Hommage an die Britishness - epd medien

29.07.2025 09:15

In der Dokumentation "Seaside Special" porträtiert Jens Meurer die kleine englische Küsten-Stadt Cromer nordöstlich von London. Der Film wurde in den Sommermonaten vor dem Austritt Englands aus der Europäischen Union gedreht und zeigt, wie der "Brexit" die Menschen in Cromer trennt.

Dokumentarfilm "Seaside Special" in der ARD-Mediathek

"Carnival Day" in Cromer

epd Cromer an der Nordseeküste von North Norfolk erfüllt Klischees, die wir Deutschen mit britischen Seebädern verbinden. Außerhalb der Saison ein beschauliches Küstenstädtchen, ist hier im Sommer das Leben auf die Touristen ausgerichtet. Auf britische Sommerfrischler, genauer gesagt, die sich freilich anständig benehmen und nicht wie auf den bekannten satirisch-gesellschaftskritischen Bildern des Fotografen Martin Parr. In Cromer gibt es eine Kirche, deren trutziger Turm an die Normannen erinnert, weiter nördlich sorgt sich der National Trust um das Naturschutzgebiet. Im Landesinneren wacht "English Heritage" über jahrhundertealte Herrenhäuser. Cromer wirkt ein bisschen provinziell, familiär. Man findet hier keine Künstlerkolonie wie in St. Ives in Cornwall, keinen blinkenden Amüsement-Überdruss wie in Blackpool und nicht den verblichenen geschichtlichen Charme wie in Brighton mit seinem Royal Pavilion.

Bemerkenswert ist der unter Denkmalschutz stehende viktorianische Pier mit seiner Eisenkonstruktion, entworfen von JJ Webster, gebaut von Alfred Thorne, eröffnet 1901. An seinem Ende, weit über dem Meer, steht das Pavilion Theatre. Es gehört der Gemeindeverwaltung und hat 450 Plätze. Drei Monate lang, sechs Tage die Woche findet im Sommer zweimal täglich eine "Sensational Variety"-Show statt. Stand up-Comedy, Stimmenimitation, Musicalgesang, professionelle Tänzer und Kinder, die in der Tanzschule vor Ort trainiert werden, treten hier auf. Den Vergleich mit großen Westend-Produktionen scheut man nicht, die Anhänglichkeit des Publikums sucht ihresgleichen.

Bei aller Professionalität und Begabung der hier auftretenden Künstler, der Regie, des Bühnenmanagements und der Vermarktung hat die Show etwas warmherzig Handgestricktes. Etwas Besonderes, Begeisterndes, das im Dokumentarfilm "Seaside Special: Ein Liebesbrief aus Europa" auch als von uns Deutschen bewunderte "Britishness" identifiziert wird. Als Standhaftigkeit, vielleicht als viktorianisches Erbe. Als "Keep Calm and Carry On" sowie als Fähigkeit, jeder noch so schlimmen Situation einen humorigen Dreh zu geben.

Verhärtete Fronten

Wie Paul, der Stand up-Entertainer, oder Harvey, der Sänger, die wie die anderen trotz großer Begabung von Saison zu Saison, von Engagement zu Engagement leben. Oder wie draußen auf dem Meer John Lee, Taschenkrebsfischer seit 54 Jahren, der vom Niedergang der Fischerei erzählt, seit Großbritannien in den Siebzigern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beigetreten sei. John Lee ist ein entschiedener Brexit-Befürworter, obwohl sein Vater französische Wurzeln hat. Anders als die Tanzschulbesitzer vor Ort, die sich als Europäer sehen und Spanien lieben.

Der Gemeinderatsvertreter berichtet, dass die Fronten verhärtet seien in Cromer, dass die Leute die andere Seite nicht mehr hören wollen, was schlimm sei. Der Manager des Fish-and-Chips-Restaurants, aus Leicester wie seine Eltern, aber mit Vorfahren in der Karibik, fürchtet das Ende der Freizügigkeit. Ihn besorgen nationalistische Tendenzen. Im Theater eröffnet die Saison mit einem glitzernden Medley aus dem "Zauberer von Oz".

Ein besonderer Ort

Der sehenswert gefilmte und geschnittene Erzählbilderbogen "Seaside Special" beginnt am 29. März 2019 und endet, nachdem im September 2019 der letzte Vorhang der Sommershow gefallen ist. Theresa May ist da nicht mehr Premierministerin, sondern Boris Johnson. Nachdem der Brexit, für den 2016 in North Norfolk zwei Drittel gestimmt hatten, Ende März 2019 zum zweiten Mal im Parlament gescheitert war, weil man sich nicht über den Weg einigen konnte, können die Menschen in Cromer im Sommer absurderweise noch einmal an einer Europawahl teilnehmen. Noch sind sie ja Europäer. Als der letzte Vorhang fällt, verabschieden sich nicht nur die Künstler aus Cromer, sondern Großbritannien aus Europa.

Abgesehen von einem Moderator im blauen Dinnerjackett, der als Film-Cicerone mal hier, mal da in Cromer auftaucht und dessen einordnende Kommentare recht überflüssig wirken, ist "Seaside Special" überaus gelungen. Ein wenig augenzwinkernd, ein bisschen sehnsüchtig erzählt der Film vom besonderen Ort Cromer und der einmaligen Show im vorerst letzten Jahr, in dem die Briten offiziell Europäer waren.

Verlust von Gemeinsamkeit

Die Politik spielt hinein durch das Norfolk-News-Radio der BBC und durch die Schlagzeilen im Zeitungsgeschäft. Interviews mit den Künstlern, mit Menschen aus Cromer, Alteingesessenen und Zugezogenen, Jungen wie Alten, ergänzen sich zum Abschiedsporträt. "Gemeinsam war besser", das steht für diesen Film fest. Schließlich ist man am Ende des Piers, im Theater, auf dem Seeweg näher an Amsterdam als auf dem Landweg an London. Einige Inserts erzählen, wie es 2020 weitergegangen ist. Das Theater stand leer, niemand wurde engagiert, denn es kam die Pandemie. Und der Brexit wurde Wirklichkeit.

Wer erzählenden Dokumentarfilm mag, wird auch "Seaside Special" mögen. Essayistische Betrachtungen verbinden sich mit Alltagsbetrachtung, einer gehörigen Portion Witz und viel Zugehörigkeitsgefühl. Trotzdem ist der Film kein nostalgisches "Feelgood-Movie", er hat einen klaren Blick auf den Verlust von Gemeinsamkeit.

infobox: "Seaside Special: Ein Liebesbrief aus Europa", Dokumentation, Regie und Buch: Jens Meurer, Kamera: Torsten Lippstock, Bernd Fischer, Produktion: Instant Film, Umedia (WDR, 23.7.25, 23.45-01.15 Uhr, ARD-Mediathek bis 23.10. 25)



Zuerst veröffentlicht 29.07.2025 11:15

Heike Hupertz

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KWDR, Dokumentation, Meurer, Hupertz

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