12.11.2024 10:56
epd Franz Beckenbauer starb am 7. Januar im Alter von 78 Jahren. Bereits einen Tag nach dem Tod des früheren Fußball-Weltstars, Bundestrainers und Präsidenten des Organisationskomitees der Weltmeisterschaft 2006 präsentierte die ARD im Ersten den 90-minütigen Dokumentarfilm "Beckenbauer" von Philipp Grüll und Christoph Nahr, der gar nicht als Nachruf im Todesfall gedacht war, sondern in der Mediathek bereits ab dem 2. Januar als zweiteilige Dokumentation in doppelter Länge abrufbar war (und ist). Auch die Ausstrahlung am 8. Januar erfolgte nicht als kurzfristige Programmänderung, sondern war nach Angaben der ARD regulär vorgesehen. Ein ebenso kurioser wie makabrer Zufall.
Magenta TV, die Inhalte-Plattform des Telekom-Konzerns, legt nun zehn Monate später mit "Beckenbauer - Der letzte Kaiser" den ersten posthum entstandenen Dokumentarfilm über Franz Beckenbauer vor. Nach der Veröffentlichung dieser "Hommage" (Eigenwerbung) bei Magenta TV, das die drei Teile im Wochenrhythmus ins Netz stellte, also am 31. Oktober, 7. und 14. November, soll Anfang Januar 2025 ein "Director's Cut" in den Programmen der öffentlich-rechtlichen Ko-Produzenten Arte und ZDF zu sehen sein.
Für den Dokumentarfilmer, Publizisten und Medienkritiker Torsten Körner, den Broadview-Produzent Leopold Hoesch gewinnen konnte, sind der Fußball und seine gesellschaftliche Bedeutung bekanntes Terrain. 2005 hat er die Biografie "Beckenbauer - Der freie Mann" veröffentlicht. Für "Schwarze Adler" (2021), einen ebenfalls von Broadview Pictures produzierten Dokumentarfilm über die Erfahrungen schwarzer Fußball-Nationalspieler, wurde er mehrfach ausgezeichnet.
Körner erzählt über Beckenbauer nichts Neues, schon gar nicht über die mutmaßliche Korruption bei der Vergabe der WM 2006 nach Deutschland. Das "Sommermärchen" wird im dritten Teil ("Märchen und Mythos") gefeiert, die Affäre in kurzen Strichen skizziert. Und neben den ersten "Spiegel"-Enthüllungen markiert das Jahr 2015 auch den tragischen Wendepunkt in Beckenbauers Leben, dessen Sohn Stephan wenige Monate zuvor gestorben war. Körner enthüllt nichts und zieht keine Bilanz, dafür ermuntert er mit einem ebenso kunstvollen wie unterhaltsamen Fluss aus Archivmaterial und Interviews zur Reflexion, nicht zuletzt dank der herausragenden Montage von André Hammesfahr. Der Film bietet viele kluge Gedanken und ist auch ein ästhetisches Vergnügen.
Ein kräftiger Schuss Nostalgie ist natürlich dabei, aber nicht als Nummernrevue der bekanntesten und beliebtesten Szenen. Der "Libero"-Song von Udo Jürgens zur Einstimmung ist wunderbarer, selten gespielter Kitsch. Der Fußballschuh, den die Kamera aus großer Nähe fotografiert, wird zu einer Art Landschaft, die sorgfältig betrachtet und liebevoll in Szene gesetzt wird. Der "Kicker"-Starschnitt und auch die Actionfigur Beckenbauer stehen für die kindliche Freude am Fußball. Etwas bemüht wirkt allerdings der Schluss, wenn sich die Gesprächspartner mit einem Ball in Pose setzen. Ungezwungen wirkt das eigentlich nur bei Michel Platini.
Statt sämtliche Erfolge aufzuzählen, trägt der Autor die mutmaßlich ausführlichste Sammlung der Beckenbauer'schen Außenrist-Pässe und -Freistöße aller Zeiten zusammen - großartig! Die Weltmeisterschaften von 1966 bis 2006 sind ein lose ausgelegter roter Faden. Vor allem aber initiiert Körner ein vielstimmiges Gespräch über den Werdegang des Menschen Beckenbauer und seine Bedeutung als öffentliche Figur, über die Wechselwirkung zwischen Fußball und Gesellschaft. Dabei entsteht unwillkürlich auch ein Bild von der Zeit, zum Beispiel vom Verhältnis der Nachkriegsgeneration zu den eigenen Vätern wie im ersten Teil.
