"Eine erzählende Gegenmacht" - epd medien

19.08.2025 07:38

Die Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann hat beim Forum Medienzukunft der Medienanstalt Hessen über den engen Zusammenhang von Desinformation und populistischer Politik gesprochen. Die politische Agenda, die hinter der Verbreitung von Desinformation stecke, werde unterschätzt, sagte Hofmann am 1. Juli in Frankfurt am Main. Wir dokumentieren ihren Vortrag zum Thema "Autokratisierung im öffentlichen Raum - Desinformation als Symptom demokratischer Regression" in einer von der Autorin überarbeiteten Fassung mit freundlicher Genehmigung der Medienanstalt Hessen.

Jeanette Hofmann über Desinformation im öffentlichen Raum

Jeanette Hofmann beim Forum Medienzukunft in Frankfurt am Main

Vielen Dank, dass ich zum zweiten Mal beim Forum Medienzukunft vortragen darf. Mein Thema heute baut auf dem auf, worüber ich 2019 unter dem Titel Die mediatisierte Demokratie gesprochen habe. Damals ging es im Wesentlichen um die Frage, wie Digitalisierung und Demokratie zusammenhängen. Heute spreche ich über Desinformation im Kontext von demokratischer Erosion. Und wir beginnen gleich mit dem Begriff von Desinformation.

Betrachtet man die Zahl der Publikationen zu Desinformation in der Wissenschaft, dann zeigt sich eine Kurve, die ab 2016 ansteigt und spätestens 2018/2019 sehr steil nach oben geht. Das heißt, das Thema Desinformation ist noch relativ neu. Die ersten Publikationen dazu stammen aus den Jahren 2016/2017; vorher war dieser Begriff faktisch nicht existent. Manche Beobachter sagen, er käme aus dem Russischen, und wir hätten ihn erst Mitte der 2010er Jahre importiert.

Begrifflicher Wandel

Interessant ist an diesem Begriff, dass er andere Bezeichnungen abgelöst hat, die wir vorher gebraucht haben, wenn wir über Themen wie Manipulation, Verzerrung von Zusammenhängen, Halbwahrheiten, Falschmeldungen, Verschwörungstheorien, Gerüchte oder Propaganda gesprochen haben. Mit diesem begrifflichen Wandel ist auch etwas zu Ende gegangen, was wir mit den früheren Begriffen verbunden haben: Nämlich ein Nachdenken über Ideologien, über die Frage, was Regierungen damit zu tun haben, und auch darüber, ob so etwas wie Falschinformationen oder Propaganda tatsächlich wirksam ist.

Diskussionen über mediale Wirksamkeit gehören zu den Konstanten des Medienwandels; wir haben sie immer wieder geführt, selbst im Zusammenhang mit der Einführung des Farbfernsehens. Ich erinnere daran, dass die Nachrichten in Deutschland noch eine Weile in Schwarz-Weiß ausgestrahlt wurden, weil man die Sorge hatte, die Menschen würden das Geschehen in der Politik nicht mehr ernst nehmen, wenn es in Farbe erscheint. Die Frage, was Medien mit dem Kopf der Menschen machen, ist uns also altvertraut. Seit den 2010er Jahren dreht sich die Frage der Wirksamkeit im Wesentlichen um Desinformation. Und Desinformation wiederum verbinden wir eng mit dem Thema der digitalen Plattformen.

Unerwartete Voten

Was also hat diesen Begriffswandel zugunsten von Desinformation genau ausgelöst? Dafür verantwortlich werden drei Ereignisse in den 2010er Jahren gemacht, nämlich Brexit, die US-Präsidentenwahl, als Donald Trump zum ersten Mal gewählt wurde, und die Wahl von Jair Bolsonaro in Brasilien zwei Jahre später.

