nicht zuletzt Hoffnung auf Befreiung von der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft.

Nach Deutschland zurückkehren wollte Thomas Mann nach Kriegsende nicht. Er blieb in den USA und dann in der Schweiz. Das wurde ihm von vielen, auch seinen "deutschen Hörern", übelgenommen. Sie hatten auf einen weltberühmten Dichter als Fürsprecher eines neuen Deutschlands gehofft. Aber Mann, der fast fünf Jahre ohne Erfolg eine "demokratische Revolution" gegen das Hitler-Regime gefordert hatte, war zu enttäuscht. Erst im Juli 1949, als er in Frankfurt mit dem Goethe-Preis ausgezeichnet wurde, betrat er wieder deutschen Boden.

infobox: Die insgesamt 59 Reden von Thomas Mann in der BBC sind im Verlag S. Fischer in einer Neuausgabe erschienen: "Thomas Mann: Deutsche Hörer! - Radiosendungen nach Deutschland" mit einem Vor- und Nachwort von Mely Kiyak.

Hans Sarkowicz Copyright: Bettina Mähler Darstellung: Autorenbox Text: Hans Sarkowicz war bis 2021 beim Hessischen Rundfunk verantwortlich für die Kulturwelle HR2. Er ist Mitherausgeber der im Hörbuchverlag erschienenen Hörbuchedition "Jahrhundertstimmen - Deutsche Geschichte in Originalaufnahmen"



Zuerst veröffentlicht 05.07.2025 08:42

Hans Sarkowicz

Schlagworte: Medien, Radio, Mediengeschichte, Nationalsozialismus, Mann, Sarkowicz

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