Genau beobachtet - epd medien

26.11.2025 08:51

Dem Kochlehrling Anton wird schwerer Landfriedensbruch und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vorgeladen. Doch was ist an jenem 1. Mai, der schon zwei Jahre zurückliegt, tatsächlich passiert? Im Fernsehfilm "Polizei" erinnert sich Anton zunächst nur bruchstückhaft.

ARD-Fernsehfilm "Polizei"

Merle (Antonia Breidenbach) hilft Anton (Levy Rico Arcos), seine Erinnerungen wiederzufinden

epd Als der gelbe Brief mit der Strafanzeige eintrifft, hat Anton (Levy Rico Arcos) die Sache schon wieder vergessen. Den Vorfall. Welchen Vorfall? Im Juristendeutsch heißen die Tatbestände "Schwerer Landfriedensbruch" und "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte". Ihm wird vorgeworfen, eine Bierflasche auf die Polizeibeamten geworfen zu haben und einen Stein. Er soll versucht haben, Polizisten mit Corona anzustecken.

Zwei Jahre ist das her, ewig für einen 18-Jährigen. Inzwischen ist so viel passiert, dass er sich an die Vorgänge des 1. Mai 2021 nicht mehr erinnern kann. Er weiß nur, dass sie damals zum ersten Mal wieder draußen gefeiert haben, nach dem Corona-Lockdown. Seine Eltern hatten sich frisch getrennt, Stress gab es, das Abi hat er dann geschmissen, ist überstürzt ausgezogen, die Freundin ist nun seine Ex. Jetzt hat er sein Leben wieder einigermaßen auf der Reihe, macht eine Kochlehre bei Otto (Michael A. Grimm), der Verständnis für die ihm anvertrauten jungen Leute hat. Wohnt mit neuer Freundin Rosa (Jamilah Bagdach) in einer Berliner Gartenlaube, fast gemütlich, gewährt den Brennnesseln ihr Dasein.

Was geschah am 1. Mai?

Nun sitzt er mit dem Brief bei einem Typ von der Jugendgerichtshilfe (Andreas Anke), der ihm berichtet, was die Folgen sein könnten. Vorbestraft sein. Oder gar Knast, wie Anton plötzlich fürchtet?

Der Fernsehfilm "Polizei" beginnt mit dem Gespräch im Büro der Jugendgerichtshilfe. Immer wieder sucht die Kamera von Falko Lachmund Antons Gesicht, seine Mimik, wie ihn das, was er hier erfährt, verändert. Anton wird hier nicht ausgestellt, es ist eher dokumentierende Betrachtung, visuell tastende Erforschung. Dieses Betrachtungsprinzip zieht sich durch den ganzen Film, mit ihm sehen die Zuschauer auf Anton, aber sie sehen auch die Umwelt mit seinen Augen, in seiner Wahrnehmung, aus seiner Perspektive.

Die Geschichte des Films "Polizei" ist die einer doppelten Recherche. Was geschah am 1. Mai 2021? Wie hat es Anton verändert? Drehbuchautorin Laila Stieler hat schon vielfach ausgezeichnete Geschichten erzählt. Für "Die Polizistin" (2000, mit Regisseur Andreas Dresen) erhielt sie den Grimme-Preis. "Polizei" ist nun in vielerlei Hinsicht das Gegen- und Ergänzungsstück zu "Die Polizistin".

Suche nach Zeugen

Die Beamten in "Polizei" sieht man bis kurz vor Schluss, als sie als einzelne Menschen im Gerichtsflur herumsitzen, in Rückblenden bloß als austauschbare Figuren in schwarzer Montur, vermummt, mit schwarzen Handschuhen, geballt zu prügelnden Fäusten, oder als dunklen (weiblichen) Schatten, der Anton verbal erniedrigt, als er sich schließlich blutend und verprügelt in der Zelle zusammengerollt hat. Das ist die große Stärke von Stielers Buch, umsichtig in Szene gesetzt von Regisseurin Buket Alakus: Antons zuerst zögerlicher Weg der Aufklärung bestimmt unseren Blick, unseren Ausschnitt realistisch in Szene gesetzter Wirklichkeit.