Allen drei Ereignissen ist gemeinsam, dass die Voten unerwartet ausfielen. Niemand konnte sich ernsthaft vorstellen, dass die Briten sich tatsächlich für ein Ausscheiden aus der EU entscheiden würden. Niemand hat gedacht, dass jemand wie Trump ernsthaft eine Chance hätte, US-Präsident zu werden. Und das Gleiche galt für Bolsonaro, der noch wenige Monate vor seiner Wahl weitgehend unbekannt war in Brasilien, weil er als Hinterbänkler galt. Alle drei Wahlausgänge waren insofern überraschend und verlangten nach einer Erklärung. Und die Erklärung, die dafür gefunden wurde, war tatsächlich der Aufstieg der sozialen Netzwerke und das Desinformations- und Manipulationspotenzial, das mit den sozialen Netzwerken verbunden wird.

Sichtbarkeit auf Tiktok

Dieses Narrativ besteht mit wenigen Abwandlungen bis heute fort. Ein neueres Beispiel aus den letzten Monaten sind die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. In diesen Landtagswahlen haben junge Wähler:innen deutlich öfter rechts gewählt, als das erwartet wurde. Und wieder war die Erklärung, dass sich junge Wähler:innen heute nicht mehr über Massenmedien informieren, sondern dass sie Tiktok-Videos gucken. Und weil auf Tiktok insbesondere die AfD sichtbar ist, sichtbarer jedenfalls als andere Parteien, gilt das als Erklärung dafür, dass die junge Generation dann auch offener für die Wahlversprechen rechter Parteien ist.

Der kausale Zusammenhang zwischen der Präsenz in sozialen Medien und dem Wahlverhalten ist so auch in den Kommentierungen der Wahlergebnisse vielfach wiederholt worden. Ein Cartoon der Wochenzeitung "Die Zeit" illustrierte im vergangenen Jahr genau dieses Narrativ: Die Menschen verdummen durch die Nutzung sozialer Medien; "Scrollo Sapiens", wie "Die Zeit" schrieb, "verwechselt Propaganda mit Nachricht" und auf diese Weise werden "furchtbar böse Demagogen zu Präsidenten".

Was ist richtig, was falsch?

Ich denke, dieses Narrativ ist in vieler Hinsicht problematisch. Problematisch ist es zum einen, weil es unterstellt, dass Desinformation tatsächlich wirksam ist, dass also Menschen, wenn sie nur häufig genug demagogische Aussagen zu sehen bekommen, deren Inhalte glauben. Problematisch ist es auch, weil es den sozialen Medien einen sehr herausgehobenen Platz einräumt und dabei übersieht, dass die Reichweite der Massenmedien in vielen Ländern, darunter Deutschland, noch immer viel größer ist. Auch wenn es stimmt, dass sich die junge Generation überwiegend über soziale Medien informiert, hat die "Tagesschau" auch dort immer noch die höchsten Zugriffsraten. Man muss sich entsprechend die gesamte Medienlandschaft anschauen.

Und problematisch ist meines Erachtens auch die Vorstellung, dass man die Qualität des öffentlichen Diskurses danach bewerten kann, was richtig und was falsch ist. Darauf komme ich gleich noch mal zurück.

Zwischenfazit: Wir haben ein relativ einfaches Narrativ bezüglich Desinformation, das unterstellt, dass wir alle manipulierbar sind und Desinformation deshalb so gefährlich ist. Ich möchte eine andere Lesart von Desinformation anbieten; eine, die nicht Plattformen ins Zentrum rückt, sondern den politischen Wandel und die Erosion von Demokratie. Die These dazu lautet: Die Verbreitung von Desinformation ist nicht das Resultat neuer Medien, Algorithmen und KI, sondern sie ist Ausdruck der Erosion von Vertrauen in die Demokratie.

Desinformation kommt häufig von oben.

