Differenzierte Qualitätsangebote - epd medien

17.10.2024 06:00

Der Grimme Online Award 2024 wurde am Mittwochabend im Grimme-Institut in Marl vergeben. Obwohl der Wettbewerb aus finanziellen Gründen zunächst auf der Kippe stand und dann in deutlich kürzerer Zeit gestemmt wurde als sonst, gingen mehr als 1.000 Einreichungen ein. Die Nominierungskommission stellte 27 preiswürdige Formate zusammen, Nachnominierungen aus der Jury gab es nicht. Jurymitglied Nora Frerichmann bilanziert in ihrem Bericht, dass es eine große thematische Vielfalt und viele inhaltlich tiefschürfende Angebote gab, aber bei den Formaten eher wenig Innovation zu sehen war.

Aus der Jury des Grimme Online Awards

"The Library of Lost Books" bietet klug durchdachte Interaktionsmöglichkeiten

epd Die Nominierungskommission hatte gute Vorarbeit geleistet: Die Vorschläge für den Grimme Online Award 2024 umfassten Angebote zu unterschiedlichen Themen und aus verschiedensten Regionen des Landes, so dass die Jury aus einem breit gefächerten Pool schöpfen konnte. Beim Sichten wurde eines schnell klar: 2024 ist erneut kein Innovationsjahr. Die Angebote zeigen technologisch Bekanntes.

Scrollytelling ist bei Online-Formaten weiterhin ein Ding, Tiktok hat sich als Ausspielweg auch für preiswürdigen Content etabliert. Podcasts sind eine eigene, sehr breite Sparte mit mittlerweile gezielten Auszeichnungen geworden. So konzentrierten sich die Jurydiskussionen weniger auf Technologien, sondern eher auf kluge Konzepte, übersichtliche und ansprechende visuelle Aufbereitung sowie überzeugende Themenideen und Recherchen.

Kaum Angebote zu Kriegen

Ein Schwerpunkt der nominierten Formate lag auf Problemlagen und deutscher Geschichte. Das reichte von der Historie der Frauenbewegung über die NS-Zeit bis zu verschiedenen Aspekten der DDR. Hinzu kamen aktuelle Themen wie Datenschutz und Staatsgewalt, Rechtsextremismus, Falschnachrichten auf Social-Media-Plattformen, Facetten migrantischen Lebens in Deutschland, Biodiversität oder Probleme bei der medizinischen Versorgung in Notfällen.

Im Verhältnis zur Dringlichkeit des Themas schafften hingegen es wenig Formate in den Nominierungspool, die sich mit Klimafragen beschäftigen. Auch Angebote zu den Kriegen und Konflikten, die im vergangenen Jahr die Nachrichten dominierten, oder zu entwicklungspolitischen Themen waren kaum bis gar nicht vertreten. Positive Geschichten kamen ebenfalls eher am Rande vor, was mit der aktuellen Weltlage zu erklären sein mag. Künstliche Intelligenz spielte in den Nominierungen ebenfalls keine Rolle, da in diesem Preisjahr ein Sonderpreis KI von der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei ausgeschrieben wurde, über den eine separate Jury entschieden hat.

Schwerpunkt auf historischen Themen

Ein Blick auf die Preisträgerinnen und Preisträger zeigt: Der Schwerpunkt liegt in diesem Jahr deutlich auf historischen Themen und ihrer Bedeutung in einer Zeit, in der Populismus und menschenfeindliche Tendenzen Gesellschaft und Öffentlichkeit zunehmend prägen. Dies betrifft vor allem die Kategorien "Wissen und Bildung" sowie "Kultur und Information". Auffällig viele Formate setzen sich mit der NS-Diktatur und ihren Auswirkungen vor allem auf jüdisches Leben auseinander und arbeiten verschiedene Aspekte exzellent, mit klug gesetzten Schwerpunkten und Herangehensweisen heraus. Die Förderung für historische Online-Projekte, unter anderem durch den Bund, führt offenbar zu vielen qualitativ guten Formaten.

