Vor allen bloßgestellt - epd medien

17.10.2025 08:10

Die ARD-Thrillerserie "Schattenseite" bleibt zuweilen etwas unterkomplex - zu viele Tabus werden nur angerissen. Jedoch ist sie auch ein Appell, Jugendliche und ihre Sorgen ernst zu nehmen - bevor es ein Erpresser im Internet tut.

ARD-Thrillerserie "Schattenseite"

Flavio (Marven Gabriel Suarez-Brinkert, 2. v. re.) wartet vor dem Lehrerzimmer auf ein Verhör mit der Polizei.

epd Dass die Handlung einer Coming-of-Age-Geschichte damit beginnt, dass ein Teenager an einen neuen Ort zieht und sich dort an einer neuen Schule zurechtfinden muss, ist ein häufig gebrauchter Einstieg in Jugendserien. Die Serie "Schattenseite" schickt diesem Beginn der Handlung allerdings noch eine zunächst zusammenhanglose Szene voraus: Sie zeigt einen Jugendlichen, der vom Dach eines Hauses fällt und auf der Straße aufprallt.

Es handelt sich um Linus (Philip Günsch), einen Schüler aus Vresow. In dieses Dorf ist die 18-jährige Nola (Samirah Breuer) mit ihrer alleinerziehenden, bei der Polizei arbeitenden Mutter Julia (Sithembile Menck) gezogen. An Nolas erstem Tag an ihrer neuen Schule gedenken die Schüler des kurz zuvor verstorbenen Linus. Von unerwartetem Suizid und mentalen Problemen ist die Rede. Während der Trauerfeier erscheint auf den Handys der Schüler plötzlich eine Webseite namens "Schattenseite", die ankündigt, Intimes über die Schüler zu veröffentlichen, sobald genug Seitenaufrufe erreicht sind. Es beginnt ein sensationslüsternes erpresserisches Spiel, das vor keinem Schüler haltzumachen scheint.

Wer ist der Erpresser?

Ohne zu wissen, wer hinter der "Schattenseite" steckt, sind die Schüler den Leaks des Erpressers ausgeliefert. Die Beziehung eines Oberstufenschülers zu einer 13-Jährigen wird öffentlich, die geheim gehaltene Sexualität eines anderen Schülers auch. Auch Nola gerät ins Visier der Schattenseite und könnte sich vor den drohenden Leaks ihres auch den Zuschauern unklaren Geheimnisses nur retten, indem sie dem Erpresser Informationen über andere Schüler liefert. Gemeinsam mit Linus' bestem Freund Corvin (sehr glaubwürdig gespielt von Florian Geißelmann) versucht sie herauszufinden, wer der Erpresser ist.

Die "Schattenseite" scheut sich nicht davor, bislang geheim gehaltene Bulimie, Beziehungen und Schwangerschaften öffentlich zu machen. Auch Mobbingtäter werden bloßgestellt, etwa Simon (dargestellt vom unpassend alten Ludger Bökelmann), der Linus einst vor laufender Kamera gewürgt hat. Angesichts der schwerwiegenden Einbrüche in die Privatsphäre der Schüler verwundert es, wie taten- und machtlos Lehrer, Schulleiter und Behörden stellenweise sind - ein Fingerzeig auf fehlende Unterstützung von Cyber-Mobbing-Opfern.

Die Tiktok-Strategie

Der Fortschrittsbalken auf der "Schattenseite", der anzeigt, welcher Schüler als nächstes bloßgestellt werden soll und wie viele Aufrufe noch bis dahin nötig sind, ist auf zwei Weisen clever eingesetzt: Einerseits versetzt er die Schülerschaft, vor allem aber den jeweils betroffenen Schüler, ständig in Aufruhr, andererseits signalisiert er dem Publikum, dass die nächste Enthüllung bevorsteht. So verachtenswert und unwürdig dieses Anteasern intimer Informationen für die Schüler auch ist - die Neugier und Sensationslust des Zuschauers wird damit fortwährend bedient. Die aus Tiktok-Streams bekannte visuelle Strategie zur Zuschauerbindung wird hier zur folgenübergreifenden Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit eingesetzt. Damit schaffen die sechs rund 40 Minuten langen Folgen beste Bedingungen, in einem Rutsch angeschaut zu werden.

Dass die Schüler nicht nur in Mobbingtäter und -opfer eingeteilt werden, sondern ihre vielschichtigen individuellen Probleme und Bewältigungsstrategien erzählt werden, macht die Figuren weitaus komplexer. Viele Missstände im Inneren der Jugendlichen, aber auch in ihren ambivalenten Beziehungen zu Liebespartnern, Freunden oder Eltern sind lange Zeit unausgesprochen geblieben. Die "Schattenseite" ist sich dessen bewusst und hetzt die Schüler mithilfe intimer Details raffiniert aufeinander.

Ungewollte Offenbarung

In dieser spannenden, in der Farbgestaltung eher melancholischen Thrillerserie sind zwar eine Vielzahl unangenehmer, oft tabuisierter Themen platziert, doch eine tiefergehende Auseinandersetzung mit ihnen findet kaum statt. Eher wirkt "Schattenseite", das auf dem 2019 erschienenen Roman des Webvideoproduzenten Jonas Ems basiert, wie ein Querschnitt der aus Scham verheimlichten Leiden junger Menschen, die - um der bösartigen Absicht der Webseite etwas Gutes abzugewinnen - durch die ungewollte Offenbarung wenigstens aussprechbar werden.

Die geheim gehaltenen Sorgen und Anliegen junger Menschen werden so immerhin thematisiert, anstatt sie zu unterdrücken. "Schattenseite" ist somit auch ein Appell, Jugendlichen interessiert zuzuhören - bevor dies ein Erpresser tut.

infobox: "Schattenseite", sechsteilige Thrillerserie, Regie: Özgür Yildrim, Alison Kuhn, Buch: Hanna Hribar, Jonas Ems, Kamera: Matthias Bolliger, Produktion: Dreamtool Entertainment (ARD-Mediathek/Degeto/HR/Funk ab 17.10.25, ARD, 26.10.25, 21.45-23.10 Uhr und 0.00-2.45 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 17.10.2025 10:10

Lukas Respondek

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, Serie, Respondek, Yildrim, Kuhn, Hribar, Ems

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