Ich beginne die Illustration meiner These mit einer Geschichte aus dem US-Wahlkampf 2024. Vielleicht erinnern Sie sich an eines von vielen Memes, das bei verschiedenen Wahlkampfauftritten von Trump entstanden ist. Es zeigt Trump in einem Privatjet, umgeben von flauschigen Enten- oder Gänseküken und Katzen. Dieses und verwandte Memes geht zurück auf die Behauptung von Trump, dass die Immigrant:innen in Springfield, Ohio, die Haustiere der Einwohner:innen schlachten und essen.

Desinformation kommt also nicht nur aus den sozialen Medien, sondern sie kommt auch aus der Politik und zwar häufig von oben, nämlich von Regierungen und den öffentlichen Diskurs prägenden Oppositionsparteien. Desinformation wird von Trump, von Bolsonaro, von Erdogan, von Orbán, von Boris Johnson, von Putin und anderen verbreitet. Und obwohl die Liste populistischer Politiker, die sich demagogischer Narrative bedienen, schier unendlich ist, verbinden wir Desinformation häufig als erstes mit sozialen Medien.

Populistische Rhetorik lebt von feindlicher Abgrenzung.

Als Trump behauptete, dass die Geflüchteten aus Haiti in Springfield, Ohio, die Haustiere der dort ansässigen Menschen äßen, erzählte er auch, dass er diese Geschichte vor kurzem im Fernsehen gesehen habe. Diese Art der Erzählung ist für Trump typisch: Er betont, dass er solche desinformierenden Narrative nicht selbst erfindet, sondern er verweist auf Dritte. Seine Formulierung "A Lot of People Are Saying", die Trump häufig verwendet, ist sogar Titel eines Buches geworden, in dem sich Nancy Rosenblum und Russell Muirhead mit Verschwörungstheorien als Angriff auf die Demokratie auseinandersetzen.

Mit der Formulierung "A lot of people are saying" macht Trump den Menschen, die ihn unterstützen, Repräsentationsangebote. Aus meiner Sicht geht es populistischen Politikern nicht in erster Linie um Manipulation, sondern sie verleihen ihren Wähler:innen eine Stimme. Gleichzeitig zielen solche Narrative mit ihrem affektiven Kern darauf, Menschen zu mobilisieren. Desinformationsnarrative drehen sich häufig um Themen, die Leute emotional sehr stark berühren oder wütend machen. Und sie sind in der Mehrzahl negativ aufgeladen. Populistische Rhetorik lebt ganz überwiegend von feindlicher Abgrenzung, die zugleich harmonische Gemeinschaftsgefühle stärken soll.

Fortschreitender Demokratieabbau

Viele der Menschen, die heute populistische Politiker - das sind ja überwiegend Männer - unterstützen, finden nichts Anrüchiges daran, wenn Politiker lügen. Das ist ein Phänomen, das aus meiner Sicht zu wenig ernst genommen wird. Der Zusammenhang zwischen Desinformation und populistischen Regierungen ist inzwischen auch gut mit Daten belegt. Das internationale Forschungsprojekt "Varieties of Democracy" untersucht seit vielen Jahren die Entwicklung von Demokratien in vergleichender Weise. Und seit einigen Jahren befasst man sich in diesen Untersuchungen auch mit dem Aufkommen von Desinformation und Polarisierung. Der in diesem Jahr erschienene Bericht demonstriert, dass Länder, in denen viel Desinformation zu beobachten ist, häufig einen Regimewandel hin zu Autokratien durchlaufen.

Die Wirkungsketten, die das Varieties of Democracy Projekt beobachtet, bestehen, schematisch gesprochen, darin, dass Desinformation zur Polarisierung der öffentlichen Diskussion beiträgt und dass Polarisierung wiederum dafür sorgt, dass mehr Menschen bereit sind, von ihren demokratischen Rechten Abstriche zu machen. Bürger:innen sind entsprechend eher willens, einen fortschreitenden Demokratieabbau zu tolerieren, um Sicherheitsrisiken, etwa den Feind im Land oder außerhalb des Landes zu bekämpfen.

