"Zeit zu handeln" - epd medien

09.08.2025 08:15

Am 9. Juni 1950 schlossen sich die damals existierenden sechs Rundfunkanstalten in Deutschland in Bremen zur "Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschlands" zusammen. Aus Anlass des 75-jährigen Bestehens der ARD lud Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) am 24. Juni zu einem Senatsempfang ein, bei dem Maria Exner, Intendantin des Medienhauses Publix, die ARD aufforderte, sich stärker auf dezentralen sozialen Plattformen wie Mastodon zu engagieren und so dazu beizutragen, eine "gemeinwohlorientierte Medieninfrastruktur für das 21. Jahrhundert" aufzubauen. Wir dokumentieren Exners Vortrag im Wortlaut.

"Publix-"-Intendantin Maria Exner zu 75 Jahre ARD

Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte, Radio-Bremen-Intendantin Yvette Gerner und der ARD-Vorsitzende Florian Hager (von links) beim Empfang zu 75 Jahre ARD in Bremen

Es ist mir eine besondere Freude und Ehre zum 75. Geburtstag der ARD einige Gedanken formulieren zu dürfen. Als Mitglied des Zukunftsrats und Intendantin eines Hauses für die Zukunft gemeinwohlorientierter Medien habe ich mich in den vergangenen Jahren intensiv mit der Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen befasst. Doch dieser Geburtstag wird nicht unbeschwert gefeiert - und das nicht ohne Grund. Die Entscheidung der ARD, auf jeglichen Pomp zu verzichten, spiegelt etwas wider, das Sie und ich gleichermaßen empfinden: eine tiefe Verunsicherung.

Ob in Redaktionen oder medienpolitischen Gremien - wir alle spüren, wie sehr das Fundament unserer öffentlichen Kommunikation ins Wanken geraten ist. Mit einem dicken Kloß im Hals lässt sich schlecht unbeschwert "Happy Birthday" singen.

Was also ist es, das uns so umtreibt?

Da will keine richtige Feierstimmung aufkommen.

Ich weiß, die Führung der ARD muss viele Baustellen gleichzeitig bearbeiten: den Reformstaatsvertrag, das darin verankerte "Federführungsprinzip" und die gemeinsame technische Plattform, die verhinderte Erhöhung des Beitrags und die Verfassungsbeschwerde, der politische Druck zu sparen - obwohl für Fernsehen, Radio und Internet produziert werden muss. Dazu die Kritik am Programm: zu alt, zu jung, zu seicht, zu seriös, zu provokant, zu links, zu rechts. Kein Urteil bleibt aus.

Da will keine richtige Feierstimmung aufkommen, das ist klar.

Doch der Grund für unsere Verunsicherung, fürchte ich, liegt tiefer.

Die Strategie-Diskussion ist im Gang.

Die von der Europäischen Kommission als solche definierten Very Large Online Platforms (VLOPS) - also Facebook, Instagram, Youtube, Google, X, Tiktok, Snapchat bündeln die Aufmerksamkeit von Milliarden Menschen. Wer in Deutschland Menschen erreichen will - so wie es naturgemäß bei einem Inhalte-Anbieter wie der ARD der Fall ist - muss aktuell also auch auf den VLOPS präsent sein. Mit Funk konnte ein ganzer Jugendsender erfolgreich bei Youtube etabliert werden. Die Strategie-Diskussion, ob künftig noch deutlich mehr Ressourcen in die Produktion von Inhalten für Social-Media-Plattformen investiert werden sollten, um Zielgruppen zu erreichen, die mit dem linearen Programm nicht mehr erreichbar sind, ist in allen Rundfunkhäusern in vollem Gang.

Ich bin überzeugt: Wenn die ARD ihrem Gründungsmoment vor 75 Jahren entsprechend die Zukunft gestalten will, darf das Engagement auf Social Media nur ein Provisorium sein.

Der Philosoph Byung-Chul Han veröffentlichte 2021 das Buch "Infokratie". Seine These: Alle Macht geht heute von der Information aus, der Mensch wird in Daten zerlegt und damit gläsern. Han schreibt: "Die digitale Informationstechnik lässt die Kommunikation in Überwachung umschlagen. Je mehr wir Daten generieren, je intensiver wir kommunizieren, desto effizienter wird die Überwachung." Das Paradoxe sei, so Han weiter: "Im Informationsregime fühlen die Menschen sich nicht überwacht, sondern frei."

