Die Eltern des "Todespflegers" - epd medien

22.09.2025 09:15

Für die Dokumentation "Jenseits von Schuld" haben die Autorinnen Katharina Köster und Katrin Nemec die Eltern des sogenannten Todespflegers Niels Högel sechs Jahre lang begleitet. Ihr Film zeigt, in welches Unglück schuldlose Menschen geraten können.

ZDF-Dokumentation "Jenseits von Schuld"

Ulla und Didi Högel erzählen in "Jenseits von Schuld" über das Leben nach dem Schock

epd Das Ehepaar Didi und Ulla Högel lebt in Wilhelmshaven, und es könnte sich, so scheint es, bewerben, wenn eine TV-Reality-Show ein typisches "ganz normales Elternpaar" suchte. Er arbeitet als Krankenpfleger, sie ist Rechtsanwaltsgehilfin, der 1976 geborene Sohn Niels ist in die Fußstapfen des Vaters getreten und ebenfalls Pfleger geworden. Didi besticht durch sein humorvolles, freundliches Wesen. Ulla ist ein bisschen ernster, dafür auf einnehmende Art nachdenklich. Man mag die beiden sofort. Aber warum kommt der Sohn nicht mal zu Besuch? Und gibt es da nicht auch eine Schwiegertochter und eine Enkelin?

Die Högels, das ist die traurige Wahrheit, würden bei einer Bewerbung um Normalität sofort durchfallen. Beide wissen, dass sie ganz und gar außerhalb der Normalität angekommen sind, dass ihnen "ein Stück unseres Lebens genommen worden ist". Sie waren im Urlaub in der Türkei, als sie hörten, da sei etwas mit Niels. Es werde gegen ihn ermittelt. Wegen Mordes.

Monströse Mordserie

Im Jahr 2005 begann die Polizei, die Fährte des "Todespflegers" Niels Högel aufzunehmen. Am Ende stand 2019 nach mehreren Prozessen die Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes in 85 Fällen durch Verabreichung von Herzmedikamenten an Patienten, die daraufhin aufwendig wiederbelebt werden mussten oder verstarben. Möglicherweise waren es weit mehr Fälle, die Zahl 200 steht im Raum. Es war die monströseste Mordserie in der jüngeren deutschen Kriminalgeschichte. Högel hatte diese Verbrechen, wie es hieß, aus Geltungssucht begangen. Seine Eltern wussten von nichts.

Um diese Eltern geht es in dem Dokumentarfilm "Jenseits von Schuld" von Katharina Köster und Katrin Nemec. Die Filmemacherinnen begleiteten Didi und Ulla Högel über sechs Jahre in deren Alltag, sprachen mit ihnen über das Leben nach dem Schock und waren mit der Kamera dabei, wenn das Paar im Fernsehen die neuesten Prozess-Nachrichten in Sachen Niels Högel schaute oder eine Serie über ihren Sohn, den "Todespfleger".

Die tiefste Hölle

Einst waren sie eine ganz normale Familie, das können sie in kleinen Videos oder Dia-Shows dokumentieren, in denen ihr kleiner Sohn die Ärmchen ausstreckt oder alle gemeinsam einen Sonntag genießen. Und heute? Was die Högels durchgemacht haben, ist wohl die tiefste Hölle, die Menschen durchleben können. Sie haben überlegt, ihren Namen zu wechseln, aber dann hätten sie auch wegziehen müssen, und sie sind doch in Wilhelmshaven verwurzelt.

Sie haben beschlossen, mit ihrem Sohn, dem Massenmörder, nicht zu brechen, sondern den Kontakt zu halten und ihn im Gefängnis zu besuchen. Das Filmteam ist dabei, wie sie mit ihm telefonieren. Es hält fest, wenn Ulla zusammenbricht und weint und wenn Didi wegen einer Herzerkrankung zur Untersuchung muss. Es fühle sich an wie eine Bestrafung, sagt Ulla. Aber wofür? Der kleine Niels war ein ganz normales Kind, aufgeweckt und lustig, er spielte Fußball. Jetzt wird ihm eine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Haben die Eltern etwas falsch gemacht? "Ich gebe mir keine Schuld", sagt Ulla.

Später trank Niels zu viel und nahm Drogen. Manchmal träumt seine Mutter davon, dass er frei komme. Dann würde sie ihn unterstützen. Aber nur so lange er clean bliebe, sagt sie.

Der Versuch, anlässlich eines außergewöhnlichen Kriminalfalles die Perspektive der nahen Angehörigen, hier der Eltern, zu beleuchten, ist ehrenwert. Die Filmemacherinnen Köster und Nemec führen ihre Protagonisten nie vor, sie haben ihnen ihre Würde gelassen, ja vielleicht dazu beigetragen, dass diese Würde für die Högels selbst und auf jeden Fall für das Publikum dieses Films an Stärke gewinnt.

Tieftraurige Elegie

Man muss jedoch auch sagen: Dies ist kein Film mit einer Geschichte, einer Spannung, einem erzählerischen Bogen. Das konnte schon deshalb nicht sein, weil der Elefant im Raum, der "Todespfleger" selbst, nicht auftritt. Es sollte ja auch nicht um ihn gehen, sondern um seine Eltern. Aber er bleibt doch die indirekte Hauptfigur sein. Er hat sein eigenes Leben, das seiner Opfer und auch seiner Nächsten zerstört.

In der Dokumentation, die für die ZDF-Reihe Das Kleine Fernsehspiel realisiert wurde, teilen zwei unschuldige, vom Schicksal tief getroffene Menschen mit, wie es ihnen geht, worum sie trauern und was sie noch hoffen. Das ist nicht viel. Der Film ist eine tieftraurige Elegie mit einem Refrain über Hoffnungslosigkeit in Dauerschleife. Es geht nicht voran und nicht zurück, es ist ein Auf-der-Stelle-Treten in einem Grund aus Grauen, Trauer, Enttäuschung und Verzweiflung. Einmal bekennt Ulla Högel, dass sie sich vorgestellt habe, ihr Sohn nehme sich das Leben. Wohl, weil dieser Akt am ehesten geeignet schiene, das glaubhaft zu machen, von dem die Mutter überzeugt ist: dass er inzwischen bereut.

Das große Feld, auf dem Verbrechen, Schuld, Sühne, Strafe, Vergebung und Reue spielen, wird immer wieder Sujet der Künste, insbesondere der Filmkunst sein, schon wegen des menschlichen Dramas, das die Aufführung einer Gerichtsverhandlung bietet. "Jenseits von Schuld" bewegt sich jenseits einer solchen Dramatik, der Film ist mit den Mitteln der Dokumentation die psychologische Analyse eines Zustandes, den man als das tiefste Unglück bezeichnen kann, in das schuldlose Menschen geraten können. Dass die grundlegenden Ansprüche an einen Film, vor allem die Entwicklung einer Handlung und damit eines Spannungsbogens dabei suspendiert werden, muss in Kauf nehmen, wer den Film anschaut. Das mussten auch die Macherinnen akzeptieren, als sie sich entschlossen, den Film zu drehen.

infobox: "Jenseits von Schuld", Dokumentation, Regie und Buch: Katharina Köster, Katrin Nemec Kamera: Tobias Tempel, Produktion: Trimafilm (ZDF-Mediathek, seit 22.9.25, ZDF, 22.9.25, 23.55-1.20 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 22.09.2025 11:15

Barbara Sichtermann

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KZDF, Dokumentation, Köster, Nemec, Kleines Fernsehspiel, Sichtermann

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