19.11.2025 10:00
NDR-Hörspiel "Halbinsel" von Kristine Bilkau
epd Als ihre Tochter Linn geboren wurde, war Annett Mitte 20. Gemeinsam mit ihrem Mann Johan ist sie auf eine nordfriesische Halbinsel gezogen, hat dort ein Haus gekauft und ein Leben aufgebaut. Doch nur wenige Jahre später kehrt Johan eines Vormittags nicht vom Joggen zurück und stirbt plötzlich an einer Herzmuskelentzündung. Linn ist gerade im Kindergarten. Annett bleiben wenige Stunden, in der sie ihre Tochter in der Gnade der Unwissenheit lassen kann.
Heute ist Linn so alt wie Annett damals. Sie ist - durch und durch umweltbewegt - nach Berlin gezogen und arbeitet für ein Unternehmen, das weltweite Aufforstungsprojekte managt. Doch als sie auf einer Konferenz einen Vortrag halten soll, erleidet sie einen Schwächeanfall. Wenige Tage später ist Linn plötzlich wieder bei ihrer Mutter auf der Halbinsel. Für länger, wie sich herausstellt. Der Job war schon vor dem Vortrag gekündigt, genau wie die Wohnung. Und Mutter und Tochter stehen sich zum ersten Mal seit langem gegenüber und fragen sich, wer sie eigentlich sind und noch werden wollen.
Im März gewann Kristine Bilkaus Roman "Halbinsel" den Preis der Leipziger Buchmesse. Für die Hörspielfassung unter der Regie von Susanne Krings hat Bilkau ihren Roman selbst adaptiert, daher ist es nicht verwunderlich, dass das Hörspiel sich literarisch anfühlt. Im Mittelpunkt steht die markante Ich-Erzählerin Annett, gesprochen von Maja Schöne, ihr gelingt es herausragend, die vielen Schichten der Gefühlswelt einer Endvierzigerin abzubilden.
Da ist die Sorge um die Tochter, die sie fast alleine großgezogen hat, sparsam, immer mit dem Wunsch, alles richtig zu machen, ihr das bestmögliche Leben zu ermöglichen. Gleichzeitig der eigene Drang nach Unabhängigkeit. Der Impuls, Freiraum zu lassen auch für frische Liebe und Anziehungskraft, etwa mit dem neuen Nachbarn Levin (Béla Gábor Lenz), der deutlich jünger ist, aber mit dem es sofort funkt. Und schließlich muss Annett auch akzeptieren, dass die Vergangenheit dennoch ein Teil von ihr ist, noch immer hört sie regelmäßig die Stimme ihres verstorbenen Manns (Ole Lagerpusch), die ihr wie ein griechischer Chor liebevoll ins Gewissen redet.
Annetts Beschreibung und Reflexion der Geschehnisse bilden den Anker von "Halbinsel". Klassische Dialogszenen driften eher in die Erzählung hinein und hinaus wie die Gezeiten, die in der gesamten Geschichte immer wieder eine Rolle spielen. Nordstrand, die titelgebende, nie explizit benannte Halbinsel in der Nähe von Husum, wurde 1634 von einer Sturmflut überspült, die ganze Ortschaften und Landstriche im Meer versinken ließ. Detlev von Liliencron hielt die Katastrophe 350 Jahre später im Gedicht "Trutz, Blanke Hans" fest, das in Ausschnitten den Weg ins Hörspiel gefunden hat. Eine Halbinsel ist Nordstrand heute nur, weil es in den 1980er Jahren durch einen Polder, also dem Meer abgetrotztes Land, mit dem Festland verbunden wurde.
Die Beziehung von Annett und Linn hat Gemeinsamkeiten mit diesem Verhältnis der Halbinsel zur See. Sie haben sich voneinander wegbewegt, räumlich wie emotional, und müssen nun wieder aufeinander zugehen. Unsicher ist, wie weit sie sich wagen. In der Bewegung liegt zerstörerisches Potenzial, aber auch die Möglichkeit, Verborgenes freizulegen. Agnes (Rosa Thormeyer), eine Nachbarin von Annett und Linn, nimmt die beiden Frauen mit auf Führungen durch das Watt, in dem sich immer wieder Trümmerstücke der untergegangenen Orte finden. Bei einer Wanderung trifft die Gruppe auf ein Pferd, das sich losgerissen hat und nun galoppierend das Weite sucht. Ohne zu wissen, dass es sich nur auf temporärem Land befindet.
In weniger fähigen Händen könnten solche transparenten Metaphern schnell abgeschmackt wirken. Hier jedoch fühlen sie sich größtenteils stimmig an und lassen Annetts Beziehungswelt greifbar werden. Etwas sperriger ist Linns Teil der Geschichte geraten. Lucia Kotikova spricht Linn trotzig-abgeklärt und dennoch verletzlich. Ein Mensch, der mit der Welt nicht klarkommt und nach einem Weg für sich sucht. Eine Tochter, die ihrer Mutter viele Vorwürfe machen könnte, dies aber nie getan hat. Vielleicht, weil Linn auch weiß, dass ihre Mutter immer ihr Bestes gegeben hat.
In mehreren Szenen setzt sich Linn mit Annett hin und nimmt fast didaktisch ihr Dilemma auseinander. In ihrem Vortrag wollte sie anprangern, dass ihr Unternehmen durch Aufforstung zwar nominell für den Klimaschutz arbeitet, dies aber letztendlich nur Klimasündern dafür dient, sich von ihrer Verantwortung freizukaufen. In solchen Momenten werden die sonst so natürlichen Wogen des Hörspiels gebrochen.
Wie ehrlich muss man miteinander sein?
Manches gerät zu plakativ, man könnte "Halbinsel" vorwerfen, dass das Hörspiel etwas zu angestrengt versucht, den Zeitgeist mit Händen zu greifen. Klimawandel, Pandemie, Kreislaufwirtschaft, Burnout, sich wandelnde Erziehungsphilosophien: Alles findet einen Platz, heruntergebrochen auf den scheinbaren Konflikt zwischen Zuversicht und Aufrichtigkeit. Wie viel darf man anderen zumuten? Wie ehrlich muss man miteinander sein?
Das Ergebnis aber macht diese Bemühungen verzeihbar. Irgendwo müssen sie ja hin, die ganzen Gefühle, die wir in uns tragen, immer sind persönliche Beziehungen auch mit gesellschaftlichen Themen verknüpft. Dass sie dennoch echt sind, daran besteht bei Annett und bei "Halbinsel" kein Zweifel.
infobox: "Halbinsel", Hörspiel, Regie: Susanne Krings, Buch: Kristine Bilkau nach ihrem Roman, Musik: Rainer Quade (ARD-Audiothek/NDR seit 19.11.25, NDRKultur, 22.11.25, 18.00-20.00 Uhr)
Zuerst veröffentlicht 19.11.2025 11:00
Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), KNDR, Hörspiel, Krings, Bilkau, Matzkeit
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