Unbewusste Wahrnehmung - epd medien

15.08.2025 09:30

Eine Forschungsgruppe der Universität Eichstätt beschäftigt sich derzeit im Verbund mit anderen Forschungseinrichtungen mit der Bekämpfung der unbewussten Wirkmechanismen von Desinformation in sozialen Netzwerken. Dazu will sie "Innovative Kommunikationsstrategien zur Intervention und Prävention bei digitalen Desinformationskampagnen" entwickeln. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt gefördert. Projektleiterin Friederike Herrmann beschreibt, wie bestimmte Narrative wirken und warum Faktenchecks das Publikum so schwer erreichen.

Toxische Narrative in der digitalen Kommunikation

Über Desinformation und soziale Medien diskutierten Ricarda Lang (Grüne) und Pilipp Amthor (CDU) im Mai beim Kirchentag in Hannover

epd Polarisierungen, Hate Speech und Desinformation sind zentrale Probleme der digitalen Kommunikation. Sie werden durch Algorithmen der Betreiber sozialer Plattformen befördert. Das kann dazu verleiten, sie vor allem durch technische Mittel bekämpfen zu wollen. Doch so wichtig die technischen und auch die juristischen Gegenmaßnahmen sind, erfassen sie doch immer nur die manifesten Inhalte und damit nur einen Teil des Problems. Desinformationen und Polarisierungen erreichen und überzeugen aber oft auf subtilerem Weg. Narrative und Affekte, die unausgesprochen und oft auch unbewusst bleiben, bereiten ihnen den Boden.

Journalist:innen platzieren solche impliziten Narrative und Frames mitunter unbeabsichtigt in ihren Beiträgen. Weil sie unbemerkt bleiben, sind sie auch schwer zu entkräften. An solche Inhalte und Darstellungsformen können dann Desinformationskampagnen und destruktive Posts anknüpfen.

Diffuse Ängste

In einem interdisziplinären Forschungsprojekt untersuchen wir, welche psychischen Muster oder Dispositionen empfänglich für Desinformation und Polarisierungen machen. Und wir fragen zugleich danach, wie Inhalte und Darstellungsformen der digitalen Medien diese individuellen Bedürfnisse bedienen. Wir verknüpfen also die Analyse der gesellschaftlichen Makro- mit der individuellen Mikroebene.

Im Folgenden werde ich den Fokus auf die journalistischen Medieninhalte legen, die das Eichstätter Teilvorhaben des Forschungsprojektes untersucht. Wir gehen von der These aus, dass Desinformation nur aufgenommen und weiterverbreitet wird, wenn sie sich in einen vorhandenen Kontext einordnen lässt. Diesen Kontext geben Narrative, die im öffentlichen Diskurs zirkulieren und mit bestimmten Affekten unterlegt sind; insbesondere Narrative der Angst oder sogenannte toxische Narrative. Sie greifen diffuse Ängste, Bedürfnisse und Gefühle des Publikums auf und geben ihnen einen Namen. Sie rechtfertigen diese. Sie bieten eine Begründung für die Ängste und stellen sie in einen logischen Zusammenhang, indem sie einfache Erklärungen und scheinbare Ursachen anbieten und angeblich Schuldige benennen.

Das Publikum ergänzt die Erzählung im Moment der Rezeption.

Dies kann entlastend wirken und ist ein Grund dafür, dass Desinformation sich so schwer durch sachliche Argumente entkräften lässt. Desinformation erreicht über die enthaltenen Narrative vor allem eine affektive Ebene.

Die Überzeugungskraft von Narrativen liegt darin, dass sie einen kohärenten Zusammenhang herstellen. Sie erklären einen aktuellen Zustand aus Entwicklungen in der Vergangenheit. Dadurch wirken sie plausibel, selbst wenn die faktischen Grundlagen falsch sind. Manche dieser toxischen Narrative sind in der Gesellschaft so stark verbreitet, dass sie nicht mehr explizit erzählt werden müssen. Es reicht, wenn sie in den Aussagen eines Medienbeitrags mitschwingen, latent in Inhalten und Darstellungsform enthalten sind. Das Publikum ergänzt dann die Erzählung im Moment der Rezeption.

Ein alltägliches Beispiel: Eine Redaktion postet auf Instagram die Frage, was die Nutzer:innen davon hielten, wenn in Freibädern Polizisten patrouillieren würden. Wegen der gestiegenen Gewalt würden dies die Bademeister fordern. Die Redaktion will bewusst keine rassistischen Stereotype fördern, nennt aber als eine Ursache für die Gewalt, dass in Freibädern "viele Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenkommen".

Aktueller Diskurs

In der Anschlusskommunikation, den Kommentaren der Nutzerinnen und Nutzer, passiert, was passieren muss: In einem zynischen Ton äußern sich Menschen, die die angebliche Gewalt den Zugewanderten zuschreiben. "Grüße gehen raus an Angela Merkel wir schaffen das, mehr wert als Gold, danke ihr lieben Fachkräfte gut dass ihr endlich da seit ohne euch wären diese Zustände nicht".

