Flaschenpost aus der Vergangenheit - epd medien

09.07.2025 08:10

Anlässlich des 30. Jahrestages des Massakers von Srebrenica macht der Dokumentarfilm "Das Srebrenica Tape" von Chiara Sambuchi die Videobotschaften eines todgeweihten Vaters an seine Tochter lesbar.

Dokumentarfilm "Das Srebrenica Tape" erinnert an Bosnien-Krieg

Alisas Vater Sejfo auf dem Video, das er für sie aufgenommen hat

epd Während des Bosnienkriegs ermordeten serbische Milizen im Juli 1995 in wenigen Tagen 8.000 muslimische Männer in der Nähe von Srebrenica. In der Zeit kurz vor diesem Massaker drehte der Amateurfilmer Sejfo Smaljović in der eingekesselten Enklave von Srebrenica ein Video für seine achtjährige Tochter Alisa, die er zuvor in Sicherheit gebracht hatte. 30 Jahre später kehrt sie dorthin zurück, wo das Video des Vaters entstand. Mit ihrem Dokumentarfilm "Das Srebrenica Tape" macht die Italienerin Chiara Sambuchi diese Videobotschaft auf berührende Weise lesbar.

Es dauert eine Weile, bis man sich zurechtfindet in diesem Labyrinth aus Bildern, Gesichtern, familiären Zusammenhängen und einem Rückblick auf den Bosnienkonflikt, in dem erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ein Völkermord verübt wurde - und das quasi vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Die damals achtjährige Alisa überlebte diesen Krieg, in dem auch sie bedroht war. Sie ist nämlich das Kind einer im ehemaligen Jugoslawien recht verbreiteten "Mischehe": Ihre bosnische Mutter hatte einen Serben geheiratet, dessen Herz vor allem für Bosnien schlug. In den Augen der damals vorrückenden serbischen Milizen galt er deswegen als "Verräter".

Ein Videotagebuch

Wohlweislich versteckte der Vater die Tochter bei serbischen Verwandten, um dann in seine Heimatstadt Srebrenica zurückzukehren. Da er befürchtete, dass der Krieg eskalieren und er seine Tochter vielleicht nie wiedersehen würde, führte der ambitionierte Hobbyfilmer für sie eine Art Videotagebuch. In direkter Ansprache an die Tochter erzählt Sejfo Smaljović, wie die Menschen in der von Serben belagerten Enklave den Alltag zu meistern versuchen. Gräueltaten filmt er nicht. Er will seiner Tochter eher jene kleinen, positiven Dinge zeigen, die den Menschen Mut machen. Etwa eine Wassermühle am Bach, die elektrischen Strom erzeugt, mit dem ein kleines Video-Kino betrieben wird. "Wenn wir nicht unter Beschuss waren, wollten wir so normal wie möglich leben", erklärt der Vater seiner Tochter. Die Videobilder zeigen lachende junge Männer, die in einem Bach baden.

Allmählich erst fügen sich die Teile dieses komplexen Puzzles zu einem Gesamtbild. Alisa, inzwischen 39, lebt heute in den USA, wo sie das digitalisierte Video ihres Vaters auf dem Laptop anschaut. Die mit der Kamera begleitete Rückkehr an jene Orte, an denen ihr Vater diese Bilder seinerzeit aufnahm, steht im Zeichen einer schmerzlichen Ellipse. Erst gegen Ende beantwortet der Film die Frage, was mit dem Vater eigentlich geschehen ist. In dieser Verzögerung spiegelt sich die unvorstellbare Grausamkeit der serbischen Schlächter wider, die, um das Massaker zu vertuschen, seinerzeit die Leichen der Opfer zerstückelten und die Teile in alle Winde zerstreuten. Aus diesem Grund konnten Sejfo Smajlovićs Überreste erst 2005 identifiziert werden. Bis heute sind nicht alle exhumierten Leichenteile den Vermissten zugeordnet.

Wir dachten nicht im Traum daran, dass so etwas passiert.

Im Gespräch mit Verwandten und Freunden ihres Vaters stellt Alisa immer wieder die Frage nach dem Warum. Keiner ihrer Bekannten und Verwandten hielt diese Grausamkeiten für möglich. Als ein Grund für den ethnischen Konflikt werden oft die unterschiedlichen Religionen angegeben. Doch die waren so gut gemischt, "dass wir nicht im Traum daran dachten, dass so etwas passiert". Zu Weihnachten habe der Priester für muslimische und serbische Gäste "ein Lamm und ein Ferkel geschlachtet".

Durch diese geduldigen Erkundungen gelingt dem Film etwas Bemerkenswertes: Er verknüpft einen historischen Rückblick, der die Komplexität und Verworrenheit der Situation im ehemaligen Jugoslawien erahnbar macht, mit der Anteilnahme am Schicksal von Alisa, die diesen Film mit ihrer Präsenz wesentlich prägt. Mit der Nähe zu ihr übertreibt es der Film zuweilen aber auch. Wenn sie spärlich bekleidet im Hotelzimmer telefoniert, dann erscheinen die Bilder etwas zu privat.

Zwischendurch ist immer wieder Sejfo Smajlović zu sehen, dessen Srebrenica-Tape wie eine Flaschenpost von verlorenen Seelen anmutet. Seine Video-Streiflichter zeigen Menschen, die eigentlich beschützt werden sollten von Blauhelmtruppen. In den Schilderungen Überlebender erscheinen die seinerzeit in Bosnien stationierten niederländischen Soldaten rückblickend allerdings wie Statisten.

Matte Farben

Während Alisa die filmischen Impressionen ihres Vaters wieder und wieder anschaut, bemerkt ihre kleine Tochter jene seltsam matten Farben der Videoaufnahmen, die aus heutiger Sicht beinahe in den Augen schmerzen. Diese fahle Bildqualität erscheint wie der Zeitstempel der VHS-Video-Epoche, die mit dem Massaker an 8.000 Männern untrennbar verbunden ist. Dazwischen geschnittenes Archivmaterial zeigt den für das Massaker mitverantwortlichen serbischen General Ratko Mladić, der 2017 in Den Haag vom UN-Kriegsverbrechertribunal unter anderem wegen Völkermordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde.

Nicht ganz deutlich wird, dass die Idee zu diesem Film von dem niederländischen Journalisten Jaap Verdenius stammt, der die Srebrenica-Tapes fand, während er in den 1990er Jahren als Reporter im ehemaligen Jugoslawien arbeitete. Er war es auch, der den Mann auf den Videos identifizieren und die Bänder dessen Tochter zukommen ließ. Diesen Zusammenhang hätte die Autorin präziser beleuchten können. Davon abgesehen ist ihr ein bewegender Film gelungen, dessen Bilder lange nachwirken.

infobox: "Das Srebrenica Tape", Dokumentarfilm, Regie und Buch: Chiara Sambuchi, Kamera Paolo Pisacane, Produktion: Docdays (Arte/SWR/RBB, 1.7.25, 23.20-0.50 Uhr, ARD/SWR 9.7.25, 22.50-0.20 Uhr, Arte-Mediathek bis 27.12.25)



Zuerst veröffentlicht 09.07.2025 10:10

Manfred Riepe

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KSWR, Dokumentarfilm, Sambuchi, Srebrenica

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