23.11.2025 09:15
Seit 25 Jahren gibt es die "Nachrufe" beim "Tagesspiegel"
epd Gegen den Tod hilft nur die Erinnerung. Mit Worten, mit Texten vielleicht. Mehr haben wir nicht und es ist doch schon sehr viel. An diesen tröstlichen Gedanken knüpfen die "Nachrufe"-Seiten im Berliner "Tagesspiegel" an. Normalerweise schreiben Journalisten über verstorbene bekannte Personen des öffentlichen Lebens - nicht so David Ensikat, der sich verantwortlich zeigt für die Seite, und seine Kollegen und Kolleginnen. Die Rubrik, die es seit 25 Jahren gibt, widmet sich einmal in der Woche bislang unbekannten Berlinern und Berlinerinnen, die gestorben sind - eine in der Form und im deutschsprachigen Raum einzigartige Seite.
Berührend und feinfühlig sind diese Porträts, fast zu einer Essenz verdichtet, weder chronologisch noch den Anspruch erhebend, vollständig zu sein.
Sie reden über alles, was sie bewegt.
"Özgür will nicht, dass es einfach zu Ende geht, nur weil Moyra zurück nach Berlin muss. So vieles ist mit ihr anders", heißt es in dem Nachruf auf Moyra Wollenberg, die von 1986 bis 2020 lebte. Ein kurzes Leben, viel zu kurz, aber voll von dem, so erfahren wir in dem Nachruf, was gemeinhin das Leben ausmacht:
"Die Zärtlichkeit, auch in der Öffentlichkeit. Sie reden über alles, was sie bewegt, was ihnen Angst macht, es gibt keine Geheimnisse. 'Moyra zu umarmen ist wie eine Therapie. Wenn sie zuhört, fühle ich mich verstanden'", hat Özgür, der Lebenspartner aus der Türkei, dem Autoren Karl Grünberg erzählt. Der schreibt: "Ein Jahr pendeln sie, Istanbul-Berlin, Berlin-Istanbul. Dann kündigt Özgür seine Arbeit, beantragt ein Sprachlernvisum, kommt nach Berlin. Mit der Rikscha fahren sie zum Standesamt Neukölln, ihre Freunde auf Fahrrädern hinterher. So voll war es noch nie im Hochzeitssaal, sagt der Standesbeamte. Am Nachmittag feiern sie auf dem Tempelhofer Feld, jeder bringt was mit, und alle tanzen, während die Sonne langsam untergeht."
Ihr Terminkalende war immer voll.
Beim Lesen blitzen schlaglichtartig Momente, Streiflichter im Leben der Verstorbenen auf, man fühlt sich ihnen nah - dabei bleiben sie doch Fremde, für immer und alle Zeit, keine Chance, sie vielleicht doch noch einmal kennenzulernen.
"Die Dinge geschehen lassen, einfach mal abschalten und in die Wolken schauen, dafür war Eva nicht geschaffen", heißt es in dem Nachruf auf Eva Kosak (1932 bis 2025). "Ihr Terminkalender war immer voll. Gerne hätte sie auch dem Tod ein konkretes Datum genannt. Das Sterben und wie man es beeinflussen könnte, war schon lange ein Thema für Eva."
"Als es dann wirklich ans Sterben ging, überlegte sie, wie die lästige Angelegenheit beschleunigt werden könnte. Sie aß nichts mehr und trank nichts mehr. Das hat den Tod sicher sehr geärgert."
Vor dem Essen musste sie der Mama die Handflächen zeigen, ob sie sauber sind.
Das eine ist die Nähe zu den Porträtierten, die die Nachrufe prägen, das andere in vielerlei Fällen die Einbettung in die jeweilige Zeit, in der die Menschen gelebt haben. Man taucht ein in längst vergangene Epochen, in Milieus und gesellschaftliche Schichten. Im Nachruf auf Eva Kosak findet man sich plötzlich im Deutschland der 30er und 40er Jahre wieder:
"Vor dem Essen musste sie der Mama immer die Handflächen zeigen, ob sie sauber sind. Einmal brachte sie weißen Hundekot nach Hause, weil jemand ihr erzählt hatte, das sei sehr wertvoll, damit würden die Kürschner ihre Felle bearbeiten. Die Mama war entsetzt. Seitdem durfte Eva nicht mehr auf der Straße spielen, blieb fortan in ihrem goldenen Käfig eingeschlossen."