Es geht nicht um richtige und falsche Aussagen.

Deutschland hat zwar noch niedrige Werte im Hinblick auf Autokratisierung, aber es hat zunehmend hohe Werte im Hinblick auf Polarisierung, was nicht zuletzt der AfD zu verdanken ist. Das Varieties-of-Democracy-Projekt sagt selbst dazu: "Die Hälfte aller Regierungen, die sich autokratisieren, verbreiten in zunehmendem Umfang Desinformation."

Wie soll man nun dieses Thema Desinformation eigentlich beschreiben, wenn es nicht mehr nur ein Problem von Algorithmen und KI ist und nicht nur Russland, China und Plattformen zugeschrieben werden kann? Ich würde vorschlagen, Desinformation als eine erzählende Gegenmacht zu verstehen.

Wenn man Desinformation in einen politischen Kontext rückt, dann wird klar, dass es hier nicht primär um richtige und falsche Aussagen geht. Die Leitunterscheidung richtig/falsch greift im politischen Diskurs einfach nicht. Wir haben es im politischen Diskurs zwar auch mit Fakten zu tun, aber die werden jeweils eingebettet in Weltbilder, in Ideologien und in Werthaltungen, die darauf zielen, politische Botschaften überzeugend zu vermitteln. Damit ist gesagt, dass Fakten einen wesentlichen, aber vielfach nicht den entscheidenden Aspekt politischer Kommunikation bilden. Vielfach sind die Narrative, derer sich die Politik bedient, so komplex, dass sie sich einer Bewertung als falsch oder richtig entziehen.

Plausible Aussagen

Das ist auch der Grund, warum sich die Politik schwer damit tut, Desinformation zu definieren. Der Digital Services Act der EU befasst sich in seinen einleitenden Kapiteln umfangreich mit Desinformation, aber er definiert sie nicht und am Ende reguliert er sie auch nicht. Desinformation bewegt sich eher auf einem Spektrum zwischen plausiblen und unplausiblen als zwischen korrekten und inkorrekten Aussagen. So kann das Abstreiten des Klimawandels oder von Covid-19 als wissenschaftlich widerlegt gelten, aber die narrativen Zusammenhänge, in die solche "falschen Fakten" eingebettet sind, lassen sich schwerer bestreiten.

Das heißt, politische Beiträge bewegen sich immer im Rahmen von Annahmen und Glaubensbekenntnissen, deren Wahrheitsgehalt nur schwer überprüft werden kann. In der Systemtheorie würde man es so ausdrücken: Die Leitdifferenz in der Politik ist die zwischen (Deutungs-)Macht und Ohnmacht; die Unterscheidung zwischen wahr und falsch tritt dahinter zurück.

Eigene Regeln der Wahrheitsfindung

Charakteristisch für das, was wir als Desinformation bezeichnen, sind Erzählungen, die sich gegen den politischen Mainstream richten und damit auch gegen den Common Sense. Desinformation ist in dieser Hinsicht als eine Art von politischem Handeln zu verstehen. Das gilt vor allem für Anhängerinnen und Anhänger populistischer Bewegungen und Parteien, die das Weltbild eines homogenen Volkes reklamieren, das sich gegen eine korrupte Elite zur Wehr setzt.

Diese korrupte Elite besteht nicht nur aus der Politik, sie besteht auch aus Wissenseliten, also dem etablierten Journalismus, der Forschung und Wissenschaft im weitesten Sinne. Populistisches Denken beansprucht für sich eigene Regeln der Wahrheitsfindung und der Wissensproduktion. Desinformation ist also eine erzählende Gegenmacht, die den Menschen ein ideologisches Zuhause anbietet.

Man sollte sich das Publikum von Politikern wir Trump oder Orban nicht als leicht manipulierbare Menschen vorstellen.

