Paralleluniversen - epd medien

09.07.2024 06:38

Dass sich unterschiedliche Medien zusammentun, um investigativ zu recherchieren, ist inzwischen übliche Praxis. Dass sie sich dann wieder trennen, um das gleiche Rohmaterial in jeweils eigenen Podcasts erneut zu verwerten, ist ungewöhnlich. In den Recherchen von NDR und "Süddeutscher Zeitung" rund um die Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann ist es jetzt passiert. Die Podcasts "Rammstein - Row Zero" und "Feuerzone" lassen über dokumentarische Selektion und Gewichtung neu nachdenken, findet Alexander Matzkeit.

Gucken sie da in die Row Zero? Rammstein-Bandmitglieder am 5. Juli beim Konzert in Kopenhagen

epd Nachdem die Nordirin Shelby Lynn im Mai 2023 erstmals darüber postete, dass sie auf einem Rammstein-Konzert in Vilnius mutmaßlich ausgewählt wurde, um mit Till Lindemann in einer Konzertpause unter der Bühne Sex zu haben, nahmen mehrere Medien Kontakt mit ihr auf und baten weitere mutmaßliche Opfer, sich zu melden. Journalistinnen und Journalisten von "Süddeutscher Zeitung" und NDR taten sich dafür zusammen und veröffentlichten das Ergebnis ihrer Recherchen Anfang Juni 2023 - andere Medien wie der "Spiegel" publizierten ebenfalls dazu.

Obwohl einige Vorwürfe und Formulierungen noch immer vor Gericht verhandelt werden, erfuhr eine breite Öffentlichkeit so erstmals vom perfiden "Casting-System", mit dem Lindemann über die sogenannte Row Zero - ein Sonderbereich vor der ersten Reihe - bei Konzerten junge Frauen für Partys vor und nach Konzerten zugeführt werden.

Gemeinsamer Podcast nicht möglich

Die prominentesten journalistischen Namen hinter der NDR/SZ-Recherche sind Lena Kampf, Vize-Leiterin des Ressorts Investigative Recherche bei der SZ, und Daniel Drepper, Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und SZ. Laut SZ wurde früh auch über die Auswertung der Recherche in einem seriellen Podcast gesprochen. Eine gemeinsame Produktion sei aber aus juristischen Gründen nicht möglich gewesen: Die SZ veröffentlicht ihr Podcast-Angebot hinter der Bezahlschranke für Abonnentinnen und Abonnenten, der gebührenfinanzierte NDR hat diese Möglichkeit nicht.

So sind nun zwei Podcasts auf Basis der gleichen Recherche entstanden. Sie greifen an entscheidenden Stellen auf gemeinsam gesammeltes Material zurück, das unter anderem schon in einem Beitrag für "Panorama" im März 2024 zu sehen und zu hören war. Der vierteilige Podcast, den der NDR produziert hat (auf dem allerdings die Logos beider Medienhäuser stehen), heißt "Rammstein - Row Zero". Als Host fungiert Elena Kuch, Reporterin im Team Investigation des NDR.

Eng an der ursprünglichen Recherche

"Row Zero" bewegt sich eng an der ursprünglichen Recherche und den Geschichten von vier Frauen. Shelby Lynn, die in Vilnius für ein Treffen unter der Bühne gecastet wurde, eigenen Angaben zufolge aber ablehnte, mit Lindemann Sex zu haben. Cynthia A., die sagt, sie habe auf einem Treffen vor einem Lindemann-Solo-Konzert mit dem Sänger Sex gehabt. Jasmin Stevens, die berichtet, sie habe 2002 als 17-Jährige eine längere Affäre mit Lindemann und Sex mit Keyboarder Flake Lorenz gehabt. Und Kaya R., die erzählt, wie sie nach einer Aftershow-Party stark alkoholisiert in einem Hotelzimmer aufgewacht sei, als Lindemann bereits "auf ihr drauf" gewesen sei.

Das erneute Erzählen dieser subjektiven Schilderungen ist die Stärke des NDR-Podcasts. Er bewertet wenig, sondern erläutert eher durch Gegenüberstellung. Eine Musikmanagerin berichtet, wie das Casting-System der "Row Zero" entstanden ist. Die Redaktion erklärt, wie sie in ihrer Verdachtsberichterstattung vorgehen musste und dass etwa alle mutmaßlichen Opfer eidesstattliche Versicherungen über ihre Aussagen abgegeben haben. Eine Juristin macht deutlich, warum die Ermittlungen gegen Lindemann im August 2023 eingestellt wurden - und dass "Machtmissbrauch" kein Straftatbestand ist.

Ein größerer Bogen wird aber bewusst nicht geschlagen. Die Aussagen der Frauen sollen im Mittelpunkt stehen - und die Hörenden sollen sich ihr eigenes Urteil bilden. Dass der Sender den Podcast zwischenzeitlich offline stellte, um nach Rammstein-Beschwerden über angebliche Urheberrechtsverstöße beim Musikeinsatz Veränderungen vorzunehmen, macht zusätzlich deutlich, wie schwierig jegliche Berichterstattung über den Komplex ist.

