09.11.2025 09:30
ARD-Dokudrama "Nürnberg 45 - Im Angesicht des Bösen"
epd Der Hauptkriegsverbrecherprozess von Nürnberg wurde vor 80 Jahren über etliche Monate hinweg verhandelt. Vor Gericht standen Nazi-Größen wie Martin Bormann, Karl Dönitz, Rudolf Heß und Hermann Göring. Sie und ihre letzten Getreuen sprachen von Siegerjustiz, der Rest der Welt feierte diesen ersten Versuch, die Planer und Vollstrecker eines Angriffskriegs zur Verantwortung zu ziehen, als Durchbruch im internationalen Recht. Heute wünscht man sich, es gäbe eine solche Institution noch oder wieder und sie hätte einen langen Arm, um im Falle eines Falles einzugreifen. Ein doppelter Anlass also für Filmemacher, an die Nürnberger Prozesse zu erinnern: einmal, weil sie ein Novum in der Geschichte waren, zum anderen, weil wir gerade wieder sehen, wie nötig ein Gericht wäre, das Aggressoren fürchten müssten.
Dirk Eisfeld, der das Drehbuch schrieb und Carsten Gutschmidt, der Regie führte, entschieden sich bei "Nürnberg 45 - Im Angesicht des Bösen" für das Genre des Dokudramas. Die Atmosphäre der Nachkriegszeit wird durch bearbeitete Archivmaterialien heraufbeschworen, die Ansprache an das Publikum von heute durch Aussagen von Zeitgenossen sichergestellt, dazwischen sorgen fiktionalisierte Spielszenen für Spannung und Empathie.
Hauptfigur ist der Auschwitz-Überlebende Ernst Michel (Jonathan Berlin), der als 22-jähriger Journalist kurz nach seiner Befreiung aus dem Lager für die alliierte Nachrichtenagentur DANA in Nürnberg dabei ist - als jüngster Prozessbeobachter. Außerdem im Zentrum: Seweryna Szmaglewska, eine 29 Jahre alte Polin, die im KZ Birkenau Zwangsarbeit geleistet hat und im Prozess als Zeugin aussagen soll. Auszüge aus einem Interview mit Michel aus dem Jahr 2005 machen mit dem "echten" Michel bekannt, außerdem kommt seine Tochter Lauren zu Wort. Szmaglewska wurde in Polen zu einer bekannten Schriftstellerin, ihr Werk "Die Unschuldigen" über den Nürnberger Prozess war eine der Vorlagen für dieses Dokudrama.
Als vor ein paar Jahrzehnten das Format Dokudrama erfunden wurde, hieß es, das geht niemals gut, Archivaufnahmen, Spielszenen und Interviews - das passt nicht zusammen. Passt aber doch. Nach und nach haben Filmemacher, die dieses Genre mögen, dazugelernt, und "Nürnberg 45" ist geradezu ein Musterbeispiel für außerordentliche Geschmeidigkeit, mit der hier die Bildstrecken aus so unterschiedlichen Quellen miteinander verschränkt werden.
Ich bin froh, dass er das Böse loslassen konnte, ohne zu hassen.
Vor allem bestechen die (bearbeiteten) Gerichtsszenen, in denen man tatsächlich die Hauptkriegsverbrecher auf ihren Anklagebänken sieht, arrogant sich räkelnd, als wären sie immer noch am Drücker und als Antwort auf die Frage: Wie bekennen Sie sich? ihr "Nicht schuldig!" hervorstoßend, als kämen sie gerade aus der Offiziersmesse.
Der junge Michel schaut sich das an, bleich, gebannt, ungläubig, aber es gelingt ihm dennoch, interessante Artikel zu publizieren, denn der Hauptangeklagte Hermann Göring (Francis Fulton-Smith) äußert seinem Anwalt Otto Stahmer gegenüber einen ganz besonderen Wunsch. Stahmer (Wotan Wilke Möring) nimmt Michel beiseite: Sein Klient wünsche ihn zu sprechen. Michel erstarrt. In der Szene, in der er dann tatsächlich von Stahmer in die Zelle geführt wird, in der Göring ihn erwartet, liefert Jonathan Berlin eine Glanzleistung ab. Niemand anders als ihm will Göring ein letztes Interview geben. Als Journalist hätte er zugreifen müssen, aber als Mensch, der Furchtbares durchstehen musste, kann er das nicht. Er macht kehrt und geht weg. Seine Tochter Lauren sagt über ihn: "Ich bin froh, dass er das Böse loslassen konnte, ohne zu hassen."
Wo sind diese Kinder?
Auch für Szmaglewska erweist sich der Prozess als Herausforderung, der sie sich nur mit Mühen gewachsen sieht. Katharina Stark spielt diese schwierige Rolle mit bewunderungswürdiger Präsenz. Szmaglewska muss warten und warten. Fast sieht es so aus, als bekäme sie keine Gelegenheit mehr, Zeugnis abzulegen, dann kann sie doch noch aussagen. Sie spricht über das Schicksal der Kinder in Birkenau. Neugeborene, die im Lager zur Welt kamen, wurden ihren Müttern sofort weggenommen. Was wurde aus ihnen? Severyna weiß es, aber sie will, dass das Gericht jetzt diese Frage stellt und ihr nachgeht: "Ich möchte heute die Deutschen fragen: Wo sind diese Kinder?" Sie hat gesehen, dass die Säuglinge lebend in die Öfen geworfen wurden.
Das Dokudrama hat nur eine Schwäche: Es steckt zu viel darin, streckenweise wirkt es atemlos, obwohl doch so viel gewartet wird. Andererseits kann man die Macher verstehen, dass sie möglichst viel unterbringen wollten. Gebrochen durch die Regeln des Prozesses, durch die Formalitäten, die in der Justiz dazugehören, wirken die Verbrechen, um die es geht, noch monströser. Diese Geschichten müssen erzählt werden, immer wieder. Und wenn es so gut gelingt wie hier, ist es, als höre und sehe man sie zum ersten Mal.
infobox: "Nürnberg 45 - Im Angesicht des Bösen", Dokudrama, Regie: Carsten Gutschmidt, Buch: Dirk Eisfeld, Kamera: Jens Boeck, Produktion: Zeitsprung Pictures, Spiegel TV (ARD/NDR/BR/SWR/WDR/RBB/MDR/HR/SR/Radio Bremen, 9.11.25, 21.45-23.15 Uhr und in der ARD-Mediathek)
Zuerst veröffentlicht 09.11.2025 10:30
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, KNDR, Dokudrama, Gutschmidt, Eisfeld, Sichtermann
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