12.07.2025 08:09
Medienalltag zwischen Überfluss und Verzicht
epd Ab Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts galt das Fernsehen den Soziologen als das wirkmächtigste Massenmedium. Die US-amerikanische Kommunikationswissenschaft sprach von einem "centralized system of storytelling". Die Omnipräsenz dieser Erzählweise und das bunte Themenspektrum veranlassten zu der Aussage, dass dieses Medium die Rolle der Kirche übernommen habe.
Vom "Gottesgericht der Einschaltquote" sprach der französische Soziologe Pierre Bourdieu und gab damit dem Sender-Empfänger-Ensemble eine quasi-religiöse Rahmung. Mittlerweile haben die immer größer werdenden TV-Bildschirme unzählige Konkurrenten von deutlich kleinerem Format. Weltweit, so eine Schätzung des Kommunikationsunternehmens Ericsson für das Jahr 2024, soll es bereits mehr als sieben Milliarden Smartphones geben. In einer Sendung über die "Religion der Millennials" zitierte der Deutschlandfunk im Jahr 2019 die Autorin Sophia Fritz: "Wenn Gott wie mein Handy funktionieren würde, würde ich öfter beten."
Der Begriff Religion ist zu einem Quell für Metaphern geworden, die dem Alltag einen Sinn geben sollen. Das Marketing wurde als Gottesdienst am Kunden bezeichnet, Kaufhäuser als Kathedralen gesehen. Aber im Kern sehnen sich viele nach mehr Ruhe, obwohl - oder weil - ein neues Phänomen zu beobachten ist, das als Phubbing bezeichnet wird. Es setzt sich aus "Phone" und "snubbing" zusammen und beschreibt die Unachtsamkeit gegenüber anderen, wenn Menschen ein Smartphone nutzen.
Menschen, die diese Technologien ablehnen, setzen auf Entnetzung statt auf Vernetzung, auf Enthaltsamkeit statt Erreichbarkeit. Wieder einmal wird ein Verhaltensprogramm quasi-religiös gerahmt: Man ruft zum digitalen Fasten auf.
Im Folgenden soll der Blick auf verschiedene Formen der Medienenthaltsamkeit gelenkt werden. Da wäre zunächst das Zusammenwirken von Begeisterung und Zurückhaltung. In der Innovationsforschung ist die ständige Auseinandersetzung mit neuen Erfindungen eine Selbstverständlichkeit. Zugleich stellt man gerne unter Beweis, dass das Nachdenken über den Umgang mit dem Neuen bereits eine lange Tradition hat. So schrieb der englische Poet Alexander Pope (1688-1744): "Be not the first by whom the new are tried, nor yet the last to lay the old aside." Mit anderen Worten: Es hat schon immer besonders neugierige Menschen gegeben und eben auch solche, die erst einmal abwarten, was die Entwicklung so bringen wird.
In der digitalen Welt legt sich über dieses unvermindert gültige Phänomen eine Art von Müdigkeit, die der immer tiefer greifenden Durchdringung unseres Alltags durch Bildschirmarbeit, Software-Updates, Passwort-Kontrollen und ähnliches geschuldet ist. Erreichbar ist man ständig, passieren tut immer etwas. Schon lange ist bekannt, dass die Arbeit freizeitähnlicher und die Freizeit arbeitsähnlicher geworden ist. Der Lebensstil einer digitalen Bohème erobert weitere Teile der Gesellschaft. Alle werden Teil einer vernetzten Welt.
Der Philosoph Byung-Chul Han veröffentlichte bereits im Jahr 2010 sein Buch "Müdigkeitsgesellschaft". Irgendwann also muss die "Erlebnisgesellschaft" des ausgehenden 20. Jahrhunderts einen Bruch erlebt haben.
Seit geraumer Zeit sind nun Rahmungen der neuen Bedingungen bekannt. Mit "Homo simultans" wurde beschrieben, dass so viele Dinge nach unserer Aufmerksamkeit verlangen und im Modus der Gleichzeitigkeit die einzige Rettung gesehen wird. Das wiederum brachte den Vorwurf fehlender Prioritätensetzung ein, weil es zu einer Vermischung von Aktivitäten kommt, die an bestimmten Orten nun einmal nicht primär vorgesehen sind. "Always on" meint nicht nur die dauerhafte technische Verbindung mit dem Internet, sondern die Erwartung der nächsten Unterbrechung. Wo vorübergehend einmal nichts empfangen wird, steigt rasch die Unruhe. Sich nur einer Sache zu widmen, bekommt auffällige Züge.
Das Bereitsein für Dinge, die da kommen mögen oder unweigerlich kommen müssen, ist eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Suchangebote, die eine weitere Sogwirkung entfalten können. Die Wahrscheinlichkeit einer nächsten Aktivität ist hoch. Zu diesem Dauerzustand gehört eine als fast chronisch zu bezeichnende Ambivalenz gegenüber Kommunikationstechnologien.