Fast verspielt erzählerisch etwa lässt "The Library of Lost Books" in die Entwicklung der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums - die von 1872 bis 1942 bestand - und ihre Bibliothek eintauchen. Eintauchen ist hier nicht als Floskel zu betrachten: Audiokomponenten, collagenhaft zusammengestellte Illustrationen und alte Fotografien, historische Dokumente und eine Anleitung für die Suche nach Büchern, die von den Nazis geraubt wurden, ziehen die Nutzerinnen und Nutzer geradezu in dieses vielschichtige und lehrreiche Angebot hinein. Das Format überzeugte die Jury auch mit den zahlreichen und klug durchdachten Interaktionsmöglichkeiten.

Visuell ansprechender Zugang

Hervorgehoben wurde auch der leichte und visuell ansprechenden Zugang, außerdem der ungewöhnlich tiefe Einblick in wissenschaftliche Diskurse in der Zeit vor der Massenvernichtung durch die Nazis beziehungsweise zu deren Beginn. Damit werden auch Diskussionen und unterschiedliche Strömungen innerhalb der jüdischen wissenschaftlichen Gemeinschaft und ihre Heterogenität sichtbar. Die Jury sprach in der Kategorie "Kultur und Unterhaltung" einstimmig einen Preis der Multimedia-Website der Leo-Baeck-Institute Jerusalem und London zu.

Ebenfalls einstimmig fiel die Entscheidung über eine Auszeichnung für Susanne Siegerts Tiktok-Kanal "keine.erinnerungskultur". Als Einzelkämpferin schafft es die Influencerin, einen gegenwartsbezogenen und im positiven Sinne häppchenweise angelegten Zugang zu unterschiedlichen Aspekten des NS-Regimes und seiner Verbrechen herzustellen. Dabei nimmt sie vor allem Punkte in den Blick, die junge Menschen betreffen. Sie serviert nicht nur Informationen, sondern ermutigt auch dazu, selbst nachzuforschen.

Rechercheintensive Projekte

Der Bildatlas "#LastSeen. Bilder der NS-Deportationen" des gleichnamigen wissenschaftlichen Verbundprojektes (Leitung: FU Berlin) überzeugte die Jury mit dem Konzept, wie hier ein Weg gefunden wurde, über eine reduzierte und archivarische Darstellung Interesse zu wecken. Die historischen Fotografien aus 33 Orten in Deutschland zeigen nicht nur Deportierte, sondern auch zuschauende Menschen - und geben den Nazi-Verbrechen durch Kartenfunktion und Detailinformationen eine selten erreichte Unmittelbarkeit. Auch hier stimmten alle Jurymitglieder einstimmig für eine Auszeichnung.

Das Online-Archiv des kleinen Satire-Magazins "Het Onderwater-Cabaret" bietet einen Einblick in die Gedankenwelt und den Humor des deutschen Schriftstellers Curt Bloch, der während des Zweiten Weltkriegs im niederländischen Untergrund untertauchte. Es sind einzigartige und amüsante wie erschreckende Dokumente, die in mühevoller Kleinarbeit auf Initiative seiner Witwe und Tochter in Zusammenarbeit mit dem Designer und Autor Thilo von Debschitz online zugänglich gemacht und vertont wurden. Kritikpunkt in der Jurydiskussion war unter anderem die Masse an Informationen, die den Einstieg nicht allen Nutzenden leicht machen dürfte.

Auch journalistische, rechercheintensive Angebote konnten in diesem Jahr überzeugen. Für das Projekt "Europäische Waffen, amerikanische Opfer" verfolgte der "Tagesspiegel" in Zusammenarbeit mit dem "ZDF Magazin Royale" die Wege der bei "Mass-Shootings" in den USA verwendeten Waffen zu Unternehmen in deutschen und österreichischen Kleinstädte. Das Angebot überzeugte mit seiner visuellen Aufbereitung ebenso wie mit der Idee und Umsetzung. Besonders gelobt wurde die tiefgehende Auseinandersetzung mit den kulturellen und wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen dem Waffenkult in den USA und ihren europäischen Profiteuren.

