18.10.2024 14:14
Berlin (epd). Der Chefredakteur des Internet- und Rechercheportals "FragDenStaat", Arne Semsrott, ist vom Berliner Landgericht wegen der Veröffentlichung von Gerichtsbeschlüssen aus laufenden Strafverfahren verurteilt worden. Er erhielt am Freitag eine Verwarnung. Sollte der 36-Jährige im Laufe eines Jahres erneut straffällig werden, muss er zudem eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu jeweils 50 Euro bezahlen. Semsrott kündigte Revision an. (AZ: (536 KLs) 237 Js 3347/23 (1/24))
Der Journalist und Aktivist war angeklagt, im Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren gegen Klimaaktivisten der "Letzten Generation" wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung drei Beschlüsse des Amtsgerichtes München veröffentlicht zu haben. Der Vorsitzende Richter Bo Meyer sagte in seiner Urteilsbegründung, der geständige Semsrott habe die Straftat bewusst begangen, weil er den entsprechenden Strafrechtsparagrafen für verfassungswidrig hält und er damit einen Beitrag zur öffentlichen Diskussion und zur Rechtsfortbildung leisten wollte.
Anders als die Verteidigung hält die Kammer den Strafrechtsparagrafen 353d, Ziffer 3, nicht für verfassungswidrig. Deshalb wurde das Strafverfahren auch nicht ausgesetzt und die Frage der Verfassungswidrigkeit dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, wie es die Verteidigung beantragt hatte. Vielmehr stehe die Strafnorm im Widerstreit zwischen Pressefreiheit und der Funktionstüchtigkeit von Strafverfahren und stelle einen Kompromiss dar, erklärte der Vorsitzende Richter.
In dem Strafrechtsparagrafen heißt es: "Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer (...) die Anklageschrift oder andere amtliche Dokumente eines Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens, ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist."
Das Gericht begründete das Verbot der Veröffentlichung von amtlichen Dokumenten im Wortlaut damit, dass die Neutralität und Distanz des Gerichts sowie die Unschuldsvermutung gegenüber den Beschuldigten gewahrt bleibe. Journalisten könnten ihrer Kontrollfunktion dadurch gerecht werden, dass sie amtliche Dokumente aus dem Ermittlungsverfahren für ihr Publikum erklären und einordnen, ohne sie im Wortlaut wiederzugeben. Semsrott hatte die Gerichtsbeschlüsse seinem Artikel auf der Internetseite "FragDenStaat" als separate Dokumente beigefügt.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Semsrott kündigte an, Revision beim Bundesgerichtshof einzulegen. "Wenn die Bundesregierung nicht handelt, machen wir weiter - und zwar bis zum Verfassungsgericht", erklärte er. Das Gericht hatte zuvor eine Einstellung des Verfahrens angeregt. Dies wurde von der Verteidigung abgelehnt. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 50 Euro gefordert, die Verteidigung hilfsweise einen Freispruch.
Semsrott nannte die Strafvorschrift eine Zensurreglung aus der Kaiserzeit. Sein Anwalt Lukas Theune erklärte: "Wir werden vor dem Verfassungsgericht zeigen, dass der Paragraf 353d, Nummer 3, gestrichen werden muss". Medien würden abgeschreckt, über laufende Verfahren zu berichten. Semsrott hatte sein Vorgehen damit begründet, dass in Zeiten zunehmender Desinformation faktenbasierter Journalismus und korrekte Berichterstattung gestärkt werden müsse.
Auch der Deutsche Journalisten-Verband forderte eine Reform des Strafrechtsparagrafen. Er sei nicht mehr zeitgemäß und kriminalisiere Journalisten.
lob
Zuerst veröffentlicht 18.10.2024 11:17 Letzte Änderung: 18.10.2024 16:14
Schlagworte: Prozesse, Medien, Semsrott, Pressefreiheit, Strafrecht, Landgericht Berlin, lob, NEU
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