05.03.2024 08:43
epd Kino-Dokumentarfilme werden für die Ausstrahlung im Fernsehen häufig gekürzt, damit sie ins lineare Sendeschema passen. Ungewöhnlich ist allerdings, dass TV-Zuschauer und Mediathekennutzer die Möglichkeit haben, zwischen einer Fassung in Kinolänge und einer gekürzten Version zu wählen. Bei dem Dokumentarfilm "Kriegstouristen" ist das der Fall. Während Arte eine 57-minütige Fassung linear im Januar um 23.05 Uhr ausstrahlte, macht ZDFinfo eine 85-minütige Fassung zugänglich, die nur minimal von der im Kino abweicht.
Die Menschen, die das Publikum in "Kriegstouristen" kennenlernt, machen Urlaub in Regionen, in denen der Krieg Dauerzustand ist. Sie besichtigen Flüchtlingscamps, posieren in ehemaligen Foltergefängnissen für Fotos, treffen Menschen, die in vom Krieg verwüsteten Gebäuden ausharren, oder wollen mal direkt an die Front. "Kriegstouristen" sind kein medial völlig unbekanntes Phänomen, aber noch hat nie sich jemand so intensiv damit beschäftigt wie die in Polen lebende litauische Dokumentarfilmregisseurin Vita Maria Drygas. Sieben Jahre habe sie an dem Film gearbeitet, sagt sie - auch unter diesem Gesichtspunkt ist es erfreulich, dass ZDFinfo die lange Fassung präsentiert.
Alles, was mit Waffen zu tun hat
Drygas porträtiert Kriegstouristen, die allein, zu zweit oder in größeren Gruppen unterwegs sind. Eine weitere Hauptfigur: Rick Sweeney, der solche Reisen unter dem Namen Warzone Tours organisiert. Unter den Protagonisten von "Kriegstouristen" ist auch Eleonora, die in den USA als Übersetzerin für eine Softwarefirma tätig ist. Sie reist im August 2021 während der Taliban-Offensive nach Afghanistan.
Welche "Aktivitäten" sie gern sehen wolle, fragt ihr Guide. "Alles, was mit Waffen zu tun hat", antwortet sie. Eleonora darf bei einer Schussübung von Sicherheitskräften der damaligen Regierung mitmachen. Die Übersetzerin erzählt, dass sie auch schon mal unter kurdischen Kämpfern gewesen sei und dabei selbst mit einem "riesigen Mörser" auf Stellungen des Islamischen Staats geschossen habe.
Den Nervenkitzel muss man sich leisten können. Der Brite Andrew Drury, der "in den letzten 15 Jahren seine gesamten Ferien in Kriegsgebieten verbracht hat", wie es in dem Film heißt, zahlt 20.000 US-Dollar plus Flugkosten für ein Reiseprogramm in Mogadischu. Viel Geld zu verdienen und eine "tolle Familie" zu haben, wie Drury betont, scheint den Kriegstouristen nicht zu genügen. Eleonora sagt, sie wolle Teil haben an einem "rauen" und "rohen" Leben.
Einigen von Drygas' Protagonisten nimmt man ab, dass sie sich für die Situation der Betroffenen des Kriegs vor Ort interessieren. Nicht besonders ausgeprägt scheint die Empathie dagegen bei Mitgliedern des Extreme Traveller International Congress (Etic) zu sein. In einer Hotelbar parlieren sie bei Cocktails und Zigarren über ihr extremes Hobby. Etic-Gründer Kolja, ein Geschäftsmann Mitte 50, erläutert Bilder aus Aleppo, die er auf seinem Telefon zeigt: "Als wir nachts nach Aleppo hineinfuhren: schwerste Zerstörungen. Es war wie das Gesicht der Finsternis, eigentlich des Teufels. Es war sehr berührend, muss ich sagen." Es klingt aber eher so, als rede er über einen besonders guten Wein.
Bei einem Trip von Etic nach Kolumbien, wo ein Treffen mit Mitgliedern der Guerilla-Organisation FARC die "Hauptattraktion" ist, führen sich einige Reisende wie Kolonialherren auf. Als es während der Fahrt in einem Geländewagen um die Gründe für die Jahrzehnte andauernden Konflikte in der Region geht, doziert Kolja: "Es gibt überall intelligente und dumme Menschen. Das wird immer zu Konflikten innerhalb einer Gesellschaft führen."
Die Bilder aus der Hotelbar und aus Kolumbien wirken wie Kaskaden von Selbstbloßstellungen, aber Drygas bleibt gegenüber all ihren Protagonisten fair - das kommt in der bisweilen etwas hektisch wirkenden Arte-Kurzfassung weniger gut zum Ausdruck als in der ruhigeren Langversion bei ZDFinfo.
Drury und sein Auftragnehmer Sweeney tun alles dafür, um abgebrüht rüberzukommen. Drygas fängt aber auch Momente ein, in denen sie aus der Rolle fallen. In einem Gebäude in der früheren IS-Hochburg Raqqa muss Sweeney sichtbar schlucken, nachdem ihm eine Mutter mit flehenden Blicken deutlich gemacht hat, dass sie sich wünscht, er würde ihre vierjährige Tochter mitnehmen, damit sie die Chance auf ein besseres Leben hat. Und Andrew Drury greift sich nach einem Treffen mit Kindern in einem Flüchtlingscamp mit einer Hand kurz unter seine Sonnenbrille und wischt eine Träne weg.
In einigen Szenen werden die Mitglieder von Drygas' Team selbst zu Voyeuren, indem sie die Voyeure filmen, die oft auch selbst gerade dabei sind, etwas zu filmen. Drygas gelingt es, den kriegstouristischen Blick ihrer Protagonisten einzufangen und deren problematische Rolle vor Ort sichtbar zu machen, aber auch den Menschen gerecht zu werden, die gewissermaßen zum Objekt der erlebnishungrigen Reichen aus dem Westen werden. Diese Balance hinzubekommen, ist eine große Kunst. Zumal diese mehrbödigen Bilder oft in Situationen entstanden sind, die für die Macher gefährlich waren. In Ain Aissa zum Beispiel, an der türkisch-kurdischen Front auf syrischem Boden, wo Kriegstourist Drury und das Team von Auftragnehmer Sweeney bemerken, dass sie auch selbst unter Beschuss der türkischen Armee geraten könnten.
Über den Umweg der Beobachtung der Kriegstouristen liefert Drygas' Film wiederum Bilder, die man sonst selten zu sehen bekommt. Aus Mogadischu etwa, wo es für westliche Berichterstatter äußerst gefährlich ist. Dieser Dokumentarfilm ruft außerdem Schauplätze des Leidens in Erinnerung, die in der aktuellen Berichterstattung längst keine nennenswerte Rolle mehr spielen, etwa Flüchtlingscamps im Norden Syriens.
Drygas' Dreharbeiten in Kriegsgebieten endeten 2021. In einer Art Epilog erfahren die Zuschauer, dass Sweeney sein Reisebüro mittlerweile geschlossen hat. Krieg sei etwas "Saudummes", sagt er nun.
infobox: "Kriegstouristen - Gefahren inklusive", Regie und Buch: Vita Maria Drygas, Kamera: Bartosz Bieniek, Wojciech Staroń, Mateusz Wajda u. a., Produktion: Drygas Film Production, Dogwoof (ZDFinfo/Arte, 23.2.24, 17.20-18.45 Uhr; Langfassung in der ZDF-Mediathek, Kurzfassung in der Arte-Mediathek)
Zuerst veröffentlicht 05.03.2024 09:43
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KZDF, Martens, Drygas
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