Sex in Bildern und als Metapher - epd medien

02.10.2025 08:45

Wie schafft es eine fiktionale Produktion, Hypersexualität so darzustellen, dass der Protagonist in seinem Zerstörungstrieb nicht verachtenswert scheint? "Naked" zeigt es. Mit einer Vielzahl von Mitteln und zwei herausragenden Hauptfiguren.

Die ARD-Serie "Naked" dreht sich um ein Tabuthema

Marie (Svenja Jung) lernt Luis (Noah Saavedra) auf einer Karnevalsfete kennen

epd Hypersexualität, auch Sexsucht genannt, wurde 2019 von der Weltgesundheitsorganisation als Krankheit anerkannt. Es gibt Therapien und Selbsthilfegruppen. Wie hoch Heilungsrate und Rückfallquote sind, scheint nicht gesichert. Scham und Schuldgefühl, Leidensdruck, mangelnde Aufklärung und Einsicht fügen sich zu einer Gemengelage, die zwangsläufig in die Heimlichkeit führt. Hypersexualität ist ein Tabu. Ein Mann hat einen Wahnsinnstrieb? Beneidenswert. Eine Frau hat mit zahlreichen Männern Sex? Ein Geschenk für die Porno-Industrie. Oder?

Man kann sich nun fragen, ob die Welt eine Serie zum Thema Sexsucht braucht, eine wie den ARD-Sechsteiler "Naked". Ist Hypersexualität, aller wünschenswerten Enttabuisierung zum Trotz, nicht doch ein Nischenphänomen? Etwas, das vom Alltag selbst jüngerer promiskuitiver Zuschauer so weit entfernt ist wie die eigene Existenz als ehemaliger V-Mann der Polizei? Auch davon gibt es ja überproportional viele im deutschen Fernsehkrimi.

Bewusst eingesetzte Mittel

Das würde als Argument vielleicht zählen, wenn sich die Serie "Naked" in ihren rund 45-minütigen Episoden auf filmische und darstellerische Affirmation beschränkte, und selbst dann käme es auf das Wie an. Auf die Präzision der Beobachtung, auf den Versuch, der Darstellung filmisch "Luft" zum Denken zu geben. Der unmittelbare Fallstrick ist die Möglichkeit des Voyeurismus. Wie schafft es eine Produktion außerdem, Hypersexualität so darzustellen, dass der Protagonist in seinem Zerstörungstrieb nicht verachtenswert scheint? Wie kann es gelingen, die fiktionale Balance von Drama, Information und Darstellung von Sexsucht richtig hinzubekommen?

"Naked" schafft das mit einer Vielzahl bewusst eingesetzter Mittel. Vor allem aber schafft die Serie das durch die herausragende Besetzung der beiden Hauptfiguren Marie und Luis mit Svenja Jung und Noah Saavedra. Sie konnten mithilfe einer Intimitätskoordinatorin (Philine Jansen) sowie mit Unterstützung von Regisseurin Bettina Oberli und Kameramann Julian Krubasik sichtbar Vertrauensräume und -situationen entstehen lassen, in denen eine Vielzahl von unterschiedlichen, jeweils situationsangemessenen Sexszenen entstanden sind.

Sex hat nicht immer mit Nähe zu tun

In den Sexbegegnungen von Marie und Luis sieht man unterschiedliche Körpersprachen - mit gegenseitiger Öffnung, mit Begehren, mit Machtdemonstration, Objektifizierung und sich bahnbrechender Zerstörungswut. Was man auch sieht: Sex hat natürlicherweise mit Grenzüberschreitungen zu schaffen, aber nicht automatisch mit Nähe. Solche Vielfalt an Sexszenen mit je eigener Choreographie und genau bedachter Bildsprache, dabei kaum voyeuristisch, hat man im deutschen Fernsehen wohl noch nicht gesehen.

Sex dominiert hier zwar immer wieder die Bilder, kann aber gleichzeitig als Metapher gelten. Für die Dichotomie von Verlangen und Bürgerlichkeit. Oder persönliche Sinnleere und gewünschte Verbindlichkeit der menschlichen Beziehungen.