In den 80er Jahren prägte Hans Magnus Enzensberger den Begriff "Nullmedium" für das Fernsehen: Man schalte ein, um abzuschalten. Ungefähr zur selben Zeit formierte sich eine Medienökologie, die für das Maßvolle warb, um der Unterhaltungsmonotonie entgegenzuwirken. Symptome einer Medienabhängigkeit sollten durch Verzichts-Experimente transparent werden.
In den 1970er Jahren startete das Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin den wissenschaftlich begleiteten Versuch "Vier Wochen ohne Fernsehen". Das ZDF machte darüber eine Dokumentation mit dem gleichen Titel und sendete sie. "Sie werden staunen, was an Leerlauf dabei herauskommt", schrieb damals die "Süddeutsche Zeitung" zu der Beobachtung zweier Arbeiterfamilien bei diesem Enthaltsamkeits-Test.
Stets musste erkannt werden, dass selbst dort, wo Rezipienten auf ihre Souveränität pochten, die Abstinenz herausfordernd war. Streikerfahrungen belegen das. Man mag noch so oft über die Qualität der Tageszeitung schimpfen: Wenn der Briefkasten - auch der digitale - leer ist, wird dies zunächst einmal als Angriff auf eine liebgewonnene Gewohnheit empfunden.
Wer auf die heutige Mediennutzung schaut, beobachtet zunächst sehr viel Euphorie. Das Internet hat die Gesellschaft mobilisiert, auf Trab gebracht. Gemeinschaftliches belebt sich durch Vernetzung, wird aber zugleich strapaziert. Beteiligung ist ein zentrales Credo, das trotz wiederkehrender Enttäuschungen über die ausbleibende Resonanz in ständig neuen Versuchen erprobt wird.
Die Kommunikationswissenschaft kannte zwar die Unterscheidung aktiver und passiver Rezipienten, aber in der Welt der Massenmedien blieb die Kreativität der Anbieter bestimmend, ein Einfügen in Sender-Empfänger-Modelle mit eingebauter Asymmetrie. Mit dem Aufkommen von vielzähligen und vielfältigen Angeboten entstand die Metapher der Programmdirektoren an der Fernbedienung oder Tastatur, zugleich nahmen jedoch die Klagen darüber zu, dass zunehmend Themen und Inhalte zu sehen seien, die in einem regulierten Medienumfeld noch moralisch oder strafrechtlich verfolgt wurden. Es sind nicht die guten Seiten allein, die unseren Medienalltag bestimmen. Nicht jeder weiß in jeder Medienlage, was er wirklich tut. Nicht jeder denkt über seinen Medienalltag nach.
Es existieren viele Experten- und Laienwelten. Trotz des Vertrauens in den eigenen Algorithmus und der Vorstellung, sich von problematischen Umwelten zu distanzieren oder ihnen durch Nicht-Nutzung ihre Fremdheit zu signalisieren, durchdringt das Netz alle Lebenswelten und erobert sich täglich neue "Räume" hinzu, in denen der durchschnittliche Nutzer bislang nach seiner Fasson glücklich werden konnte. Die Offenheit mündet also in ein nicht enden wollendes Wechselspiel von Selbst- und Fremdkontrolle.
Für eine Gesellschaft, die ihr Wesen im Digitalen sieht, ändert sich der Hintergrund der Frage "Was geht mich das eigentlich an?" täglich. Seit den Anfängen des Internets hat die Frage des Zugangs zu diesem Medium eine wichtige Rolle gespielt. Früh war bereits von einem "Digital Divide" die Rede, dessen Beschreibung und Ausprägung im Laufe der Ausbreitung des Internets immer feiner und facettenreicher wurde. Stets stand der Gedanke Pate, dass die Spaltung mit persönlichen und gesellschaftlichen Nachteilen für die "Offliner" einhergeht.
Mit jedem Innovationsschub veränderte sich auch die Vorstellung von Mediengenerationen. Erst waren es die Enkel, die gegenüber ihren Großeltern eine Veränderung wahrnahmen, dann die Kinder gegenüber ihren Eltern, nun sind es die älteren Kinder gegenüber den jüngeren Kindern.
Das Portfolio der Medienpräferenzen ist gut geeignet, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einer Gesellschaft zu veranschaulichen. Jede Mediengeneration durchlebt offenbar eine Phase der Beschleunigung, der Konstanz und der Entschleunigung. Den Tribut an eine "Zuvielisation" zahlt jeder - mal früher, mal später. Plötzlich greift man wieder häufiger zum Buch und zur Zeitung und blickt entspannt auf eine Phase des erhöhten Medientempos zurück.