Die Porträts entfalten ein "Kino im Kopf", wie es so schön heißt: "Die kleine Eva, immer schön zurechtgemacht, mal mit Hut, mal mit Schleife im Haar. Umringt von Puppen in ihrem Zimmer oder an der Hand der Nanny im Garten, mal auf einer Bank sitzend, vor prachtvoller Kurortkulisse, oder beim Spaziergang mit der Verwandtschaft. Die Fotos aus dem Familienalbum zeigen viele alte Leute und zwischendrin Eva, das einzige Kind im Haus. Sie hatte schöne Sachen zum Anziehen und Spielen, um die sie viele beneidet hätten. Aber es war ja selten jemand da. Alleinsein kann ich gut, sagte sie später, als sie längst erwachsen war."
Wer schaltet Traueranzeigen?
Aber wie finden die Autoren und Autorinnen der "Nachrufe"-Seiten Angehörige, die über ihre kürzlich verstorbenen Geliebten reden wollen? Mit Journalisten, Fremden, die deren Erinnerungen aufs Papier bringen?
"Wir sind weitgehend darauf angewiesen, wer sich bei uns meldet", sagt David Ensikat. "Als wir mit der Seite angefangen haben, sind wir davon ausgegangen, dass die Leute uns die Bude einrennen würden. Doch es hat sich nahezu keiner bei uns gemeldet. Wir haben dann Leute angerufen, die unter Traueranzeigen stehen. Aber wer schaltet Traueranzeigen? Da haben wir schon eine extreme Eingrenzung." Inzwischen melden sich Leute bei der Redaktion. "Es sind aber nicht so viele, dass ich eine Auswahl treffen muss", sagt er.
Was ziemlich schnell auffällt, ist, dass die meisten Nachrufe Menschen gewidmet sind, die mindestens die Lebensmitte erreicht haben und meistens weiß sind.
Stundenlang bereiteten die Frauen gemeinsam aufwendige Gerichte zu.
"Es kommt natürlich auch vor, dass jemand aus dem migrantischen Milieu stammt, aber das ist, gemessen an dem Schnitt der Bevölkerung, etwas seltener", bestätigt Ensikat. "Am Anfang hatten wir viel weniger Frauen als Männer auf der Seite, das ist inzwischen ausgeglichen. Aber der Wunsch, dass das irgendwie eine demografisch ausgewogene Abbildung unserer Gesellschaft sei, ist ein frommer."
Eine Migrantin ist Hüsniye Atmaca, die "Bürgermeisterin von Schöneberg", die von 1938 bis 2021 gelebt hat. In dem Nachruf heißt es: "Hüsniye Atmaca war Alevitin. In der Berliner Gemeinde fand sie schnell Anschluss; ihr Mann hatte schon im Wohnheim Bekanntschaften geschlossen. An den Wochenenden besuchte man einander, stundenlang bereiteten die Frauen gemeinsam aufwendige Gerichte zu und tauschten beim Befüllen der Weinblätter sämtliche Neuigkeiten aus. Dann saßen sie um den Philips-Kassettenrekorder und hörten die Nachrichten der Verwandten aus den türkischen Dörfern. Die kamen per Post nach Berlin und wurden gehütet wie Schätze."
Nachrichten auf Kassettenrekorder ... so nebenbei, fast unbemerkt, lernt die Mehrheitsgesellschaft, die oft so wenig über Migranten oder das Gastarbeiter-Milieu weiß, etwas über deren Praxis, es sich in der Ferne, die nun die Heimat werden soll, schön zu machen.
Wenn ein Prominenter verstirbt, beginnt der Stress in den Redaktionen. Möglichst schnell muss der Nachruf veröffentlicht werden - oft schon seit Jahren vorbereitet und im "Tresor" verwahrt, wird er dann hervorgeholt. Nicht so bei den "Nachrufe"-Seiten. Da vergeht erst einmal Zeit, bis es zu einem Interviewtermin mit den Hinterbliebenen kommt, es geht nicht um Aktualität, nicht um "Witwenschütteln", natürlich nicht.
"In den meisten Fällen treffen wir sie erst Wochen oder Monate nach dem Tod ihres Angehörigen", beschreibt Ensikat seine Arbeit. "Grundsätzlich hilft es, ein ehrliches Interesse entgegenzubringen, konkrete Fragen zu stellen. Ich muss niemanden überreden, ich kann den Leuten etwas anbieten, von dem ich weiß, dass es ihnen guttun kann. Das ist oft schon eine wertvolle Erfahrung für die Trauernden: Jemand hört ihnen zu, Erinnerungen werden sortiert. So kommen erstaunliche Dinge zutage, und oft wird aus einer bedrückenden Situation eine gelöste, gemeinschaftliche, bei der auch gelacht wird."