Breitere Einordnung

Der Podcast der SZ geht anders vor. "Feuerzone: Das System Rammstein und der Machtmissbrauch in der Musik" signalisiert bereits im Titel, dass es ihm um mehr geht. Er hat sieben Folgen und eine Doppelmoderation. Neben Lena Kampf agiert auch Jakob Biazza als Host, der ebenfalls an den Original-Recherchen beteiligt war, aber im SZ-Feuilleton arbeitet. Damit bringt er die Glaubwürdigkeit mit, Rammstein breiter einzuordnen, sowohl musikalisch - hier fallen dann auch mal Wörter wie "Arpeggio" oder "Tritonus" - als auch in ihrer Rolle als Teil der Musikindustrie.

Auch die SZ beginnt mit den Geschichten der interviewten Frauen, alterniert diese aber mit den anderen Sphären, die der Fall Lindemann berührt. In Folge zwei etwa wird die Historie der Band Rammstein nacherzählt, deren Mitglieder aus der DDR stammen und die wohl als einzige deutschsprachige Band weltweit so gigantisch erfolgreich ist. In Folge vier stellt sich die Frage, ob genau dieser Erfolg dazu geführt haben mag, dass die Musikindustrie die intern hinreichend bekannte unangenehme Aura der Band geflissentlich ignoriert haben könnte.

Auch die Rolle der Justiz und der Medien wird thematisiert. In Folge sechs rollt der Podcast noch einmal auf, was Frauen droht, die sich trauen, in MeToo-Fällen an die Öffentlichkeit zu gehen, und er fragt, ob es klug ist, sich erst oder nur an die Medien zu wenden. Dabei nimmt er auch Bezug auf die aktuelle Dokumentation über Medienanwalt Christian Schertz, der einerseits im Namen von Lindemann gegen die Berichterstattung auch der SZ vorgegangen ist, andererseits für sich in Anspruch nimmt, die MeToo-Berichte zu Dieter Wedel ins Rollen gebracht zu haben.

Kein abschließendes Urteil

Ein abschließendes Urteil trifft auch "Feuerzone" nicht. In der letzten Folge ringen die Hosts eher noch einmal laut damit, was Anschuldigungen wie im Fall Lindemann eigentlich gesamtgesellschaftlich bewirken. Dazu gebe es nämlich in fast allen MeToo-Fällen noch immer keinen gesellschaftlich ausgehandelten Konsens, wie die Journalistin Lisa Kräher im Interview feststellt. Während die einen weiter darauf beharren, Autor und Werk zu trennen und juristische über moralische Urteile zu stellen - wer nicht verurteilt ist, gilt als unschuldig -, werden die anderen den unangenehmen Beigeschmack, den die Debatten auslösen, einfach nicht mehr los.

Das System, das die Taten einzelner deckt, egal ob sie justiziabel sind oder nicht, existiert weiter. Und es ist schwer zu beurteilen, wie brüchig es durch Berichte wie die vorliegenden tatsächlich geworden ist.

Beide Podcasts sind im Rahmen ihrer Ziele gelungen. Beide möchten vor allem zum Nachdenken und Abwägen anregen, der eine als kompaktes Feature, der andere als umfangreicheres Dossier. Und beide kommen erfreulicherweise auch ohne aufgeblähten Aufklärer-Gestus daher, sondern beschreiben im Gegenteil sogar recht detailliert und transparent das eigene Vorgehen, das der Veröffentlichung vorausging.

Unterschiedliches Framing

Insofern erwächst noch einmal eine besondere Faszination daraus, zu vergleichen, wie unterschiedlich das Material der gemeinsamen Recherche in den jeweiligen Formaten aufbereitet wurde. Manche O-Töne werden fast identisch eingesetzt. Die Aussage von Kaya R. etwa, sie sei wach geworden und "Till war auf mir drauf", funktioniert in beiden Podcasts als unheimlicher Teaser. Die Interviews, die mit Shelby Lynn und Jasmin Stevens geführt wurden, bekommen hingegen ganz unterschiedlich viel Raum, der nicht unbedingt mit der Länge der Podcasts korreliert. Und während "Feuerzone" seine Story mit Lynn eröffnet, hört man in "Row Zero” zuerst von Cynthia A.

Solche Beispiele finden sich dutzendfach. Sie zeigen, wie sehr das Framing jeder Redaktion, selbst bei identischem Ausgangsmaterial, ähnlich gelagerten Absichten und transparentem Beschreiben der eigenen Arbeitsweise, eben doch die Geschichte beeinflusst, die am Ende erzählt wird. Als Fallstudie zweier paralleler Podcastuniversen würden sich "Feuerzone" und "Row Zero" somit auch hervorragend für eine medienwissenschaftliche Betrachtung eignen.

infobox: "Rammstein - Row Zero", vierteiliger Podcast, Regie und Buch: Sebastian Pittelkow, Elena Kuch, Nadja Mitzkat, Daniel Drepper, Sandro Schroeder (NDR/Süddeutsche Zeitung, seit 29.5.24 vollständig in der ARD-Audiothek); "Feuerzone: Das System Rammstein und der Machtmissbrauch in der Musik", siebenteiliger Podcast mit Lena Kampf und Jakob Biazza (Süddeutsche Zeitung, seit 4.7.24 vollständig auf "sueddeutsche.de", erste Folge frei verfügbar, andere Folgen mit SZ-Plus-Abo)



Zuerst veröffentlicht 09.07.2024 08:38 Letzte Änderung: 12.07.2024 11:13

Alexander Matzkeit

Schlagworte: Medien, Kritik, Kritik.(Streaming), Audio, Rammstein, NDR, SZ, Matzkeit, NEU

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