Dieser Kommentar greift ein sehr altes Basisnarrativ auf, nach dem Fremde gewalttätig sind. In der konkreten Variante dieses Narrativs wird als Ursache für die angeblich konkreten Missstände Angelas Merkels Entscheidung aus dem Jahr 2015 zitiert, die Grenzen nicht zu schließen. Dieser Kommentar hat, ob bewusst oder unbewusst, eine Verbindung zur Aussage der Redaktion, dass in den Freibädern Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen aufeinandertreffen. Damit steht der Post im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs im Kontext der Ängste, dass durch Zugewanderte die alltägliche Gewalt in Deutschland wachse.

Wie der Chor in der griechischen Tragödie

Journalistische Posts und die Anschlusskommunikation in Nutzer:innenkommentaren haben einen Zusammenhang. Wir definieren in unserem Forschungsprojekt die Funktion der Community ähnlich dem Chor in der griechischen Tragödie. Dieser Chor greift die im Ausgangspost nur implizit anklingenden Narrative und Affekte auf und bearbeitet sie weiter. Etwa indem sie explizit ausgesprochen oder auch verstärkt werden. Die Community repräsentiert einen Resonanzraum, der die Affekte weiterentwickelt, die im Post der Redaktion angelegt sind. Etwa, indem dort latente Narrative ausgesprochen werden, wie das vom gewalttätigen Fremden.

Wer die Dynamiken von Desinformation und Polarisierungen verstehen und ihnen entgegenwirken möchte, muss diesen affektiven Zusammenhang berücksichtigen. Die faktischen, manifesten Inhalte der Medienbeiträge transportieren implizit Narrative. Diese Narrative sind in sich kohärent, also wenig angreifbar und bieten eine Erklärung für vorhandene diffuse Gefühle und Ängste.

Diese affektive Basis, die Gefühle und Ängste, ist dem Publikum häufig nicht bewusst. Sie werden nicht wahrgenommen und werden nicht sichtbar - auch darum sind sie so schwer zu entkräften. Ihre Wirksamkeit aber entfalten sie unter der Oberfläche umso heftiger. Faktenchecks bleiben auf der bewussten Ebene, sie versuchen rational zu überzeugen, Desinformation und Polarisierungen aber zielen auf eine affektive Ebene.

Der Strom der Medienberichte

Um diese nicht manifest in Erscheinung tretenden Narrative, Frames und Affekte zu erkennen und sichtbar zu machen, lehnen wir uns an die Methode des "Szenischen Verstehens" an, die der Sozialpsychologe Alfred Lorenzer entwickelt hat. Vereinfacht ausgedrückt geht es hier darum, eine Szene in einer Kommunikation zu erkennen, die durch eine mündliche oder schriftliche Aussage evoziert wird, aber nicht explizit im Beitrag steht. Es ist eine Performance oder auch Interaktion zwischen Medienbeitrag und Publikum, die im Moment der Rezeption entsteht. In ihr drücken sich die entstehenden Narrative, Frames und Affekte aus.

Um das an einem Beispiel zu erläutern: Während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 berichteten die Medien unablässig über das Thema. Die Nachrichtensendungen waren über mehrere Wochen davon beherrscht, die Mehrzahl der Beiträge stand im Zusammenhang mit Flucht. Performativ evozierte dies eine Szene, in der das Publikum sich von der dauerhaften Berichterstattung zum Thema Geflüchtete überschwemmt und überfordert fühlen konnte. Selbst, wenn ihnen in ihrem Alltag keine Geflüchteten begegneten, wirkte der stete Strom der Medienberichte erschlagend.

Irritationen und Widersprüche

Dadurch drückte das Ausmaß der Berichterstattung performativ durchaus unbeabsichtigt und unbewusst eine Botschaft aus, die auf die Geflüchteten bezogen wurde: Da kommt ein nicht zu stoppender Strom, das ist alles zu viel, das überfordert uns. Selbst Medieninhalte, die manifest die Situation in Deutschland 2015 als bewältigbar beschrieben, förderten durch den permanenten Strom der Berichterstattung latent die Botschaft der Überforderung. Die performativ im Moment der Rezeption entstehende Szene kann also das explizit Gesagte konterkarieren, prägt aber Gefühle und unbewusste Wahrnehmung.

Die enthaltenen Affekte sind nicht durch eine Analyse der manifesten Inhalte des Gesagten zu erkennen. Deshalb haben wir den Zugang des szenischen Verstehens für unsere Analyse adaptiert: Wir beobachten in einer Gruppe von Forschenden die eigenen affektiven Reaktionen auf einen Medienbeitrag oder Post und achten insbesondere auf Irritationen und Widersprüche.