Biodiversität bei "Robinga Schnögelrögel"

Die "Databrokerfiles" von "netzpolitik.org" und dem BR konnten in der Kategorie "Spezial" überzeugen, weil hier ein netzspezifisches Thema durch die umfangreiche Analyse eines großen Datensatzes anschaulich auf die Ebene einzelner Nutzerinnen und Nutzer heruntergebrochen wurde. Gleichzeitig wurde die Dimension des internationalen Datenhandels für die nationale Sicherheit in Deutschland erstmals breit in ihren Details recherchiert. Die Jury sah hierin auch eine lobenswerte Kooperation zwischen Medien, bei der ein herausragendes Ergebnis entstanden ist.

Mit "Systemeinstellungen" wurde ein weiteres "netzpolitik.org"-Format ausgezeichnet. Die Podcastreihe schafft es, grundsätzliche Probleme staatlichen Machtmissbrauchs im Umgang mit progressiven Positionen herauszuarbeiten. Die einzelnen Episoden zeichnen verschiedene Ereignisse wie Hausdurchsuchungen und Überwachung als repressives Mittel von Sicherheitsbehörden in ihrer grenzüberschreitenden Absurdität nach. Auch die netzspezifische Aufbereitung, die mit rege genutzter Kommentierung, Transkripten und vielen Zusatzinformationen deutlich über einen einfach ins Netz gestellten Audiofile hinausging, überzeugte die Jury.

Fasziniert war die Jury von "Robinga Schnögelrögel". Unter diesem Handle vermittelt Robin König auf Instagram sein umfassendes Wissen über Natur und Artenvielfalt. In kurzen, unterhaltsamen Videos erklärte er mal mit Leidenschaft, mal mit ausgekosteter Wut, warum bestimmte Pflanzen in deutschen Gärten und Landschaften sinnvoll sind - oder eben auch nicht. Es vermittelt das meist eher trockene und problembeladene Thema der Biodiversität mit einer nerdigen Schnodderigkeit, viel Witz und Emotion.

Bezüge zu digitalen Themen wichtig

Es gab viele weitere Beiträge mit wichtigen Themen, die Anerkennung verdienen. Der Jury vermisste am Ende aber beispielsweise Übersichtlichkeit oder online-spezifische Aufbereitung, ein redaktionelles Konzept oder thematische Tiefe im Vergleich zu anderen Angeboten.

In den Diskussionen kristallisierte sich mit der Zeit heraus, dass die Jury ihren Fokus bei den Entscheidungen auf ihre Qualitätskriterien legte und diese über eine thematische Ausgewogenheit stellte. Zuvor wurde immer wieder diskutiert, wie zwischen Relevanz, Aufbereitung und Repräsentation gewichtet werden soll. Denn angesichts der unterschiedlichen Formate, Ausspielwege und Aufbereitungsarten für verschiedene Themen stand die Jury vor der Herausforderung, Äpfel mit Birnen und diese wiederum mit Melonen und Trauben zu vergleichen. Auch die onlinespezifische Aufbereitung der Formate und inhaltliche Bezüge zu digitalen Themen spielten für die Juryentscheidungen eine große Rolle.

Nach zwei Tagen intensiver und konstruktiver Diskussion wurden die acht ausgezeichneten Formate der Kategorien "Information", "Wissen und Bildung", "Kultur und Unterhaltung" sowie der "Spezial"-Preis dennoch mit großer Einigkeit bestimmt. Die Jury ist froh, dass sie trotz der zwischenzeitlich ungewissen Situation in diesem Jahr über die Grimme Online Awards entscheiden durfte und der Preis nun zum 24. Mal herausragende Leistungen in der Onlinepublizistik würdigt. Differenzierten Qualitätsangeboten gebührt besonders in Zeiten von populistischem Getöse und simplifizierten Erklärungsmustern Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Nora Frerichmann Copyright: Foto: privat Darstellung: Autorenbox Text: Nora Frerichmann ist Redakteurin beim epd-Landesdienst West.



Zuerst veröffentlicht 17.10.2024 08:00

Nora Frerichmann

Schlagworte: Medien, Grimme, Preise, Auszeichnungen, Grimme Online Award, nf, Frerichmann, Internet

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