Sein und Zeit des deutschen Alltags - epd medien

02.12.2025 09:30

Am 8. Dezember 1985 ging die ARD-Serie "Lindenstraße" auf Sendung. Die Serie, die das Leben normalbürgerlicher Menschen in einer Münchner Straße beobachtete, wurde von Hans W. Geißendörfer in Köln-Bocklemünd für den WDR produziert und lief von 1985 bis 2020 am Sonntagabend im Ersten. Die Schauspielerin Marie-Luise Marjan als Helga "Mutter" Beimer war von der ersten bis zur letzten Folge Teil des Casts.

Vor 40 Jahren ging im Ersten die "Lindenstraße" auf Sendung

Marie Luise Marjan in der Küche der "Mutter Beimer" aus der "Lindenstraße" im Haus der Geschichte in Bonn (links: Walter Hütter, damals Präsident der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland)

epd Zwei Hände wühlen in einem weißen Schuhkarton, auf dessen Längsseite die Zahlenfolge 141 300 zu sehen ist. Ein älterer Mann fischt einen Schlüssel hervor: "So, da wär er, Herr Kronbinder." "Kronmayr!", korrigiert der Angesprochene. "Entschuldigung", sagt der Mann im grauen Kittel. "Kronmayr", wiederholt der falsch Benannte. "Kling ist mein Name", stellt sich der Ältere vor. Kling, Egon Kling, das ist der Hausmeister.

Mit dieser Schlüsselszene beginnt am 8. Dezember 1985 ein neues Kapitel im deutschen Fernsehen. Sie ist - direkt nach dem Vorspann - die erste gespielte Szene der wöchentlichen Serie "Lindenstraße". Die erste Folge trug den Titel "Herzlich Willkommen!" Die Serie, die sonntags von 18.40 bis 19.10 Uhr im Ersten lief (ab März 2005 von 18.50 bis 19.20 Uhr), war etwas ganz Besonderes in der damaligen TV-Landschaft. Bald gehörte dieser Sendeplatz zu deutschen Familienhaushalten wie die Kirche zum Dorf. Für nicht wenige war - in der Vor-Streaming-Epoche - das "Lindenstraßen"-Zeitfenster bald eine heilige halbe Stunde.

Elemente des Melodramas

Vorbild für die "Lindenstraße" war die britische Dauerserie "Coronation Street" vom Privatsender ITV. Hans W. Geißendörfer, 1979 für den Oscar nominierter Autorenfilmer ("Die gläserne Zelle") und renommierter Vertreter des Neuen Deutschen Films, machte sich in den 80ern auf, in Deutschland eine solche Serie zu etablieren. Sie sollte gefühlsselig sein wie eine Seifenoper und gesellschaftspolitisch relevant wie ein Fernsehmagazin. Was klingt wie die Quadratur des Kreises - es gelang. In den 80er und 90er Jahren sahen im Schnitt um die zehn Millionen Zuschauer die Folgen.

Der Medienwissenschaftler Dietrich Leder, von 1994 bis 2021 an der Kunsthochschule für Medien Köln Professor für Fernsehkultur, nennt zwei Gründe für den Erfolg der Serie: "Zum einen verknüpfte die 'Lindenstraße', für das deutsche Fernsehen ungewöhnlich, klassische Elemente des Melodramas - Liebe, Familie, Betrug, Enttäuschung und Hoffnung - mit aktuellen gesellschaftlichen Themen. Zum anderen lief sie auf einem für Serien ungewöhnlichen Sendeplatz am frühen Sonntagabend, zu dem die Familien damals gemeinsam fernsahen."

Die Serie spiegelte die Liberalisierung der deutschen Gesellschaft.

Und was passierte in den folgenden Jahrzehnten nicht alles in dieser Serie über Sein und Zeit des deutschen Alltags! Man kann es kaum vollständig aufzählen: Umweltaktivismus, Datenschutz, Schwulenkuss, Aids, Sexismus, Bulimie, Altnazis, Neonazis, unkeusche katholische Priester, künstliche Befruchtung, Leihmutterschaft, Konfuzianismus, psychische Krankheiten, Drogen, Inklusion von Menschen mit Behinderung, Drogen, ein Bratpfannenmord, Kommentierung von politischen Ereignissen, aktuelle Einbeziehung von Bundestagswahlergebnissen.