Mit dem gelben Brief geht Anton zunächst weiter zur Mutter Katja (Petra Schmidt-Schaller), sie bringt ihn zu Anwältin Sabine Langweg (Luise Helm), die sich auf die Vertretung Jugendlicher spezialisiert hat. Ihr fällt auf, dass die Aussagen der Polizisten Textbausteinen gleichen. Es wäre gut, wenn Anton sich erinnern und Zeugen auftreiben könnte. Denn dass Anton wohl kein Täter ist, sondern eher Opfer von Polizeiwillkür und Polizeigewalt, das ahnen alle spätestens jetzt. Mit Folgen: Anton bekommt Panikattacken, der Küchenchef schickt ihn zum Arzt, erst jetzt zeigt sich eine posttraumatische Belastungsstörung und die Wut.

Verprügelt im Polizeiwagen

Bald muss ihn Vater Gregor (Alexander Hörbe) vom Revier abholen. Je mehr Anton zurückgeht zu dem Zeitpunkt damals, als die Erfahrung der Einschränkungen durch Corona Jugend unmöglich machte, desto plastischer kommen die Erinnerungen zurück.

"Polizei" setzt auf größtmögliche Authentizität. Nichts Abgehobenes, nichts Prätentiöses, genaues Beobachten. Wie Anton mit dem alten Drogendealer-Freund Jonas (Florian Geißelmann), der sich gerade eine Schreckschusspistole zur Selbstverteidigung gekauft hat, außerhalb des Ladens mit dubiosem Angebot auf Waschmaschinen sitzt und Bruchstücke rekonstruiert. Wie er Ex-Freundin Emma (Katharina Hirschberg) trifft, die ihm berichtet, wie sie damals von Polizisten umgerissen wurde, wie Anton dazwischenging, kein Unschuldslamm. Wie er einen Bierbehälter geworfen hat. Keine Flasche, sondern einen Softbecher. Wie er, schon im Polizeiwagen, verprügelt wurde und wie einem anderen jungen Mann die wichtigen Medikamente verweigert wurden.

Anton findet zur Aktion

Dem Film, vor allem aber seinem beeindruckenden Hauptdarsteller Levy Rico Arcos, gelingt es trotz harter Bilder, die Veränderungen des eher introvertierten Anton wie schwebend oder unentschlossen darzustellen. Das nimmt einen mit, bringt zum Nachdenken darüber, wie sich in den letzten Jahren staatlich ausgeübter Zwang durch Corona-Maßnahmen und in manchen Fällen eben auch durch polizeiliche übermäßige Gewaltanwendung ausgewirkt haben mögen. Antons Mutter Katja reproduziert als Sprachrohr der Älteren Klischees über "die" Jugend und ihre angebliche Empfindlichkeit.

"Polizei" schaut genau hin, hört genau zu. Ergreift Partei für diese Jugendlichen, was sonst zu selten geschieht. Den Gerichtsprozess spart sich der Film, lässt stattdessen folgerichtig Anton seiner Mutter vom Resultat erzählen. Die sichtbarste Konsequenz folgt zum Schluss. Anton, der Beobachter, findet auf seine Weise zur Aktion, hilft anderen. Ein Opfer will er nicht sein. Als Ankläger hatte er nur bedingten Erfolg. Dieser Film ist sein hartnäckiger, bedingungsloser Vertreter.

infobox: "Polizei", Fernsehfilm, Regie: Buket Alakus, Buch: Laila Stieler, Kamera: Falko Lachmund, Produktion: Kineo Film GmbH (ARD-Mediathek/NDR, seit 19.11.25, ARD, 26.11.25, 20.15-21.45 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 26.11.2025 09:51

Heike Hupertz

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KNDR, Fernsehfilm, Alakus, Stieler, Hupertz

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