Ideale Bedingungen - epd medien

11.11.2025 08:46

Mit seltenen Archivaufnahmen und kritischen Stimmen blickt die ARD-Dokumentation "Russlands wilde 90er" auf die Umbruchphase nach dem Zerfall der Sowjetunion. Autor Artem Demenok rekonstruiert, wie Chaos, Machtkämpfe und ein präsidentielles System den Boden für Putins Aufstieg bereiteten.

ARD-Dokumentation "Russlands wilde 90er"

Präsident Boris Jelzin und Wladimir Putin im August 1999

epd Im Herbst 1993 ist Wladimir Putin noch Vizebürgermeister von St. Petersburg. In dieser Funktion ist er auch zuständig für Handelsbeziehungen ins Ausland - weshalb ihn deutsche Unternehmer als Türöffner für gute Geschäfte sehen. Als er eines Abends eingeladen wird ins örtliche Haus der deutschen Wirtschaft, sagt er zu Beginn des Treffens in die Runde: "Wahrscheinlich wäre es besser, wenn alle Anwesenden ihre Fragen erst mal stellen würden. Dann wird unser Gespräch etwas zielstrebiger." Mit Hilfe dieses Archivfundstücks zeigt Artem Demenok in der ARD-Dokumentation "Russlands wilde 90er - Zwischen Demokratie und Putin", dass der heutige Machthaber auch in der Anfangsphase seiner politische Karriere die Richtung vorgab - sogar bei einer Veranstaltung, bei der bloß zu Gast ist.

Der in der Reihe "ARD History" ausgestrahlte Film rekonstruiert die frühen Jahre des postsowjetischen Russlands seit der Wahl Boris Jelzins zum Präsidenten im Jahr 1991 - eine Zeit, die im kollektiven Gedächtnis des Westens nicht mehr präsent genug ist. "Jelzin hat das jahrhundertealte Machtsystem nicht zerstört", sagt der Schriftsteller Wladimir Sorokin. Unter seiner Präsidentschaft entwickelt sich vielmehr ein "Raubtierkapitalismus" (Demenok), dessen Profiteure meist aus der alten Elite stammen - junge Mitglieder der Funktionärsfamilien der Sowjetzeit.

Teil des russischen Machtsystems

Als Kontrast zeigt Demenok Archivbilder aus einer Armenküche, in der Rentnerinnen und Rentner dank der Unterstützung der deutschen Caritas eine warme Mahlzeit bekommen. Im Oktober 1993 eskaliert die Lage: Ultranationalisten versuchen zu putschen, besetzen den Fernsehsender Ostankino. Bei den Unruhen stirbt der für die ARD tätige Kameramann Rory Peck.

Demenok ist es gelungen, für "Russlands wilde 90er" auch Gesprächspartner zu gewinnen, die Teil des russischen Machtsystems waren: die heute in Berlin Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann, die in der Duma, dem russischen Unterhaus, unter anderem als Assistentin von Abgeordneten arbeitete, sowie Alexander Woloschin, der erste Stabschef im Kreml unter Putin.

Schulmann zeigt sich selbstkritisch: Erst bei einer Relektüre im Jahr 2022 habe sie den Charakter der 1993 verabschiedeten russischen Verfassung wirklich erfasst. Diese sei, wie sie betont, "übermäßig präsidial" und "von tiefem Misstrauen gegenüber dem Parlamentarismus" durchdrungen. Der Aufstieg Putins kam also nicht aus dem Nichts, er fand aus seiner Sicht ideale Bedingungen vor.

Blick auf die Gegenwart

Schulman war, wie auch der Schriftsteller Michail Schischkin, als Interviewpartner bereits in Demenoks Vorgängerfilm "Putin und die Macht" zu sehen, den die ARD kurz vor Weihnachten 2024 ausstrahlte und der derzeit auch wieder in der ARD-Mediathek abrufbar ist.

In "Russlands wilde 90er" greift der zweifache Grimme-Preisträger Demenok immer wieder Interviewpassagen auf, die einen Bezug zur aktuellen politischen Lage herstellen oder den Blick auf die Gegenwart erweitern. So erinnert der Menschenrechtsaktivist Oleg Orlow daran, dass der zweite Tschetschenienkrieg, der im Oktober 1999 begann, "lediglich ein politisches Vehikel für Putins Aufstieg zur Macht" gewesen sei. "Alles, was wir jetzt in der Ukraine sehen", ähnele "sehr stark den Ereignissen in Tschetschenien" - auch wenn in der Ukraine russische Verbrechen "in einem größerem Maßstab" stattfänden.

Die Dokumentation verzichtet auf vermeintlich originelle Gestaltungsideen, wie sie in heutigen TV-Dokumentationen, auch im Geschichtsfernsehen, heute häufig zu finden sind. Artem Demenok vertraut seinem Material - seinen Gesprächspartnern und den wie gewohnt sorgfältig und präzise ausgewählten Archivaufnahmen.

infobox: "ARD History: Russlands wilde 90er - Zwischen Demokratie und Putin", Dokumentation, Regie und Buch: Artem Demenok, Kamera: Thomas Lütz, (ARD/RBB/MDR, 3.11.25, 23.35-0.35 Uhr und in der ARD-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 11.11.2025 09:46

René Martens

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), Martens, KARD, Demenok

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