30.07.2025 09:09
Reportage "JGA extrem" in der ARD-Mediathek
epd Harmlose Polterabende waren mal. Angesagt ist heute der JGA, also der Junggesellenabschied oder Junggeselleinnenabschied, der sich inzwischen offenbar zu einem höchst lukrativen Geschäftsfeld entwickelt hat: je extremer, desto besser. Der Journalist Frederik Fleig führt in seiner halbstündigen Reportage in eine Welt, die ziemlich verstörend ist. Kurz gesagt geht es darum, möglichst umfänglich die Sau rauszulassen und alle Regeln menschlichen Anstands hinter sich zu lassen, also das Niveau maximal tieferzulegen.
Warum ausgerechnet der Ort Willingen im Sauerland ein Hotspot der JGA-Extrem-Szene ist, erfährt man in dieser Reportage leider nicht. Doch die Szenen, die Fleig dort drehte, zeigen, dass Willingen für die Feierwütigen eine Art vorehelicher Ballermann zu sein scheint, nur schneller und billiger erreichbar. Sigi, der rüstige 83-jährige Betreiber einer Hütte, in der die Feiernden schon mal ordentlich vorglühen, sieht es gelassen und mit der Abgeklärtheit des Alters: "Die Leute brauchen auch mal ein bisschen Ventil."
Außerdem sorgt - ähnlich wie auf Mallorca - die Klientel für Umsatz im Ort. Einige profitieren vom Party-Tourismus, aber viele sind auch genervt von Lärm, Müll und dem permanenten Kontrollverlust.
Nach dem Vorglühen bei Sigi geht es weiter in die eigentliche Party-Location, wo die Massen nach dem Büffet Party zu Mitgröl-Hits wie "Wackelkontakt" machen. Nach einem Einlassstopp wegen Überfüllung werden die ersten Sturzbesoffenen rausgebracht, das sind jene, so erklärt es der Reporter, die später im Dorf "Ärger machen".
Worum geht es den JGA-Fans? Eine Erklärung, die immer wieder genannt wird, ist die, den "letzten Tag in Freiheit" so wild wie möglich zu zelebrieren, indem man eben "die Sau rauslässt". Man wüsste gern, warum die Leute überhaupt heiraten, wenn die Ehe für sie offenbar so etwas wie eine langjährige Haftstrafe ist. Und warum Feiern automatisch mit Saufen bis zum Umfallen assoziiert wird. Aber das fragt Fleig leider nicht.
Wem die wenigen roten Linien, die in Willingen gezogen werden, immer noch zu restriktiv sind, der kann sich auch an die JGA-Agentur Pissup wenden, die europaweit All-inclusive-Pakete für JGA-Partys anbietet. Prag ist ein besonders beliebtes Ziel. Dorthin verschlägt es auch Fleig, der von Pissup-Mitarbeitern und von Feiernden erfährt, was alles möglich ist. Harmlose Optionen wie ein "Cocktail-Workshop" sind wohl weniger nachgefragt als die eindeutigen Grenzüberschreitungen, sprich: Dinge, die man sich zu Hause wohl nicht erlauben würde - und die teilweise auch nicht erlaubt wären: zum Beispiel, mit einem alten Russenpanzer durchs Gelände zu kacheln (eine Männergruppe aus Lüneburg findet das "geil") oder mit einer echten AK 47 in der Gegend herumzuballern ("sehr geil"). Man kann sich aber auch von einem Kampfhund jagen lassen oder von einer professionellen MMA-Fighterin im Ring verprügeln lassen, Puffbesuche oder Live-Sex auf der Bühne sehen, eine "XXL-Stripperin" buchen - oder auch Kleinwüchsige.
Plötzlich stößt der Reporter an Grenzen: Eine Gruppe deutscher Polizisten, die "fettiges Essen und eine XXL-Stripperin" gebucht hat, will keine Kamera dabeihaben. Bei der Suche nach einer anderen Gruppe, die er begleiten kann, erlebt der Reporter "eine ziemlich weirde Situation": "Eines der 'Highlights', nämlich eine kleinwüchsige Person, die mit Handschellen an den Junggesellen gekettet wird", sei soeben abgeblasen worden: Es gab eine Ansage "von oben", das dürfe das Filmteam auf keinen Fall sehen.
Verhindern kann die Chefetage allerdings nicht, dass einer, der an so einem "Event" teilgenommen hat, darüber berichtet: "Was gibt es denn Witzigeres als einen kleinwüchsigen Menschen, der sich freiwillig dazu bereit erklärt, sich an einen Menschen ketten zu lassen und dumme Scheiße zu machen, haben wir uns gedacht. Aber der war halt leider sehr traurig." Er habe auch kein Englisch gesprochen und Sicherheitspersonal dabeigehabt, weil es wohl häufiger vorkäme, dass er durch die Gegend geworfen werde.
Wer wild entschlossen ist, die Sau rauszulassen, hat wenig Neigung, über so spaßbremsende Angelegenheiten wie Menschenwürde nachzudenken. Der Reporter jedenfalls macht keinen Hehl daraus, was er von solchen bizarren Grenzüberschreitungen hält.
Gerne wüsste man, wer hinter Firmen wie Pissup steckt, wie der Jahresgewinn nach Steuern ausfällt und unter welchen Bedingungen Frauen strippen oder die "sexy Anhalterin" spielen. Auf viele Fragen, die sich beim Anschauen dieser Reportage stellen, bekommt man keine Antwort. Etwa die Frage, wie die, die da auf dem Panzer durch die Gegend toben, der Wehrpflicht im Ernstfall gegenüberstünden. Wie man gestrickt sein muss, dass man es als den Gipfel der Freiheit betrachtet, irgendwo besoffen über dem Zaun zu hängen. Und man wird das komische Gefühl nicht los, dass es inzwischen erschreckend viele sind, die unter "Freiheit" verstehen, möglichst alle Hemmungen über Bord zu werfen.
Danke, MDR, für die zeitliche Begrenzung dieser Reportage auf 30 Minuten: Länger hätte man das nicht ertragen.
infobox: "Y-Kollektiv: JGA extrem - Eskalation ohne Grenzen", Reportage, Regie und Buch: Frederik Fleig, Kamera: Jonny Müller-Goldenstedt, Produktion: Looks (MDR, 23.7.25, 21.15-21.45 Uhr und in der ARD-Mediathek)
Zuerst veröffentlicht 30.07.2025 11:09
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KMDR, Reportage, Fleig, Steglich, NEU
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