Was allgemein als Zugang zu Informationen umschrieben wird, entpuppt sich als ein den Alltag vieler Menschen erfassendes Basisprogramm. Mit anderen Worten: Wer sein tägliches Pflichtenheft durchgeht, stößt ständig auf Selbstverständlichkeiten, die gar nicht so selbstverständlich sind. Wer zum Beispiel von Sozialisation spricht, denkt an einen Kompass für das Leben. Wer von einem "Führerschein" für das digitale Zeitalter spricht, meint in der Regel nicht nur technisches Können. Bereits für den Kindergarten und frühschulische Phasen wird ein solches Paket geschnürt.
Die Europäische Union und die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) denken im Rahmen ihres digitalen Entwicklungsplans (21st century skills/European Education Area) weit in die Zukunft und früh in das Leben hinein. Immer mehr Ebenen werden ausgemacht und Fähigkeiten sortiert, so dass kein Mangel an neuen Skills zu herrschen scheint. Electronic Literacy, Digital Literacy, Künstliche Intelligenz, im Besonderen die Funktionsweise von Algorithmen, befördern ein Nachdenken über Medienlogik. Stets stellt sich in einem solchen Umfeld das Gefühl ein, in der Gestrigkeit verhaftet zu sein.
Alles entwickelt sich ständig weiter. Noch ist in dieser digitalen Sattelzeit die Wahrscheinlichkeit gegeben, auch außerhalb des Internets noch Angebote zu finden, die man sucht. Wer tägliche Besorgungen macht, erlebt diese Parallelwelten bereits am Point of Sale. Die einen kaufen klassisch und greifen zum Portemonnaie, die anderen üben sich an der Selbstscannerkasse oder zahlen mit einer smarten Uhr.
Wer die Dienstleistung einer öffentlichen Verwaltung benötigt, kann sich im Falle einer fortschrittlichen Bürokratie viele Wege sparen, aber das Warten ist auch dort nicht aus der Welt. Viel Zeit kann damit verbracht werden, einer Maschine zu beweisen, dass man ein Mensch ist. Wer eine Reise plant und Angebote miteinander vergleichen möchte, kann sich nach wie vor den kompetenten Rat eines Reisebüros einholen oder sich im Umgang mit Vergleichsportalen trainieren. Das selbstbestimmende Element steigert die Neugier, das Bedürfnis nach noch mehr "Fenster"-Betrachtungen. Erst läuft es, dann stockt es vielleicht - das Ende ist jedenfalls schwer zu finden. Die digitale Umzingelung nimmt zu.
Die digitalen Assistenten reichen so weit in unseren Alltag hinein, dass die meisten mittlerweile verärgert reagieren, wenn diese Angebote einmal nicht zur Verfügung stehen. Auch wenn die Mehrheit der Gesellschaft immer nur einen Bruchteil all dieser Dinge wirklich in Anspruch nimmt, erleben alle den vorübergehenden Wegfall solcher Dienste als den Verlust von Selbstverständlichkeiten.
Egal, wie tief man eintaucht: Die Gelegenheitsstrukturen sind der Maßstab, nicht das Alles-Beherrschen-Wollen. In der Erzählung "The Silence" beschreibt Don DeLillo, wie verstörend es ist, wenn der Zugang zu diesen Angeboten radikal unterbrochen wird und damit auch ein Geflecht sozialer Beziehungen ausfällt, von denen man meinte, dass sie von Offenheit leben. Der Ausfall der Systeme führt in ein technologisches Koma.
Zugleich empfehlen Krankenkassen und Gesundheitsexperten "Digital Detox" (digitale Entgiftung), um die unerwünschten Folgen einer zunehmend zur Gewohnheit gewordenen technischen Verbundenheit mit der Welt da draußen zu bekämpfen. Die Vorstufe dieser Enthaltsamkeit, also ein selbst verordneter Verzicht auf den dauernden Zugang, ist heute ebenso talkshowtauglich wie vor vielen Jahren der Fernsehverzicht.
Alle klösterlichen Elemente der heutigen Mediennutzung lassen sich als Varianten einer profanen Beichte lesen, an die sich säkularisierte Formen von Bekenntnisritualen angeschlossen haben. Man könnte auch sagen: Die Gesellschaft wird nicht müde zu betonen, wie reich sie an Dingen ist, die ihr entbehrlich erscheinen. Ob sie so zur Ruhe kommt?
Copyright: Foto: Universität Trier
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Text: Michael Jäckel ist Soziologe. Von 2011 bis 2023 war er Präsident der Universität Trier. Jäckels jüngstes Buch "Konsum - Eine Abrechnung" erschien im März im Springer Verlag.
Zuerst veröffentlicht 12.07.2025 10:09
Schlagworte: Medien, Internet, Fernsehen, Digitalisierung, Jäckel
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