Die Justiz im Nacken - epd medien

18.04.2024 09:13

In Tunesien mehren sich die Verfahren gegen Journalistinnen und Journalisten. Ihnen drohen teils mehrjährige Haftstrafen. Die Situation hat sich unter Präsident Kais Saied massiv verschlechtert.

In Tunesien nimmt der Druck auf den Journalismus zu

Demonstration für die Pressefreiheit vor einem Gericht in Tunis

epd Am 17. April traf es Mohamed Boughaleb. Ein Gericht in Tunis verurteilte den bekannten Fernseh- und Radio-Kommentator in erster Instanz zu sechs Monaten Haft, wie sein Anwalt mitteilte. Gegen den Journalisten hatte die tunesische Justiz mehrere Verfahren eingeleitet, weswegen er bereits in Untersuchungshaft saß. Vertreter des Religionsministeriums hatten ihm unter anderem Diffamierung und Verbreitung von Falschmeldungen über Vertreter des Staates vorgeworfen.

Boughaleb hatte in der Vergangenheit mehrfach über mutmaßliche Fälle von Korruption und Vorteilsnahme im Religionsministerium berichtet. Er ist kein Einzelfall: Immer mehr Medienschaffende müssen sich derzeit in Tunesien vor der Justiz verantworten.

Repressives Klima

Das repressive Klima in dem nordafrikanischen Land sei besorgniserregend, sagt Khaled Drareni, Sprecher von Reporter ohne Grenzen (RSF) für die Maghreb-Region. Die Entwicklung sei umso enttäuschender, weil Tunesien ein Modell für die ganze Region gewesen sei.

Nach dem politischen Umbruch 2011 und dem damit einhergehenden Ende der Zensur waren zunächst mehrere private Radio- und Fernsehsender sowie unzählige Web-Medien gegründet worden. Auch die bereits existierenden staatlichen und privaten Medien nutzten die neu gewonnenen Freiräume aus und berichteten zunehmend kritisch.

Doch mehr als zehn Jahre nach der Revolution sei die Bilanz "extrem schlecht", sagt Drareni. "Wir beobachten eine Rückkehr der alten Reflexe, der Selbstzensur von früher." Die tunesischen Journalisten verfügten heute über keinerlei Garantien mehr, dass sie ihre Arbeit in völliger Freiheit ausüben können. In der Rangliste der Pressefreiheit, die die Organisation jedes Jahr veröffentlicht, büßte Tunesien zuletzt 27 Plätze ein und befindet sich aktuell auf Platz 121 von 180 Staaten. Dieses Jahr könnte das Land noch tiefer abrutschen, fürchtet RSF.

Solche Methoden sind eines demokratischen und republikanischen Staates nicht würdig.

Drareni sorgt sich, dass sich die Situation vor der im Herbst anstehenden Präsidentschaftswahl weiter verschärfen könnte. Denn seit Präsident Kais Saied, der 2019 zunächst demokratisch gewählt worden war, 2021 die Macht an sich gerissen hat und weitgehend autoritär regiert, werde es für Journalistinnen und Journalisten immer schwieriger, ihre Arbeit zu machen. Neben der Angst vor Verfahren oder Schmierkampagnen in sozialen Netzwerken sei es auch immer schwieriger, an Informationen zu kommen. So bekämen Vertreter von Behörden vielfach keine Genehmigungen mehr, mit der Presse zu sprechen.

Reporter ohne Grenzen werde darauf dringen, dass sich alle Kandidaten der anstehenden Wahlen zur Einhaltung der Pressefreiheit bekennen, so Drareni. Der Staatschef betone zwar immer wieder, dass die Presse frei arbeiten könne, doch das entspreche nicht der Realität: "Da wird ein Wort, ein Satz, meist gegen den Präsidenten der Republik, aufgegriffen, um Journalisten zu verhören, zu misshandeln, einzuschüchtern oder zu inhaftieren. Solche Methoden sind eines demokratischen und republikanischen Staates nicht würdig."

Schlechte Gesellschaft

Tunesien befindet sich damit in schlechter Gesellschaft, denn auch in den Nachbarländern gehen die Regierungen gegen kritische Journalistinnen und Journalisten vor. "Sie sagen natürlich, dass es keine Journalisten im Gefängnis gibt", erklärt Drareni. Grund dafür sei, dass die meisten nicht offiziell wegen ihrer journalistischen Tätigkeit auf Basis des Presserechts verurteilt würden: "In Marokko werden sie der Vergewaltigung beschuldigt, in Algerien des Angriffs auf die nationale Einheit."