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk gerät in den Sog der Überwachungstechnologien.

Han ist nicht der Einzige, der den Kern der aktuell am weitesten verbreiteten Technologien und Plattformen so beschreibt. Auch Shoshana Zuboff ("Überwachungskapitalismus") und Meredith Whittaker mahnen: Die Produkte der Tech-Giganten sind Überwachungsinstrumente.

Was heißt das nun für die ARD?

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurde vor 75 Jahren gegründet, um Menschen unabhängig von den Herrschenden mit Information, Bildung und Unterhaltung zu versorgen. Heute gerät er zunehmend in den Sog der Überwachungstechnologien und Herrschaftslogiken des 21. Jahrhunderts.

Je mehr Programmanteile auf Plattformen ausgespielt werden, auf denen Inhalte, Werbung und Überwachung verschmelzen, desto mehr gefährdet die ARD ihren Status als unabhängige Instanz. Dass dies keine Übertreibung ist, zeigen die täglichen Nachrichten: In den USA fällt die Kontrolle über die neuen digitalen Massenmedien und die Kontrolle über den Staat zusammen, vereint in den Händen von Donald Trump, J.D. Vance, Elon Musk, Mark Zuckerberg.

Wir alle kommunzieren auf den Kanälen der Autoritären.

Vor wenigen Wochen begegnete ich der US-Dokumentarfilmerin Laura Nix aus Los Angeles - ausgezeichnet mit dem RIAS Media Award für ihren Film "Demokratie unter Beschuss". Ich fragte sie, ob sich in den USA Widerstand gegen die Trump-Regierung formiere. Ihre Antwort: "Natürlich! Wir organisieren uns - aber nicht mehr auf Social Media."

Schon 1971 sang Gil Scott-Heron im Kontext der US-Bürgerrechtsbewegung: The Revolution will not be televised.

Wir alle kommunizieren auf den Kanälen der Autoritären, der Überwacher. Und wer könnte jetzt noch die Augen davor verschließen, dass die sogenannte Neue Rechte in Deutschland und Europa in nie da gewesener Form von den Netzmechanismen profitieren.

Der digitale Raum ist übernational.

Curd Knüpfer, Forscher am Weizenbaum-Institut für die digital vernetzte Gesellschaft, präsentierte Anfang des Jahres im Publix-Haus einen Ausschnitt seiner Forschung. Er und sein Team können empirisch belegen, wie rechte Blogger, Influencer, Einzelpersonen und der Parteiapparat der AfD über unzählige Accounts ständig neue Narrative und Memes zirkulieren. Was auf Social Media erfolgreich getestet wird, findet bei entsprechender Resonanz Eingang in die offizielle Kommunikation der Partei.

Ein kommunikatives Vorfeld, dem demokratische Parteien mit ihren Instrumenten kaum das Wasser reichen können. "Rechts ist klar im Vorteil", so Knüpfer.

Nun wurden die Landesrundfunkanstalten und die ARD in einer klaren Abkehr zu dem gegründet, was das "Dritte Reich" als Propagandamechanismus benutzt hat. Sie markierten den Bruch mit den vollständig vom Nazi-Regime kontrollierten Reichssendern und deren gleichgeschaltetem Programm.

Es ist heute nicht mehr möglich einen X-Account zu eröffnen, ohne die Tweets von Elon Musk und Donald Trump angezeigt zu bekommen, in Deutschland zudem Inhalte der AfD. Was soll Gleichschaltung heute bezeichnen, wenn nicht das? Sie findet nur nicht wie vor 100 Jahren im nationalen Rahmen statt: Der digitale Raum ist übernational.

Gut, dass der HR und weitere ARD-Häuser den Ausstieg aus X bereits vollzogen haben.

Ein Puzzle aus vielen Stücken, die eine gemeinwohlorientierte Medieninfrastruktur ergeben.

Es ist also höchste Zeit, massentaugliche digitale Informations-, Bildungs- und Diskursräume aufzubauen, die nicht von US-amerikanischen oder chinesischen Großkonzernen gesteuert und von der autoritären Rechten ausgenutzt werden. Es ist höchste Zeit, dass die ARD all ihre Ressourcen und Möglichkeiten nutzt, um wo immer möglich, Inhalte zu platzieren, die gemäß ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag produziert wurden.