Die Identifikation mit Politikern wie Trump ist vielfach wichtiger als der Wahrheitsgehalt beziehungsweise die Überprüfbarkeit von Informationen. Politische Identifikation zählt für populistische Strömungen mehr als faktische Korrektheit. Hinzu kommt, dass sich Menschen mit starken politischen Ressentiments in desinformierenden Erzählungen häufig gut aufgehoben fühlen, weil sie Rechtfertigungen für die eigenen Affekte bieten. Man sollte sich das Publikum von Politikern wie Trump oder Orban also nicht als rein passive, leicht manipulierbare Menschen vorstellen.

Auch ist es nicht so, dass die Anhänger:innen populistischer Politiker nicht zwischen wahr und falsch unterscheiden können. Wenn diese etwa fragen: "Wie wird das Wetter morgen?" Oder "Wann fährt der Bus ab?", dann erwarten sie sich immer noch eine verlässliche, korrekte Auskunft. Aber im politischen Raum suspendieren sie diese Art von Qualitätsanspruch zugunsten starker Loyalitätsbekenntnisse zu charismatischen Führern. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass das Publikum von Desinformation eine Art "affektives Investment" betreibt. Das kann man daran erkennen, dass es sich solche Geschichten zu eigen macht und mit eigenen Erfahrungen verknüpft.

Unterfinanziertes Gesundheitssystem

Eine holländische Soziologin, Noortje Marres, hat das an einem Beispiel verdeutlicht. Boris Johnson ließ während der Brexit-Kampagne einen Doppeldecker-Bus mit der Aufschrift herumfahren, dass Großbritannien wöchentlich 350 Millionen Pfund an die EU überweise und man dieses Geld nach dem Brexit einsparen und stattdessen in das nationale Gesundheitssystem investieren könne. Die fiktiven 350 Millionen Pfund sind vielfach öffentlich kritisiert worden und es gab berechtigte Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Kampagne. Noortje Marres beobachtete jedoch, dass die Briten die 350 Millionen Pfund mit ihren eigenen Erfahrungen eines deutlich unterfinanzierten Gesundheitssystems verknüpften und der Kampagne auf diese Weise Authentizität verliehen haben.

Das affektive Investment bestand darin, den versprochenen Geldsegen mit der eigenen Betroffenheit eines unterfinanzierten Gesundheitssystems zu unterlegen und der Kampagne auf diese Weise zu einer größeren Glaubwürdigkeit zu verhelfen.

Vertrauen in die Quellen

Warum ist die Rolle des Publikums bezüglich Desinformationsnarrativen relevant? Wir hören häufig, dass Menschen als leicht manipulierbar und naiv gelten. Damit wird unterstellt, sie glaubten, was ihnen populistische Parteien vorsetzen und richten ihr Wahlverhalten danach aus. Aus meiner Sicht unterschätzt man damit die Autonomie der Menschen. Die Briten hatten bezüglich des EU-Austritts die Wahl. In den Medien ist vielfach vorgerechnet worden, was es die Engländer:innen kosten wird, wenn sie für den Brexit stimmen, und sie haben sich trotzdem dafür entschieden. Die Debatte in Großbritannien war heftig; man kann nicht behaupten, dass die Menschen nicht gehört hätten, was der mögliche Preis für den EU-Austritt sein würde.

Was wir während solcher öffentlichkeitswirksamer Kampagnen beobachten können, ist eine zunehmende Personalisierung von Vertrauen in Wissen. Dieser Gedanke geht auf den britischen Wissenshistoriker Stephen Shapin zurück. In seinem Buch "The Social History of Truth" ist er der Frage nachgegangen, wie sich die Herstellung vertrauenswürdigen Wissens im Zeitverlauf verändert hat. Die Ausgangsfrage war eine, die vor allem Journalist:innen und Forschenden wohl vertraut ist: Wissen ist immer ein Kollektivgut. Man braucht viele Menschen für seine Produktion, weil Einzelne immer nur wenig wissen und vor allem nicht überall sind, wo wissenswerte Ereignisse stattfinden. Für die Wissensproduktion ist Vertrauen in die Quellen erforderlich, weil man beständig auf das Wissen Dritter angewiesen ist. Nicht mal Nachrichten kann man konsumieren, ohne auf ihre Verlässlichkeit zu vertrauen.