Affekte erkennen

Die Interpretationen, die sich aus den Gruppengesprächen ergeben, sind Ausgangspunkt für Hypothesen zu der durch den Beitrag ausgelösten Kommunikationsszene beziehungsweise der Performance und den damit verknüpften Affekten und Narrativen. Diese Hypothesen werden in einem weiteren Schritt der Analyse der Medienbeiträge auf ihre Plausibilität überprüft. Zu Zeiten der sogenannten Flüchtlingskrise hätte man diese Kommunikationsszene und damit die latenten Affekte erkennen können, wenn man seine Gefühle angesichts der Berichterstattung befragt hätte.

Die gewonnenen Erkenntnisse wollen wir für Redaktionen nutzbar machen. Redaktionen beziehungsweise das Community-Management sollten in ihren Interventionen diese Affekte berücksichtigen. Dafür müssen in einem ersten Schritt die Affekte erkannt und benannt werden, um sie in einem zweiten Schritt zu bearbeiten, im Idealfall zu entgiften. Um diesen Vorgang besser zu verstehen, kann das in der Psychotherapie angewandte Konzept des Containments helfen: Das Gegenüber nimmt wie ein Container die heftigen Gefühle auf und entgiftet sie.

Zur Illustration vielleicht ein Beispiel aus der Eltern-Kind-Kommunikation. Ein Kind, das verzweifelt ist, braucht zunächst Menschen, die seine Verzweiflung erkennen und wahrnehmen. Sonst bleibt es mit seinen Gefühlen allein und sie können nicht aufgelöst werden. Der Grund für die Ängste kann ganz harmlos sein, vielleicht kann das Kind die Dimensionen einer Verletzung nicht richtig einschätzen und befürchtet, dass der kleine Riss am Finger nie mehr heilen wird.

Öffentliche Kommunikation

Erst nachdem die Gefühle erkannt und benannt wurden, können die Erwachsenen diese entgiften und dem Kind das sichere Gefühl geben, dass es so schlimm nicht kommen wird. Dies funktioniert aber nur, wenn die Eltern das Gefühl der Verzweiflung ernstnehmen, wahrnehmen und verstehen, also containen. Wenn sie es abweisen, beispielsweise indem sie die Reaktion des Kindes unberechtigt nennen oder lächerlich machen, werden sie beim Bewältigen nicht helfen können.

Im Fall von Nutzer:innenkommentaren im journalistischen Kontext sollte allerdings nicht die individuelle Kommunikation im Vordergrund stehen. Hier handelt es sich um öffentliche Kommunikation, und die Redaktion hat die Verantwortung, latent rassistische oder diskriminierende Aussagen nicht einfach kommentarlos stehenzulassen, weil diese sonst in der Community ungehindert wabern. Selbst wenn der Kommentar von einem Bot käme, sollte er deshalb so nicht stehen bleiben.

Containment in diesem Sinne heißt: Die mit den Narrativen verbundenen Affekte müssen erkannt und thematisiert werden, um sie in ihrer Wirkung einschränken zu können. Die Gefühle, die Ängste und Befürchtungen sollten zunächst wahrgenommen und verstanden werden. Verstehen bedeutet nicht unbedingt, die Gefühle zu akzeptieren oder gar gutzuheißen. Im Community-Management ist es jedoch wichtig, auf Augenhöhe und authentisch zu kommunizieren, das verbietet besserwisserisch klingende Richtigstellungen oder moralisierende Aussagen.

Aufgebauschte Einzelfälle

Natürlich dürfen falsche Fakten nicht einfach stehen bleiben. Aber oft kann es sinnvoller sein, eine Korrektur nicht als Belehrung zu formulieren. Hilfreicher erscheint uns eine Haltung, die auf Augenhöhe bleibt und die mit dem Kommentar verbundenen Affekte ernst nimmt. Das kann vielleicht eine Frage sein, eine Überlegung oder Reflexion, die Redaktion könnte von eigenen Erfahrungen berichten oder die User:innen danach fragen.

Im Falle des oben genannten Schwimmbadbeispiels hätte es aber vielleicht schon viel geholfen, wenn die Redaktion einen eigenen Fehler bei der Recherche eingestanden hätte - denn für die Zunahme von Gewalt in Schwimmbädern gibt es keine Belege. Viel spricht dafür, dass es wenige aufgebauschte Einzelfälle sind, die durch Medienberichte zu einem scheinbaren Trend gehypt wurden. Das anzusprechen hätte auch den Blick dafür schärfen können, wie solche Narrative entstehen und sich verbreiten. Dass die Redaktion unbeabsichtigt ein fremdenfeindliches Narrativ evoziert hat, zeigt, wie diese in uns allen wirken. Social Media bietet auch die Chance, ihnen entgegenzutreten.

infobox: Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den Friederike Herrmann beim Symposium "Kommunikation stärkt Demokratie" am 9. April in Leipzig gehalten hat.

Friederike Herrmann Copyright: Foto: Kilian Müller Darstellung: Autorenbox Text: Friederike Herrmann ist Professorin für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.



Zuerst veröffentlicht 15.08.2025 11:30

Friederike Herrmann

Schlagworte: Medien, Internet, Soziale Netzwerke, Hate Speech, Desinformation, Herrmann

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