Nur weil bereits seit vielen Jahren über eine alternative öffentlich-rechtliche Plattform gesprochen wird, wird der Gedanke nicht falsch. Sie muss nicht einmal mehr gänzlich selbst aufgebaut werden, sondern kann sich wie ein Puzzle aus vielen Stücken zusammensetzen, die gemeinsam eine gemeinwohlorientierte Medieninfrastruktur für das 21. Jahrhundert ergeben.

Basierend auf dem, was schon da ist - und woran die ARD nur anknüpfen müsste - könnte es damit sogar ziemlich schnell gehen. Die Kurznachrichtenplattform Mastodon erreicht bereits eine Million Menschen monatlich. Mastodon ist Teil des dezentralen Verbunds von sozialen Netzwerken, der sich Fediversum nennt - entwickelt nach Open-Source-Prinzipien. Warum nicht mit Risikokapital und Knowhow der ARD die Gründer in die Lage versetzen, auf dieser Basis das gemeinwohlorientierte Twitter zu machen, das wir uns alle so sehr wünschen?

Auf der technologischen Basis von Mastodon könnte die ARD selbst als soziales Netzwerk agieren und nach öffentlich-rechtlichen Prinzipien die Regeln für Inhalte und Diskussionen setzen - transparent und nachvollziehbar. Mit der Ausspielung eigener Inhalte auf Mastodon könnte sie sofort beginnen. Und damit ein in Deutschland entwickeltes Social Network direkt und sichtbar stärken.

Zentrale Vermittler von Inhalten

Zweites Beispiel: Im Public Spaces Incubator werden endlich Möglichkeiten entwickelt, ARD-Inhalte auch jenseits von Youtube zu diskutieren. Besonders überzeugt mich ein Prototyp, bei dem das Moderationssystem aktiv zur Beteiligung auffordert - basierend auf dem Nutzer:innenprofil. Im ARD-Netz wäre es so nicht mehr möglich, über Schwangerschaftsabbrüche zu diskutieren, ohne dass Frauen beteiligt sind.

Der gemeinsame Player von ARD und ZDF sollte überall dort auftauchen, wo Menschen jenseits der Very Large Online Platforms nach Informationen suchen, etwa in der Wikipedia oder in jungen, digitalen Lokalzeitungen.

Wir erleben derzeit, wie neben dem durch Empfehlungsalgorithmen kuratierten Netz ein neues Vermittlungsverfahren entsteht: Conversational AI - interaktive Künstliche-Intelligenz-Systeme, die Sprache verstehen und Fragen beantworten - werden bald zu zentralen Vermittlern von Inhalten.

Zusammenarbeit mit dem öffentlich-rechtlichen Wissensschatz.

Auch hier liegt für die ARD eine große Chance: Ohne ein eigenes Large Language Modell (LLM) trainieren zu müssen, könnte sie mithilfe eines sogenannten RAG-Systems ("Retrieval Augmented Generation" - ein KI-System, das mit Recherche in Datenbanken kombiniert ist - die Redaktion) ihr Archiv zum Sprechen bringen - und Journalist:innen, Kreativen, Pädagog:innen und Bürger:innen neue Formen der Zusammenarbeit mit dem öffentlich-rechtlichen Wissensschatz eröffnen.

Diesen Gedanken möchte ich wiederholen: Die ARD sollte zu einem Partner werden, der Menschen in ihrem Handeln in der realen Welt stärkt. Denn ein weiterer Effekt unseres Lebens in der Infokratie wird immer deutlicher: Das Gefühl, sich wirksam einbringen und etwas verändern zu können, geht vielen Menschen zunehmend verloren. Die Rede ist von "Ohnmacht".

Auch dazu passt ein Gedanke des Philosophen Byung-Chul Han: "Im Informationsregime heißt frei sein, nicht Handeln, sondern Klicken, Liken, Posten." Und auch dieser Effekt spielt den Autoritären in die Hände: Wer sich ohnmächtig fühlt, sehnt sich nach einem starken Mann, der für die eigenen Interessen kämpft.

Digitale Orte des Austauschs schaffen.