"Die Serie spiegelte die Liberalisierung der deutschen Gesellschaft in den 80er Jahren, was die Sexualität, das Zusammenleben, den Umgang miteinander betrifft", erklärt Medienwissenschaftler Leder, "und sie war zugleich selbst Teil dieser Liberalisierung. Das lag auch an einer gewissen pädagogischen Absicht des Erfinders und Produzenten Hans W. Geißendörfer." Dazu passte, dass gleich in der ersten Folge ein langsamer Kameraschwenk zeigte, dass im Schlafzimmer des Protagonisten-Ehepaars Helga und Hans Beimer - er ist von Beruf Sozialarbeiter - auf einem der Nachttische zwei Fachbücher lagen: Edeltrud Meistermann-Seegers Standardwerk "Gestörte Familien" über Familientherapie und das "Handbuch für die Jugendhilfe" von Karl-Wilhelm Jans und Günter Happe.

Böse Kritiken

Leder spricht auch einen programmpolitischen Aspekt an, der bei der Entstehung der Serie eine Rolle gespielt haben dürfte: "Die 'Lindenstraße' war eine vorweggenommene Antwort des öffentlich-rechtlichen Fernsehens auf die privaten Sender, die ja zeitgleich mit der Serie in Deutschland starteten, aber zu dieser Zeit noch keine Bedeutung hatten."

Dass es im Rundfunk- und Mediensystem der 80er Jahre alles andere als selbstverständlich war, ein Novum wie die "Lindenstraße" einzuführen, wird aus der Rede deutlich, die Hans W. Geißendörfer im Januar 2005 anlässlich der 1000. Folge hielt. Ohne den damaligen WDR-Fernsehspielchef Gunther Witte hätte er es "wahrscheinlich nie geschafft, den Widrigkeiten zu trotzen und trotz aller bösen und teilweise aggressiv beleidigenden Kritiken und Intrigen von außen, aber auch innerhalb des Hauses WDR durchzuhalten", so Geißendörfer. "Es war auch sein weitblickender Entschluss, mir Monika Paetow als erste Redakteurin und verantwortlich federführend für ARD und WDR zur Seite zu stellen. Monika Paetow hat die Serie geprägt und - erlauben Sie mir ausnahmsweise den Begriff - heldenhaft für diese Serie gekämpft."

Italienisches Eis für Frau Pavarotti

Die "Lindenstraße" war - vielen Negativkritiken zum Trotz - nah am Puls des Publikums und entwickelte ein hohes Identifikationspotential. Die Menschen unterhielten sich über Freud und Leid der "Lindenstraßen"-Bewohner, manche Figuren wurden wie reale Menschen wahrgenommen. Die Schauspielerin Marie-Luise Marjan wurde als "Mutter Beimer" zu einem der größten Stars des Ensembles, und als ihre Serien-Nebenbuhlerin Anna Ziegler Helga ihren Gatten "Hansemann" ausspannte, wurde die Schauspielerin Irene Fischer, die Anna verkörperte, im realen Leben schon mal auf der Straße beschimpft.

Marianne Rogée war in der "Lindenstraße" Isolde Pavarotti, sie war in der Serie mit einem Italiener verheiratet und bekam im wahren Leben "im Sommer oft von Italienern ein Eis ausgegeben". Das erzählte sie im November 1991 auf einer Tagung, die das Grimme-Institut in Marl eigens zur "Lindenstraße" veranstaltete. Martin Rickelt wiederum spielte in der "Lindenstraße" den alten Nationalisten "Onkel Franz", was dazu führte, dass ihm "unaufgefordert und mit kameradschaftlichem Grüßen die 'National-Zeitung' ins Haus geschickt" wurde, wie er auf der Marler Tagung berichtete.

J.R. Ewing buchte ein Ticket

Johanna Hansen, die 1991 mit einer "Lindenstraßen"-Wette in der ZDF-Show "Wetten, dass..?" antrat, sagte in einem Interview mit dem Online-Portal "Übermedien": "Über die Jahre ist die 'Lindenstraße' zu einem Teil meiner Familie geworden. Es ist Teil meines Lebens. Ich teile ja sogar meinen Sonntag danach ein: Wann ich koche, wann ich mich mit meiner Kollegin zum Teamcall für die kommende Woche verabrede."