Um Vertrauen zu gewinnen und die Angehörigen dazu zu bringen, frei zu erzählen, werde von den Autoren und Autorinnen oft vorangestellt, dass gerade das Unverstellte, Unmittelbare und Ambivalente von Interesse ist. "Wir wollen tatsächliches Leben erzählen und nicht ausgedachte Heldengeschichten", sagt Ensikat. Oft machten die Autoren die Erfahrung, je gebildeter die Verbliebenen sind, desto schwieriger werde es, wirklich etwas Persönliches über den Verstorbenen zu erfahren. "Der Anspruch ist dann sehr hoch, nur Wertschätzendes zu berichten und Widersprüche oder problematische Situationen auszublenden - die aber für uns und die Leser von größerem Interesse sind. Wie oft haben wir mit Angehörigen darüber verhandelt, ob wir über Homosexualität, Alkoholismus oder Scheidung schreiben dürfen?"
Man wolle nicht partout das hervorholen, was unter dem Deckel gehalten werde, aber natürlich wolle man etwas Erstaunliches oder Rührendes erzählen. "Die Angehörigen sind dabei immer der Filter: Was sind sie bereit oder imstande zu erzählen? Und der Autor oder die Autorin sind dann dafür zuständig, das interessant aufzuschreiben, mit der je eigenen Handschrift."
Es gibt nur ein Tabu, betont Ensikat: "Wir schreiben nicht über die konkreten Umstände von Suiziden - auch wenn wir diese durchaus erfahren. Und noch ein Tabu gibt es, aber nicht von uns auferlegt: Über die Nazivergangenheit von Opa Wilhelm wird höchst selten erzählt."
Es verstehe sich von selbst, dass die Seite nicht von der Aufdeckung von Skandalen lebe: "Sex and Crime kommen bei uns nicht oft vor", betont Ensikat. Es sind vor allem die leisen Töne, die die Nachrufe tragen - und die doch oft auf viel mehr verweisen als die nackten biographischen Fakten: "Jetzt tritt Ina erst einmal ein und ist da, ganz und gar präsent. Schlank, wendig, wirbelig, die Haare kurz, auf ihrer rechten Hand ein Oktopus, die anderen Tattoos sind von Pulli und Jeans verdeckt", liest man in dem Nachruf auf Ina Tamm (1970-2025). "Auch früher, vor 2014, tritt sie schon mit dem jubelnden 'Hallo' und 'Guten Morgen' durch eine Tür, aber ein brauner Bob schmiegt sich sanft in ihren Nacken, die weich fallenden Kleider, die sie trägt, verdecken noch keine Bilder auf ihrer Haut.
Hin und wieder haben wir Zweifel.
Zwischen dem Kleider- und dem Jeansabschnitt liegt eine Phase des Wandels. Eines Wandels, der Rumoren verursacht und auch Schmerz, das bleibt selten aus, dennoch glückt der Wandel. Ina beginnt, nach zwei Ehen und zwei Kindern, einem Zwillingspaar, Frauen zu lieben. Um genauer zu sein: Sie versteht sich fortan als lesbisch-queer, legt sich gar nicht mehr auf die Kategorien 'Mann' und 'Frau' fest."
Wenn die Quelle fast ausschließlich die Erinnerung von Angehörigen oder Freunden und Freundinnen ist, stimmt das dann überhaupt, was da geschrieben wird? Ensikat sagt: "Hin und wieder haben wir durchaus Zweifel an der Zuverlässigkeit dessen, was uns da erzählt wird. Wenn das der Fall ist, fragen wir nach und versuchen, andere Quellen ausfindig zu machen."
Was wir aufschreiben, ist eine Version von unendlich vielen.
Historische Angaben, an denen man zweifelt, könne man recherchieren, das sei vergleichsweise einfach. "Wir versuchen aber durchaus auch mit weiteren Leuten zu sprechen. Wir fragen immer, wen wir noch befragen können." Dennoch betont Ensikat: "Was wir aufschreiben, ist eine Version von unendlich vielen."
Natürlich ist es nur eine Version, aber eine nach bestem Wissen und Gewissen.Vielleicht geht es bei den "Nachrufe"-Seiten mehr um Wahrhaftigkeit. Das ist die stärkste Waffe gegen das Vergessen.
Copyright: epd-bild/Heike Lyding
Darstellung: Autorenbox
Text: Elisa Makowski ist Redakteurin von epd medien.
Zuerst veröffentlicht 23.11.2025 10:15
Schlagworte: Medien, Journalismus, Trauer, Ensikat, Nachrufe, Tagesspiegel, ema
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