10.10.2025 07:45
ARD-Serie "Hundertdreizehn"
epd "Was glaubst du, wenn einer verunglückt, wie viele Leute sind davon betroffen?", fragt in dieser Serie einmal ein Kriminalpolizist seinen Kollegen. Die Beamten ermitteln im Fall eines verheerenden Reisebus-Unfalls mit zahlreichen Todesopfern. "50, 60?", lautet die geschätzte Antwort - und liegt deutlich zu niedrig. Nach einer Untersuchung des Bundesverkehrsministeriums sind es 113 Menschen, deren Leben von einem solchen Ereignis beeinflusst und verändert wird: Familienangehörige, Freunde, Einsatzkräfte, Augenzeugen. Diesen statistischen Wert nutzt Drehbuchautor Arndt Stüwe als Ausgangspunkt und dramaturgische Klammer für diesen Sechsteiler, der getreu dem Leitmotiv "Wir sind alle verbunden" Einzelschicksale erzählt, die mit der Katastrophe verquickt sind.
Die Auftakt-Episode "Theo" stellt zunächst den zum Dienst aufbrechenden Busfahrer (Felix Kramer) und seine Familie vor - und wartet gleich mit einem Doppelschlag auf: Als Theos Lebensgefährtin Riccarda (Anna Schudt) mit der gemeinsamen Teenager-Tochter Ela (Eva Marlen Hirschburger) aus den WDR-Nachrichten von der Massenkarambolage erfährt, muss sie nicht nur den Tod ihres Partners verkraften. Bei der Identifikation des Leichnams trifft sie zudem auf eine weitere Angehörige. Offenkundig hatte Theo am Reiseziel Graz eine zweite Gefährtin, Caro (Patricia Aulitzky), und auch eine zweite Tochter in Elas Alter: Salma (Allegra Tinnefeld).
Liegt in dem geheimen Doppelleben die Erklärung für die Unfallursache? "Kein Herzinfarkt, keine Drogen, kein Alkohol", befindet die Pathologie zu Theo. Was aber ließ ihn dann durch die Leitplanke einer nicht näher verorteten Stadtautobahn brechen, auf die Gegenfahrbahn geraten, durch einen Tunnel rasen und sich über 200 Meter durch die entgegenkommenden Fahrzeuge pflügen? Wurde er erpresst? Und mit wem telefonierte er, wie ein Video zeigt, kurz vor der Abfahrt?
Die Rekonstruktion des Unfallhergangs, der aus verschiedenen Perspektiven immer wieder in Flashbacks bruchstückhaft visualisiert wird, durchzieht als überwölbendes Element alle Folgen. Auch die hinterbliebenen Frauen und ihre Töchter, die sich vorsichtig annähern, sind durchgängig präsent. Ebenso wie die beiden zentralen Ermittlerfiguren: Der sensible Kripo-Kommissar Jan Auschra (Robert Stadlober), dessen Hund auf den Namen Petergabriel hört, bekommt eine toughe Kollegin vom Bundeskriminalamt an die Seite gestellt, die auf "Selbstmordattentate, Amokfahrten und solche Sachen" spezialisiert ist. Die eigenwillige Anne Goldmundt (Lia von Blarer) schlägt in dem zum Lagezentrum umfunktionierten Hangar, in dem die Polizei das Buswrack untersucht und Beweismittel sammelt, kurzerhand ihr Feldbett auf: "Is ’ne Schrulle, nicht abschrecken lassen."
Die Inszenierung gibt den Protagonisten der einzelnen Folgen breiten Raum. In Teil zwei, "Richard", gehört die Bühne Armin Rohde, der anrührend einen an Alzheimer erkrankten Speditionsunternehmer und Augenzeugen verkörpert. Teil drei konzentriert sich ganz auf die Geschichte des Feuerwehrmanns Jesper (Max von der Groeben), der beim Einsatz an der Unfallstelle von einem Kindheitstrauma eingeholt wird.
Ein bisschen läuft "Hundertdreizehn" Gefahr, in Einzelfilme zu zerfallen - zumal auch die Folgen vier und fünf - Friederike Becht als Überlebende Clara, die von Schuldgefühlen geplagt wird, Antonia Moretti als von ihrer eigenen Hochzeit geflüchtete Braut Sofia, die nach dem Unfall an Amnesie leidet - sehr im Zeichen ihrer jeweiligen Heldin stehen.
Regisseur Rick Ostermann legt weitere Querverbindungen zwischen den Figuren. So treffen sich Clara und Richard in einer Praxis für Alzheimer-Patienten, weil auch Claras Mutter dort behandelt wird. Und er beschwört die Auseinandersetzung mit den ganz großen Themen - Tod, Verlust, Trauer, Traumata, Schuld, Vergebung - als roten Faden, als inneren Zusammenhang der Geschichten. Jede Episode klingt musikuntermalt minutenlang aus, am Ende rückt die nächste Hauptfigur ins Bild. Im Ergebnis liegt die Anmutung des Mehrteilers irgendwo zwischen effektheischender Ferdinand-von-Schirach-Versuchsanordnung und gefühliger Anthologieserie.
Gut gelungen ist es den Machern, mit Wendungen und falschen Fährten die Spannung in der Frage nach dem "Warum?" hochzuhalten. Erst in der letzten Folge "Nuriel", in der sich zwei junge Männer (Benedikt Kalcher, Simon Löcker) von der Titelheldin (Maeve Metelka) als Drogenkuriere einspannen lassen, gibt es darauf eine Antwort. Mit einer radikalen Schlusspointe, die tiefschwarz und erleichternd zugleich ist.
infobox: "Hundertdreizehn", sechsteilige Dramaserie, Regie: Rick Ostermann, Buch: Arndt Stüwe, Kamera: Ralph Kaechele, Produktion: Windlight Pictures, Satel Film (ARD-Mediathek/WDR/ORF/Degeto, ab 10.10.25, ARD, 14. und 15.10.25, jeweils 20.15-22.30 Uhr)
Zuerst veröffentlicht 10.10.2025 09:45
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, KWDR, Luley
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