Heimathafen Ostdeutschland - epd medien

07.10.2025 08:10

In der ZDF-Reportage "Mein Erbe der Einheit" stellt Angela Giese zwei nach der Wende geborene junge Erwachsene vor, die den gängigen Klischees vom Osten trotzen wollen. Doch ihre Darstellung blendet Teile der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit aus.

ZDF-Reportage "Mein Erbe der Einheit" über Nachwende-Kinder

Dennis an dem See, an dem er in seiner Jugend die Sommer verbrachte

epd Sechs flache Teller mit Goldrand, eine Schüssel, eine Pudelmütze. Gegenstände aus "Karton Nummer 7", den Jules Großeltern mitnehmen durften. Aufgezeichnet in Listen über das sogenannte "Ausreisegut", das von der Staatssicherheit überwacht wurde. Es ist eine der stärksten Szenen in "Mein Erbe der Einheit", wenn Enkelin Jule in den historisch gewordenen Dokumenten ihrer Großeltern blättert, die Ende der 1980er Jahre mit dem Zug von Rostock in den Westen fuhren. Es fühlte sich an wie ein Abschied für immer: Niemand wusste damals, dass wenige Jahre später die Mauer fallen würde. Die Beweggründe der Großeltern für ihre Flucht aus der DDR bleiben im Film offen, ihr Erbe aber besteht fort in Papieren.

Um dieses Erbe geht es: Zwei junge Menschen, Jule und Dennis, stehen im Zentrum der ZDF-Reportage von Angela Giese, erinnern sich an ihr Aufwachsen, zeigen ihr Engagement für einen lebenswerten Osten. Beide haben in Westdeutschland studiert und sind aus freien Stücken zurückgekommen. Beide sind lange nach dem Ende der DDR geboren worden und kennen die Wendejahre nur aus Erzählungen, aber beide setzen sich mit den Folgen der Wiedervereinigung auseinander, beide kämpfen. Gegen das Klischee des grauen und gesellschaftlich kalten Teils der Republik - und somit auch gegen die Unwissenheit über ihre Heimat, mit der sie während ihres Studiums an westdeutschen Universitäten konfrontiert waren.

Versöhnliche Erinnerungen

Dennis sieht sich als "Kind internationaler sozialistischer Liebe". Seine Eltern kamen als Vertragsarbeiter aus Polen und Mosambik in die DDR und lernten sich in einer "Broilerbude" kennen, in einem Hähnchengrill also. Geboren wurde Dennis in Senftenberg in der Lausitz. Das Gefühl, um seine Heimat kämpfen zu müssen, kannte er von Anfang an, denn: "Ein schwarzer Mann kann kein Deutscher sein." Er erinnert sich an eine Szene aus seiner Kindheit, als er von Neonazis in Springerstiefeln durch die Plattenbausiedlung gejagt wurde, sich in einem Busch versteckte und, wie er selbst sagt, sich zum ersten Mal von seinem Leben verabschiedete.

Die Reportage setzt dieser animiert dargestellten Gewaltszene versöhnliche Erinnerungen entgegen: Sie begleitet Dennis zum See, an dem er mit seinen Freunden die Sommer verbracht hat, in das Jugendzentrum, wo er die Winter über mit seinen Kumpels Billard spielte. Dennis ist heute Mitte 30, lebt in Leipzig, arbeitet als Podcast-Moderator und Diversity-Manager und bricht eine Lanze für das Leben im Osten: "Wenn alle anderen Identitäten unsicher sind: In diesem Hafen kann ich mir sicher sein, da gehöre ich dazu."

Auch für Jule spielt die ostdeutsche Identität und das Erbe der Vergangenheit eine prägende Rolle: Der Film begleitet ihren Umzug von Wuppertal zurück nach Erfurt, wo sie sich unter anderem in einer Initiative engagiert, die ostdeutsche Stimmen sichtbarer macht und ein von ihr entwickeltes Spiel promotet: "Oh! wie Osten - das Gesellschaftsspiel, das vereint."

Wir müssen hier weiterkämpfen.

Der Dokumentation gelingt es, das Vereinende und Verbindende sichtbar zu machen. Zwei engagierte junge Menschen vorzustellen, die in Ostdeutschland ihren Heimathafen wiedergefunden haben, die sich nicht abfinden wollen mit dem Narrativ eines Ostens der Frustrierten und Abgehängten. Die größte Stärke ist zugleich auch die Schwäche des Films: Jule und Dennis stehen so sehr für ein alternatives Gegenklischee, dass die Dokumentation selbst wieder klischeehaft gerät.

Die gesellschaftliche Polarisierung, der Rechtsruck unter jungen Leuten und das mitunter vergiftete Klima des öffentlichen ostdeutschen Diskurses kommen, wenn überhaupt, nur am Rande vor. Vor lauter Begeisterung für das Engagement dieser Nachwende-Kinder blendet "Mein Erbe der Einheit" die gesellschaftliche wie politische Wirklichkeit ein Stück weit aus. "Wir müssen hier einfach weiterkämpfen", erklärt Dennis fast trotzig. Aber was ist das gegenwärtig für ein Kampf? Gern hätte man zum Beispiel erfahren, was Dennis über eine mögliche absolute Mehrheit für die AfD nach der nächsten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Jahr 2026 denkt.

Das Unbehagen wird nur am Rande oder in Liedzeilen verhandelt. So endet der Film mit gesungenen Sätzen aus dem Song "Schlecht geträumt" des Sängers Jassin: "Faschisten werden munter, schreien laut." Auch das ein Erbe der Einheit, über das man gern mehr erfahren hätte, das uns aber so nur als abstrakte Drohung über den Abspann hinaus begleitet.

infobox: "37°Leben: Mein Erbe der Einheit", Regie und Buch: Angela Giese, Kamera: Moritz Bauer, Basti Baumöller, Produktion: Vollprogramm Media (ZDF-Mediathek seit 26.9.25, ZDF, 28.9.25, 9.03-9.30 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 07.10.2025 10:10 Letzte Änderung: 07.10.2025 11:23

Martin Becker

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KZDF, Giese, Reportage, Einheit, Becker, NEU

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