Als Marie zu Beginn von "Naked" Luis auf einer Karnevalsfeier kennenlernt, scheint sich die übliche Sache anzubahnen. Sie im Nonnenkostüm und mit Schleier trifft auf ihn, als Vampir verkleidet. Anziehungskraft, quasi-animalisch, ein Kuss, fast ein Biss, bei Shots an der Theke, ein Knutschfleck wie ein Kainsmal, dann geht es zum Liebesspiel in seine supercleane, unpersönliche Wohnung. Er stoppt, als Bilder wilder Rammelei vor seinem (und unserem) Auge aufflackern. Geht in die Küche, sie schläft ein, er bettet sie zärtlich. Sie wacht wieder auf, weil er von hinten in die Schlafende eingedrungen ist. "Eine Vergewaltigung", sagt Maries beste Freundin und Wohnungspartnerin Lilith (Malaya Stern Takeda) später sachlich. Marie dagegen schwärmt von dem Augenblick, bezeichnet ihn als Moment vollkommenen Einverständnisses. Sie ist belebt, er will mehr, eine Beziehung nimmt ihren Anfang.

Eine Serie, der vieles gelingt

Es gibt Irritationen, Luis scheint (über)impulsiv, Marie hat Verantwortung für einen Sohn, ist froh, der Kontrolle ihres Ex nicht mehr ausgesetzt zu sein. Er verkauft seine Ideen in einer Werbeagentur unter hohem Erfolgsdruck, sie wollte zwar Künstlerin werden, scheint aber nun zufrieden als Kunstlehrerin.

Die Serie setzt deutliche (manchmal überdeutliche) Rollen- und Handlungsmarker. Marie, so Lilith, kann schwer Grenzen setzen. Ihre Mutter (Juliane Köhler) ist eine dominierend-manipulierende Nervensäge, der Marie nichts abschlägt. Der Vater war abwesend, der Bruder führt ein sogenanntes Bilderbuchleben. Bei Luis ist die Mutter früh gestorben, der Vater (Karl Markovics) schwerer Alkoholiker, der schwule Bruder (Jonathan Berlin) mit Identitätssuche und Vaterkümmern belastet. Luis hat sich dem entzogen, lebte vor Marie mit seiner früheren Freundin Verena (Hanna Hilsdorf) Frustrationen mit hartem einvernehmlichem Sex aus, nun hat sie ihn angezeigt.

Der kurze Abzweig zur "Metoo"-Debatte und das Gespräch von Luis mit einem auf Sexualstrafrecht spezialisierten Anwalt scheint zwar für öffentlich-rechtliche Ausgewogenheitsgrundsätze angezeigt, nimmt der Serie aber zeitweise etwas von ihrer eindrücklichen Radikalität. Der Fokus von "Naked" ist aber ein anderer. Es geht nicht nur um Abhängigkeit, sondern wesentlich um Co-Abhängigkeit. Die Beziehung von Marie und Luis wird toxisch, sie versucht, ihn zu retten, durch Kontrolle, gemeinsame Therapie, mitmachen, weitere Grenzüberschreitungen. Er erkennt, dass es mit "Beherrschung" in Suchtfällen nicht getan ist. Trotz leichter Schwächen der Überdeutlichkeit gelingt es "Naked" ein bildstarkes Exempel zu sein für die Zerstörungskraft einer Sucht, die niemanden allein betrifft.

infobox: "Naked", sechsteilige Serie, Regie: Bettina Oberli, Buch: Silke Eggert, Sebastian Ladwig, Kamera: Julian Krubasik, Produktion: Fandango Film TV GmbH (ARD-Mediathek/WDR, seit 2.10.25, ARD, 3.10.25, Folge 1, 23.45-0.30 Uhr, 4.10.25, Folgen 2 und 3, 0.35-2.10 Uhr, 5.10.25, Folgen 4, 5 und 6, 0.55-3.15 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 02.10.2025 10:45

Heike Hupertz

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, KWDR, Serie, Oberli, Eggert, Ladwig, Hupertz

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