Wer dabeiblieb bei dieser Familie und kontinuierlich zuguckte, der sah beispielsweise von 1990 bis 1992 einen gewissen Til Schweiger 145 Folgen lang in der "Lindenstraße" mitwirken. Und zum 20-jährigen Sendejubiläum buchte in einem Gastauftritt der US-Schauspieler Larry Hagman in seiner Rolle als J.R. im Reisebüro von Helga Beimer ein Flugticket zurück nach Dallas. Handlungsort der Serie war übrigens München, produziert wurde sie aber fernliegenderweise in Köln-Bocklemünd vom WDR - angeblich wäre es in den Bavaria-Studios in München zu teuer geworden.

Der "Karl Marx der 'Lindenstraße'"

Ab Februar 1995 agierte (bis zu seinem Tod 2015) sogar ein Intellektueller und Literat, die Übersetzer-Ikone Harry Rowohlt, in der "Lindenstraße": In Kurzauftritten als Obdachloser Harry Rennep - bitte den Namen einmal rückwärts lesen - sorgte er für kommentierende Bonmots wie "Essen wird allgemein überschätzt". Aufgrund seines Aussehens mit Rauschebart und grauer Mähne wurde er von den Medien auch schon mal als "Karl Marx der 'Lindenstraße'" bezeichnet.

Im Lauf der Zeit wurde die "Lindenstraße" eine Brückenbaumeisterin, die immer neue Anläufe unternahm, das Fremde und Eigene, das Divergente und Angepasste, das Normale und Freakige, das Spießige und Alternative miteinander ins Gespräch zu bringen. Sie war Heimat ohne Heimatzwang, sie müffelte zwar bisweilen politisch korrekt, aber zuverlässig verstieß sie auch gegen den Common Sense. Die "Lindenstraße" war nicht nur eine Serie, die man schaute, sie war ein Unterfangen von Nachdenken und Abwägen, bei dem es stets ums Ganze ging: Wie wollen wir leben und sein? Was ist die Idee, was sind die Werte, die die Republik zusammenhalten?

Der "Lindenstraßen"-Zuschauer war ein Parlamentarier auf Zeit, ein Lindensträßler eben, der das Leben der kleinen Leute, der Menschen wie du und ich, gegen die Gewalten des Staates und die Diktate der Zeit verteidigte; die Alltagswelt sollte ihre Würde haben, und diese Würde lebte in der "Lindenstraße". Marianne Rogée hatte es seinerzeit auf der Marler Tagung so formuliert: "Früher konnten nur Könige und Bischöfe sich für teures Geld von Malern porträtieren lassen. Heute ist die 'Lindenstraße' das Gemälde, in dem sich die kleinen Leute wiedererkennen."

Vergiftetes Lob

Aber langfristig hielt der Erfolg der Serie nicht an. Die Weiterentwicklungen im Fernsehen wie auch die gesellschaftspolitischen Umbrüche führten dazu, dass das pädagogische Konzept der "Lindenstraße", so Dietrich Leder, "irgendwann in den 2000er Jahren antiquiert wirkte". Die Einschaltquoten sanken stark, lagen am Ende bei um die zwei Millionen Zuschauern. Das war der ARD zu wenig.

Obwohl niemand behaupten kann, der öffentlich-rechtliche Rundfunk leide an Geldmangel, wollte die ARD, die nach Belieben neue teure Hochglanz-Krimis ins Programm bringt, eine Serie nicht mehr finanzieren, die ihr nicht die gewünschten Quoten einbrachte. In der Pressemitteilung, in der das Ende der "Lindenstraße" bekanntgegeben wurde, stellte der damalige ARD-Programmdirektor Volker Herres dies gewürzt mit etwas vergiftetem Lob klar: "Das Zuschauerinteresse und unsere unvermeidbaren Sparzwänge sind nicht vereinbar mit den Produktionskosten für eine solch hochwertige Serie." So stellte die ARD die "Lindenstraße" 2020 nach gut 34 Jahren ohne große Not ein. Denn Sparzwänge reimt sich auf Hochglanzmenge.

Die Zeiten hatten sich geändert. 15 Jahre zuvor hatte Geißendörfer in seiner Rede zur 1000. Folge noch sagen können: "Die Auswahl unserer Inhalte wird nach wie vor nicht von der Spekulation auf 'Quote' bestimmt. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Verantwortlichen in der ARD uns auch weiterhin erlauben, unsere Inhalte vom Geist und der Fantasie und von den Herzen der Autoren bestimmen zu lassen."

