12.10.2025 08:11
Hörspiel "Imiona nurtu. Die Namen der Strömung"
epd Als Imre Kertész 2002 in Stockholm den Nobelpreis für Literatur erhielt, erinnerte der ungarische Schriftsteller an einen früh verstorbenen polnischen Kollegen: Tadeusz Borowski. Dessen Werk, so Kertész, sei für ihn ein Schlüssel gewesen für sein Verständnis der "Entmenschlichung" in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kertész brachte mit Werken wie "Roman eines Schicksallosen" die Realität des Massenmords in glasklarer Kälte ins aufdämmernde Bewusstsein seiner Leserinnen und Leser. Aber "Verständnis"? Kann man wirklich verstehen, woher diese Entmenschlichung kommt und wieso sie möglich war? Wie müssen ein Blick und eine Sprache beschaffen sein, um die industrielle Auslöschung von Millionen von Menschen fassbar zu machen?
Was an Unvorstellbarem künftig verhindert werden soll, muss - und das ist das Paradoxe - vorstellbar sein. Bekanntlich ringen alle Künste um diese Frage der Darstellbarkeit. Ästhetische Konzepte der überzeugenderen Art weisen dem Auslöschen und Weglassen selbst eine wesentliche Rolle zu. Wie in Claude Lanzmanns Dokumentarfilm "Shoah" (1985), wo kein einziger Leichnam zu sehen ist. Oder wie zuletzt in Jonathan Glazers Spielfilm "The Zone of Interest" (2023), wo das Grauen aus dem Kontrast entsteht zwischen dem sichtbaren bürgerlichen Idyll, das sich einer der Mörder direkt neben dem Vernichtungslager eingerichtet hat, und den Gräueln, die einzig auf der Tonspur stattfinden und sich so ihren Weg in die Vorstellbarkeit bahnen.
Über das Akustische und durch die Montage scharf kontrastierender Elemente erreicht auch der Autor und Regisseur Kai Grehn in seinem Hörspiel "Imiona nurtu. Die Namen der Strömung" mehr, als es jede Geschichts-Reportage im Fernsehen leisten könnte. Sein Konzept ist einfach: Er lässt Gedichte Borowskis von zwei Schauspielern sprechen, Alexander Fehling und - auf Polnisch - Rafael Stachowiak, und unterlegt sie mit jenem Rauschen, das hochempfindliche Aufnahmegeräte in den Häftlingsbaracken des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz II-Birkenau heute verzeichnen.
Zwischen die Gedichte montiert er Aufzählungen von Namen und Lebensdaten: Grehn hat Menschen aus aller Welt, darunter Besucherinnen und Besucher der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, darum gebeten, aus den "Sterbebüchern von Auschwitz" vorzulesen. Mit bürokratischer Akribie hatten die Täter dort die Namen der Opfer verzeichnet. Es sind mehrere Dutzend Bände.
Ich wollte die Gedichte durch mich durchströmen lassen.
Fehling spricht wie ein Schlafwandler, müde und doch gespannt, als bewege sich seine tastende Stimme dem Sterben zu wie einem zu erkundenden Rätsel. Im Interview mit Pia Frede, die das Hörspiel redaktionell betreute, sagt der Schauspieler, das Wort "Strömung" sei für ihn "eigentlich zum entscheidenden Begriff" geworden bei dieser "grausam schönen" Arbeit: "Ich wollte die Gedichte nicht vortragen oder interpretieren, sondern sie durch mich durchströmen lassen und versuchen, ihren ganz besonderen Klang zu bewahren." Das gelingt ihm ohne falsche Innerlichkeitsbehauptung. Fehling ist geradezu die Idealbesetzung.
Autor und Regisseur Kai Grehn, Jahrgang 1969 und seit vielen Jahren mit Hörspielen zu Kafka, Hölderlin, Austen oder Walser präsent, beweist erneut sein klangliches Gespür für Sprache und seine Fähigkeit, beim Übersetzen geschriebener Denkbewegungen ins Akustische tief in ein Werk einzutauchen. Im Gegensatz zu den Borowski-Gedichten, die in ihrer metaphernreichen Bildsprache mehrdeutig und offen sind und im Polnischen von Rafael Stachowiak noch zarter wirken, werden die Namenslisten zu geschlossenen Mikro-Erzählungen. Es sind brutal eingedampfte biografische Pixel, mit einem Anfang irgendwo in Europa und mit einem immer gleichen Schluss in Auschwitz.
Borowskis Verse blicken ungeschönt auf die Vernichtung von Individualität und sind als Kunstwerk zugleich ein Einspruch gegen jede technokratische, tödliche Erstarrung. Die geschrumpfte Welt, in der sein lyrisches Ich gefangen ist, enthält doch alles, das ist sein Triumph und seine Würde: "Ich beug’ mich über die Nacht wie über ein Gesicht, ein Gesicht, das ich nicht erinnere." Der Widerschein des Himmels, grünlich, erinnert ihn an fernes Gras, das als gespeichertes Licht doch auch die eigenen Adern durchpulst. Dieses Ich gibt die Welt in sich nicht auf.
Auf unheimliche Art nimmt Borowski kommende Zeiten vorweg: Eines Tages, schreibt er, würden "wir" - meint er schon uns? - auf dem Gelände der Tötungsanstalten Erinnerungsstücke suchen, doch finden würden wir "Geröll und Gras". Wir würden "den Vorübergehenden in die Augen sehen, Ausschau halten nach denen, die ins Gas gingen; finden werden wir heitere Mienen und nichtssagende Gesichter (...) Wir werden die Erde absuchen nach den brennenden Herzen; finden werden wir Menschen innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern." Künftige Gleichgültigkeit war für ihn schon im Moment des Geschehens vorstellbar.
Grehn gelingt es, das Verhältnis zwischen den Sprechenden und Lebenden, den Toten und Schweigenden zum Schwingen zu bringen. Wir hören Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer, jung und alt, mit Dialekteinfärbungen, auf Englisch oder Polnisch, Niederländisch, Hebräisch oder Italienisch: So könnten auch die Stimmen derjenigen geklungen haben, deren Namen verlesen werden. Diese Lesenden, Lebenden sind Echos und Spiegel, sind Beteiligte. Borowski überlebte Auschwitz und Dachau, doch 1951 setzte der erst 28-Jährige seinem Leben selbst ein Ende. "Ich griff nach dem Tod wie nach einem Buch; vergiss das nicht", spricht Alexander Fehling. Auch das: Mahnung und Trost, und sie fließen ineinander.
infobox: "Imiona nurtu. Die Namen der Strömung", Hörspiel-Oratorium unter Verwendung der "Sterbebücher von Auschwitz" und von Gedichten Tadeusz Borowskis, Regie: Kai Grehn (ARD-Audiothek/SWR seit 4.10.25, SWR Kultur, 5.10.25, 23.03-0.25 Uhr)
Zuerst veröffentlicht 12.10.2025 10:11
Schlagworte: Medien, Kritik, Radio, Kritik.(Radio), KSWR, Hörspiel, Auschwitz, Grehn, Borowski, Lutz
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