Die ARD kann mit ihren Angeboten digitale Orte des gesellschaftlichen Austauschs schaffen - mit Service, konstruktiven Inhalten und Interaktion als Brücke zurück zur physischen Welt, als Einladung zur Mitgestaltung und konkreten Beteiligung am Gemeinwesen.

Denn es gibt viel anzupacken - eine Parallele zu den Nachkriegsjahren, wenn auch mit besserer Ausgangslage: Schulen müssen saniert, neue Lehrkräfte und Schulfächer entwickelt werden. Die Energieversorgung steht vor einem historischen Wandel. Die Bundeswehr braucht Personal, die Autoindustrie alternative Antriebe, die Städte neue Mobilitätskonzepte. Und in den Gemeinden braucht es eine Wiederbelebung des Gemeinsinns.

Die ARD ist gefordert mitzuwirken - nicht als Teil der Regierung, sondern als tragende Säule der Demokratie, die nur überlebt, wenn wieder mehr Bürger:innen sich einbringen und wirksam werden.

Verabschieden Sie sich von der Idee vom medialen Lagerfeuer.

Verabschieden Sie sich deshalb zum 75. Geburtstag von einer Idee, die in der ARD lange als selbstgewählter Auftrag und Erfolgsmaßstab galt: die Idee vom medialen "Lagerfeuer". Es fehlt den Menschen heute nicht an Zeit vor dem Bildschirm. Das Gegenteil ist der Fall, sie verbringen dort zu viel Zeit. Mit zehn Millionen Zuschauer:innen am Sonntagabend gewinnen wir für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wenig. Diese Zahlen beruhigen - mehr nicht.

Zählen sollte künftig die Reichweite einer öffentlich-rechtlichen Künstlichen Intelligenz (KI), wie sie etwa BBC-Chef Tim Davie kürzlich vorschlug. Oder der Anteil der Schüler:innen eines Bundeslands, die im Jahr mit ÖRR-Bildungsinhalten gearbeitet oder an Medienkompetenzangeboten teilgenommen haben. Es sollte Erfolgskriterium sein, wie intensiv eingeloggte Nutzer:innen auf den eigenen Plattformen unterwegs sind - und ob Empfehlungsalgorithmen zur Nutzung von vielfältigen Inhalten anregen, die überraschende Perspektiven eröffnen.

All das braucht Investitionen.

Der Auftrag der ARD ist groß.

Sehr geehrte Medienpolitiker:innen, der Auftrag der ARD ist groß. Damit sie ihm gerecht werden kann, braucht sie die richtigen Mitarbeiter:innen und neue Talente und ausreichende Mittel. Die Politisierung des Beitrags, die engen Grenzen, in denen sich die Personalpolitik der Häuser bewegt, sie schaden der ARD - und der Demokratie.

Investieren Sie die Mittel, die Wolfram Weimer über eine Digitalabgabe von den Plattformen fordert, gemeinsam mit einem Teil des Beitrags in einen gemeinsamen Fonds, mit dessen Hilfe öffentlich-rechtliche und private Medienhäuser gemeinsam gemeinwohlorientierte Services und Plattformen zur Verbreitung von Qualitätsinhalten aufbauen können.

Tim Davie formulierte sein Ziel für die BBC vor Kurzem so: "A creative organisation delivering world class content and services underpinned by our values. At the cutting edge of innovation, rapidly deploying AI for good."

Der Bruch muss zwingend auch ein Bruch mit überkommenen Strukturen sein.

Die digitalen Plattformen der Zukunft werden nur durchlässige, agile Institutionen aufbauen. Davon, so mein Eindruck, ist die ARD noch ein gutes Stück entfernt.

Der Bruch muss zwingend auch ein Bruch mit überkommenen Strukturen, verdeckten Hierarchien, Hinterzimmer-Absprachen und bürokratischen Prozessen sein. Ein Bruch auch mit dem spektakulären Ungleichgewicht zwischen den Mitteln und Möglichkeiten der verschiedenen Anstalten.

Dazu wäre ein eigener Kurzvortrag fällig, aber Sie alle wissen, was zu tun ist. Gehen Sie es an. Es ist Zeit zu handeln.

dir



Zuerst veröffentlicht 09.08.2025 10:15

Schlagworte: Medien, Rundfunk, ARD, Internet, Plattformen, Dokumentation, Exner

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