Nach dem politischen Umbruch 2011 hatte Tunesien ein neues Presserecht verabschiedet. Doch auf dessen Basis wurde im vergangenen Jahrzehnt kaum jemand belangt. Stattdessen zog und zieht die Justiz das Telekommunikations-, Straf-, Militär- oder sogar Antiterrorrecht heran. Die benutzten Gesetze seien vage und könnten daher leicht missbraucht werden, kritisiert Fida Hammami von Amnesty International - ganz abgesehen davon, dass Meinungsdelikte nach internationalen Menschenrechtsstandards nicht mit Gefängnis bestraft werden sollten.

Gesetz gegen Fake News

Seit anderthalb Jahren wird in den meisten tunesischen Verfahren gegen Medienschaffende ein neues Gesetz gegen Fake News genutzt, das Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren vorsieht. Und es trifft bei weitem nicht nur Journalisten, sondern auch Nutzer sozialer Netzwerke und Oppositionelle. Mehr als 40 Verfahren, die das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzten, hat Amnesty International in Tunesien im vergangenen Jahr verzeichnet. Die Dunkelziffer sei ungleich höher, vermutet Fida Hammami, denn die meisten Verfahren gegen einfache Bürger gelangten gar nicht ans Licht der Öffentlichkeit. Es sei "höchste Zeit, dorthin zurückzukehren, wo wir vor ein paar Jahren waren".

Die Situation von Medienschaffenden in Tunesien sei "so schlimm wie noch nie", die Meinungsfreiheit akut bedroht, warnte auch Zied Dabbar, Vorsitzender des nationalen Journalistenverbandes SNJT, bereits zu Jahresbeginn. "Ich lade alle Kollegen und tunesischen Mitbürger ein, ein Totengebet für die Gerechtigkeit zu sprechen", kommentierte er anlässlich eines Verfahrens gegen einen anderen Kollegen. Dieser wurde schließlich nur auf Bewährung verurteilt, aber von seinem Sender umgehend entlassen - mutmaßlich aus Angst vor weiteren Repressalien.

Einknicken aus Angst

Immer mehr Medien knickten aus Angst ein, beobachtet auch Khaled Drareni von Reporter ohne Grenzen. "Ich kann die Angst verstehen, die sich bei den Medien breitmacht, weil sie belästigt oder eingeschüchtert werden", räumt er ein. "Ihnen machen wir keine Vorwürfe, sondern den Behörden, die sie zur Zielscheibe machen."

Besonders im Blickfeld der Behörden: der private Radiosender Mosaique FM, der die bekannteste politische Radio-Talkshow des Landes betreibt. Dessen scharfzüngiger Kolumnist Haythem El Mekki wurde mehrfach vor Gericht geladen, Regionalkorrespondent Khalifa Guesmi zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er eine Quelle im Sicherheitsapparat nicht preisgeben wollte, bevor das Verfahren wieder aufgenommen wurde. Und der Leiter des Senders, Noureddine Boutar, wurde im Februar 2023 wegen mutmaßlicher Geldwäschevorwürfe festgenommen.

Nach drei Monaten Untersuchungshaft wurde Boutar gegen eine Kaution von einer Million tunesischer Dinar (knapp 300.000 Euro) aus der Haft entlassen, doch das Verfahren läuft bis heute - ein Verhandlungstermin wurde nicht angesetzt, und Boutar darf nicht ausreisen. Dies sei eine bewusste Zermürbungstaktik, moniert Drareni. Die tunesischen Behörden nutzten die Gerichtsverfahren aus: "Sie verlängern und verlängern die Ermittlungen und ziehen es vor, keinen Prozesstermin festzulegen, um dieses Damoklesschwert über den Köpfen der Journalisten zu belassen."

Sarah Mersch Copyright: Foto: privat Darstellung: Autorenbox Text: Sarah Mersch ist freie Journalistin und berichtet für den epd aus Tunesien.



Zuerst veröffentlicht 18.04.2024 11:13 Letzte Änderung: 18.04.2024 12:07

Sarah Mersch

Schlagworte: Tunesien, Medien, Menschenrechte, RSF, Drareni, Kais, Saied, Pressefreiheit, Mersch, Boughaleb, NEU

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