Als eleganter, leichtfüßiger Spieler verkörperte der 1945 geborene Beckenbauer das Gegenteil zum Deutschland-Bild nach dem Ende der Nazizeit. Er ließ sich nicht als Nationalheld vereinnahmen und legte sich mit den Fußball-Funktionären an, ehe er selbst einer wurde. Die Aussage des unvermeidlichen Gesangsauftritts ("Gute Freunde kann niemand trennen") wird gegen den Strich gebürstet, denn Beckenbauer war einer der Ersten, der die Profifußballer als Interessengemeinschaft verstand - im Gegensatz zum nationalromantischen "Elf-Freunde"-Ideal im Geiste Sepp Herbergers. Die sich gelegentlich um Kopf und Kragen redende Plaudertasche Beckenbauer kommt auch vor, nicht mit dem bekannteren "Keine Sklaven in Katar"-Zitat, sondern mit hanebüchenen Aussagen über einen mexikanischen Journalisten während der WM 1986.
Körner beweist, dass man auch nach zahlreichen Beckenbauer-Filmen noch wahre Archiv-Schätze finden kann, und sei es das Torwandschießen des D-Jugendspielers Matthias Brandt, während sein Vater, der Bundeskanzler, im "Aktuellen Sport-Studio" zu Gast war. Die Szene ersetzt gewissermaßen Beckenbauers legendären Torwandtreffer vom Weißbierglas. Brandt zählt zu den 19 befragten Zeitzeugen - die weibliche Form erübrigt sich, weil der Autor sich bewusst für eine rein männliche Mannschaftsaufstellung von A wie Friedrich Ani bis Z wie Arnd Zeigler entschieden hat.
Auch der mittlerweile verstorbene Willi Lemke ist darunter, ebenso wie Franz Beckenbauers Bruder Walter, Günter Netzer und Jürgen Klinsmann, Günther Jauch und "Bild"-Journalist Alfred Draxler, André Heller, Marius Müller-Westernhagen und Christian Petzold. SPD-Politiker Wolfgang Thierse hat als Einziger eine ostdeutsche Biografie und sieht den WM-Titel 1990 als "Geschenk Beckenbauers zur deutschen Einheit".
Polyphoner und multiperspektivischer als man vermuten würde.
Er habe "das typische Rollenbild der Beckenbauer-Frau" nicht bedienen und die damalige reine Männerwelt des Fußballs historisch abbilden wollen, begründet Körner seine Entscheidung. Außerdem sollten seine Gesprächspartner die Geschlechterverhältnisse, wenn möglich, reflektieren. Und homogene Ensembles seien "dann doch sehr viel polyphoner und multiperspektivischer als man vermuten würde", schreibt der Autor in einem langen Statement zur Serie.
Tatsächlich werden im zweiten Teil ("Goldene Zeiten") die Geschlechterverhältnisse reflektiert. Allerdings irritiert es gerade in diesen Passagen, dass nur über Frauen, nicht mit ihnen geredet wird. Feministische Kritik und ein Stück Medien- und Zeitgeschichte bietet immerhin der Ausschnitt aus einer Sendung der von der Redakteurin Angelika Wittlich betreuten WDR-Reihe "Telekritik" aus dem Jahr 1973. "Nur beim Fußballspiel wird toleriert, dass erwachsene Männer sich wie Kinder verhalten und 90 Minuten lang emotional und ohne Verantwortung sein dürfen", analysiert eine ausnahmsweise weibliche Stimme so nüchtern wie schonungslos.
infobox: "Beckenbauer - Der letzte Kaiser", dreiteilige Dokuserie, Regie und Buch: Torsten Körner, Kamera: Martin Christ, Produktion: Broadview Pictures (Magenta TV/Arte/ZDF, seit 31.10.24)
Zuerst veröffentlicht 12.11.2024 11:56
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Streaming, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KMagenta, Dokumentation, Beckenbauer, Körner, Gehringer
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