18.07.2025 07:32
"Das letzte Königreich. Reisebericht einer Maschine" bei Arte
epd In der Zukunft muss mit der Geschichtsschreibung doch allerhand durcheinandergeraten sein. Warum sonst sollte ein Androide eine Zeitreise zurück ins Jahr 2022/23 machen, um ausgerechnet im winterlichen Lützerath nach einem König zu suchen. Dessen Stimme, glauben die Maschinenmenschen der Zukunft ganz sicher zu wissen, sei das Schönste, was die Menschheit je gehört habe und den Androiden könne die Stimme des Königs existenzielle Informationen über ihre "Er-Schaffer-Innen" (die Menschen) liefern.
Der Androide (das Kunstwort ist abgeleitet vom altgriechischen "Mann") ist der Stimme nach wohl eher eine Gynoide, sofern Maschinen Geschlechter haben (Sprecherin: Birte Schnöink). Wir sehen sie nicht, denn die Welt wird in dieser Fantasie-Geschichte, die vor dem realen Hintergrund der Garzweiler-Proteste spielt und dokumentarisch daherkommt, durch ihre Augen gesehen.
Ihre Stimme erklärt, wie sie interpretiert, was sie sieht. Skurril natürlich, da ihre Sicht auf falschen Vorannahmen, nämlich der Königslegende der Zukunft-Roboter über die Vergangenheit, basiert. Zu sehen ist von ihr selbst nur das, was sie selbst von sich sieht: Beine, Füße, Hände, Arme - wie es sich für eine Android/Gynoid gehört, hat sie offenbar Menschengestalt und ist unauffällig und praktisch gekleidet.
Mit den Menschen, zu denen sie sich hingezogen fühlt, darf sich unsere Maschinenfrau nicht unterhalten (und kann es auch nicht, wie sich herausstellt, als sie es schließlich doch versucht, da sie keine Stimme hat). Sprechen kann sie aber mit Maschinen, besonders die sich ausgebeutet fühlenden Bagger und andere Baumaschinen zeigen sich gesprächig (was sie sagen, ist nicht zu hören, sondern als Text zu sehen) und weisen ihr den Weg nach Garzweiler. Dort wiederum ist "258" tätig, ein gigantischer und nicht besonders freundlicher Schaufelradbagger.
Das riesige Erdloch, das der Braunkohleabbau geschaffen hat, hält sie für die Arena des Königs, in der er auftreten wird, damit ihm von seinem Volk gehuldigt werden kann. Die im nebligen Winter gegen den weiteren Ausbau des Abbaus Protestierenden hält sie für "Baummenschen", die in "Nestern" wohnen, und die Polizisten für Menschen in Schutzanzügen, die sich womöglich auf einer Expedition befänden.
Schließlich kommt sie beim letzten verbliebenen Bauern unter, der bis zur letzten Minute gegen die Erweiterungspläne vor Gericht gezogen ist. Vergeblich. Auch sein Hof wird abgerissen. Unsere fühlende Gynoide, die letztlich lieber in unserer Zeit geblieben wäre und sich beim Bauern versteckt hielt, wird vom sich schließenden Zeitportal in Berlin (genannt "die Stadt") eingesogen.
Hat man Lust, sich auf etwas so "Abgedrehtes" wie diesen Fantasy-Dokumentar-Essay einzulassen, kann man Filmemacher Tobias Nölle auf seiner Fantasiereise sehr gut folgen. Weil der Maschinenmensch uns Menschen mag, weil er einen eigenen Willen hat, weil er wie wir Menschen Gefühle zeigt, weil er bei uns in unserer Zeit bleiben möchte … mag man ihn irgendwann gern.
Man kann sich diesem filmischen "Trip" einfach nur hingeben und die Bilder auf sich wirken lassen: Die Aufnahmen vom kalten Deutschland im nebligen Winter, die Bilder von der Auseinandersetzung zwischen Umweltschützern und der Polizei sind eindrücklich und stimmungsvoll, meist ohne dabei "schön" zu sein. "Schöne" gibt es aber auch. Der Film hat eine ganz eigene Ästhetik.
Man kann natürlich auch darüber nachdenken, was einem der Autor mit seiner Geschichte wohl hat sagen wollen. Sofern Nölle überhaupt irgendwem etwas hat sagen wollen, als er 2022, nach eigenen Aussagen, einfach loszog und in Garzweiler gegen die Depression andrehte. Ein geplantes Filmprojekt war gerade geplatzt, weil jemand anderes mit derselben Idee schneller war. Die Corona-Lähmung lag noch über dem Land.
Kaum zu vermeiden, wenn man mit auf Nölles Trip geht, ist die Erkenntnis, dass jeder von uns immer und erschreckend unreflektiert durch die Brille seiner Vorannahmen guckt - und wir daher alle die Welt womöglich grotesk falsch oder doch zumindest anders sehen als andere. Wer teilt unsere Vorannahmen und wer nicht? Es braucht gar nicht viele dieser falschen Annahmen, um zu völlig absurden Schlussfolgerungen zu gelangen. Keine neue Erkenntnis, aber eine, die man sich unbedingt immer wieder vor Augen rufen sollte - gerade dann, wenn man sich nicht verstanden fühlt oder etwas einfach nicht versteht.
Garzweiler, beispielsweise. Geradezu sichtbares Symbol anachronistisch-brutaler Ausbeutung der Ressourcen der Erde. Eher ein Relikt einer frühkapitalistisch-noch-feudalen Vergangenheit als etwas, das für irgendeine Form von Zukunft stünde.
infobox: "Das letzte Königreich. Reisebericht einer Maschine", Film von Tobias Nölle, Kamera: Tobias Nölle, Produktion: hugofilm features und Flare Film (Arte/SRF/SRG SSR/RBB, 15.7.25, 0.25-1.55 Uhr, seit dem 14.7. in der Arte-Mediathek)
Zuerst veröffentlicht 18.07.2025 09:32 Letzte Änderung: 18.07.2025 11:47
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik.(Fernsehen), KArte, Nölle, ema, kai, Kaiser, NEU
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