Vertrauen in die Institutionen

Die Antwort, die Stephen Shapin mit Blick auf das 17. Jahrhundert in England gefunden hat, war die, dass Vertrauen personalisiert war. Man hat reichen, freien Männern, denen man Würde und Ehre zugeschrieben hat, vertraut. Warum das? Dieses Modell einer Personalisierung von Wissen hat sich über mehrere Jahrhunderte gehalten und ist eigentlich erst im frühen 20. Jahrhundert abgelöst worden.

In diesem Zeitraum wurden Wissens- und Qualitätsstandards etabliert, und es entstanden wissenschaftliche Institutionen wie Ausbildungssysteme, Studiengänge, Reputationskriterien für Zeitungen, Universitäten und Schulen. Shapin spricht in diesem Zusammenhang von Systemvertrauen. Das Vertrauen in das Wissen einzelner Personen wurde so nach und nach vom Vertrauen in Institutionen überlagert.

Populistische Politik richtet sich gegen diese Art von Systemvertrauen und knüpft stattdessen an die Tradition personalisierten Vertrauens an. Statt den Berechnungen von Wirtschaftsforschungseinrichtungen Glauben zu schenken, vertrauten die Briten Boris Johnson. Denn, wie es der britische Politiker Michael Gove einmal im Kontext des Brexit-Referendums formulierte, "people in this country have had enough of experts". Populistische Politiker argumentieren somit für eine Rückabwicklung epistemischer Gütestandards.

Sehnsucht nach charismatischen Führern

Die augenblicklichen Angriffe der US-Regierung auf amerikanische Elite-Universitäten sind ein weiteres Beispiel für die populistische Unterwanderung des Systemvertrauens in die Wissensproduktion. Das ist keine nebensächliche Entwicklung, sie ist vielmehr zentral, weil demokratische Willensbildung ohne vertrauenswürdiges Wissen nicht funktionieren kann. Das heißt, wir sehen hier einen engen Zusammenhang zwischen Desinformation, populistischer Politik, Wissenschaftsfeindlichkeit und demokratischer Erosion, die sich auch in Deutschland immer mehr ausbreitet.

Zum Abschluss möchte ich kurz zu sprechen kommen auf die Frage, ob das alles hinter unserem Rücken passiert. Dazu möchte ich den Politikwissenschaftler Peter Niesen zitieren, der 2021 behauptet hat: "Ein Gemeinwesen, das regrediert, ist nicht einfach dem Verfall preisgegeben. Es weiß, dass es regrediert und verhält sich affirmativ dazu. (…) Es handelt sich bei der Rückabwicklung politischer Standards um bewusste und willentliche kollektive Entscheidungen von Bürgerinnen und Bürgern und der von ihnen gewählten Amtsträgerinnen und Amtsträgern."

Zusammenfassend ist festzuhalten: Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir meinen, wir müssten die Leute einfach nur besser medial bilden und soziale Netzwerke sind schlecht. Wir sollten uns vielmehr dem Problem stellen, dass viele Menschen heute kein Vertrauen mehr in Demokratie und eine große Sehnsucht nach charismatischen Führern haben. Diese charismatischen Führer bedienen sich häufig der Desinformation als Medium zur Kommunikation mit ihren Sympathisierenden.

infobox: Jeanette Hofmann ist Gründerin und Direktorin des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft und Leiterin der Projektgruppe Politik der Digitalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin.

dir



Zuerst veröffentlicht 19.08.2025 09:38

Schlagworte: Medien, Dokumentation, Forum Medienzukunft, Hofmann, Desinformation, Soziale Netzwerke

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