Die Küche der "Mutter Beimer"

Im Jahr 2001 wurde Geißendörfer als Erfinder und Produzent der "Lindenstraße" mit einem Spezial-Preis beim Grimme-Preis ausgezeichnet. Dem Serienschöpfer gebühre "das große Verdienst, die logistische Leistung für das komplexe Projekt - in Zusammenarbeit mit dem WDR in Köln - erbracht zu haben", dies sei "eine kaum zu unterschätzende Pioniertat" gewesen, hieß es in der Preisbegründung. Geißendörfer habe sich von Gegenwind und Kritik "nicht entmutigen lassen, sondern an sein Projekt geglaubt", so dass die "Lindenstraße" ein Klassiker des Fernsehens geworden sei.

Nun ist die "Lindenstraße" Geschichte. Die Bauten auf dem Produktionsgelände in Bocklemünd sind lange abgerissen. Es bleiben Relikte in Museen. Die Küche aus der Wohnung von "Mutter Beimer" ist im Haus der Geschichte in Bonn bewahrt, ebenso wie die große Leuchtschrift des Restaurants "Akropolis" der "Lindenstraßen"-Familie Sarikakis. Viele Originalrequisiten befinden sich als Dauerleihgabe im Wilhelmsbau des Technik-Museums in Speyer, darunter die Wohnküche von Else und Egon Kling und die Filmkulissen vom "Café Bayer" wie auch die des Restaurants "Akropolis".

Das verzeihe ich der ARD nie.

Und standesgemäß hat sich auch die "Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen" in Berlin der Köln-Münchner "Lindenstraße" angenommen. Dazu notierte epd medien 2020 anlässlich der letzten Folge: "Medienwissenschaftlerin Klaudia Wick hat in der deutschen Kinemathek im November die neue 'Sammlung Lindenstraße' eröffnet. Dafür wurden 373 Folgen der Serie dauerhaft in den Bestand des Museums aufgenommen. Alle, die nach dem Ende Wehmut verspüren, haben dort einen Ort für ihre Trauer - aber auch für ihre Erinnerung an eine besondere Serie, die es so im deutschen Fernsehen nicht wieder geben wird." (epd 13/20)

Der langjährige Bundestagsabgeordnete und Außenpolitiker Michael Roth (SPD) vermisst die "Lindenstraße" bis heute. In der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" erzürnte er sich Anfang November in der Rubrik "Vier Fragen an": "Leider ist seit Jahren Schluss mit der 'Lindenstraße'. Das verzeihe ich der ARD nie. Sie war mein Stabilitätsanker am Sonntagabend."

Das Gefühl, zu Hause zu sein

Die ARD indessen hatte im Zeitalter von Quoten, Klicks und Streaming nicht verstanden, dass diese Straße viel mehr als eine Serie war: Sie war ein demokratisches Resonanzgewächs, hier fühlten sich die Leute gesehen, weil die "Lindenstraße" ihr Leben repräsentierte. Demgegenüber sind die typischen Fernsehserien heutzutage in der Regel Feel-Good-Movies, ohne Überzeugungskraft, touristische Idyllen, Heimatdiktate im Kitschgewand. Und sie wollen wohl auch nichts anderes mehr sein.

Am 29. März 2020 lief die letzte "Lindenstraßen"-Folge, Nummer 1.758. Sie hatte den paradoxen Titel "Auf Wiedersehen". Immerhin wurde das Ende der "Lindenstraße" an diesem Tag in der Hauptausgabe der ARD-"Tagesschau" vermeldet. Die "Coronation Street" gibt es immer noch. Sie läuft und läuft und läuft. Seit dem 9. Dezember 1960. Es gibt inzwischen mehr als 11.700 Folgen. Die Serie ist auch in den USA zu sehen, und Bob Dylan outete sich als Fan von "Coronation Street". Ihm sei klar, sagte er im Dezember 2022 dem "Wall Street Journal", diese Art Fernsehen sei "altmodisch, aber es gibt mir das Gefühl, zu Hause zu sein".

Dieter Anschlag Copyright: Guido Schiefer Darstellung: Autorenbox Text: Dieter Anschlag war bis 2021 Chefredakteur des Fachdienstes "Medienkorrespondenz". Er hat alle 1.758 Folgen der "Lindenstraße" gesehen.



Zuerst veröffentlicht 02.12.2025 10:30

Dieter Anschlag

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Serien, WDR, Programm, Anschlag

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