Das Herz schlägt weiter - epd medien

19.05.2025 09:55

Der Countertenor JJ aus Österreich hat den Eurovision Song Contest 2025 in Basel gewonnen. Das vierstündige Finale verfolgten im Ersten und bei One 9,13 Millionen Zuschauer, der Marktanteil lag zusammengerechnet bei 46,8 Prozent. Lukas Respondek blickt zurück auf den ESC und die Berichterstattung drumherum. Präsentiert wurde die Show in der Schweiz von den Moderatorinnen Hazel Brugger, Michelle Hunziker und Sandra Studer.

Zum Eurovision Song Contest 2025

Abor & Tynna sangen beim Eurovision Song Contest 2025 für Deutschland

epd Kommt sie oder kommt sie nicht? Kaum eine Frage beschäftigte die Menschen im ESC-Austragungsort Basel in der vergangenen Woche so sehr wie die, ob Céline Dion beim Finale des Eurovision Song Contests am Samstagabend auftreten würde. Trotz aller Probengerüchte und Privatjet-Sichtungen ist die Grand-Prix-Legende nicht gekommen. Dafür aber die finnische Kandidatin Erika Vikman, die offensiv und unmissverständlich ihren in kleinsten Teilen deutschsprachigen Song "Ich komme" auf einem überdimensionierten funkensprühenden Mikrofon sang.

Der 69. Eurovision Song Contest, der vom 13. bis 17. Mai in Basel in der Schweiz stattfand, geizte nicht mit doppeldeutigen und frivolen Beiträgen. Neben dem finnischen war da noch der australische Song, in dem sich Sänger Go-Jo als "Milkshake Man" anbietet, damit aber nicht über die sehenswerten, im deutschen Fernsehen nach wie vor leider gut versteckten Halbfinals hinauskam. Oder auch der maltesische Beitrag "Serving", der ursprünglich ebenfalls doppeldeutig "Kant" hieß, nach ein paar Wochen der Duldung durch die Europäische Rundfunkunion (EBU) dann aber doch auf das vulgär klingende Wort verzichten musste.

Herzförmiges Maskottchen

Ob jede dieser hemmungslos sexualisierten Selbstdarstellungen gleich zum Akt der Selbstbestimmung erhoben werden können, sei angesichts der nicht immer raffinierten Inszenierungen mal dahingestellt. All die Liebe im Wettbewerb tat dem ESC, dessen Motto "United by Music" letztes Jahr mehr Schein als Sein war, jedenfalls grundsätzlich gut. Das ikonische Eurovisions-Herz kam dieses Jahr nicht zu kurz - ob als Dauereinblendung während der Auftritte, als prägendes Stilelement auf Plakaten und in Online-Angeboten oder als angsteinflößendes herzförmiges Maskottchen Lumo.

Nach dem letztjährigen Stimmungstief in Malmö schienen die Veranstalter des ESC in diesem Jahr besonders bemüht, wieder das Verbindende, das Positive des Eurovision Song Contests in den Vordergrund zu rücken. Das gelang im Finale hervorragend, als die Zweitplatzierten der letzten beiden Jahre als Pausen-Act aus ihren beiden Hits ein Duell inszenierten, der zum gemeinsamen Song "#eurodab" führte. Vorjahressieger Nemo hingegen sorgte mit der gewagten, aber nicht gelungenen Darbietung des Songs "Unexplainable" für größere Irritationen.

Musical "Made in Switzerland"

Die beiden Schweizerinnen Hazel Brugger und Sandra Studer moderierten die drei Shows herausragend und bewiesen nicht zuletzt in ihrer Musical-Darbietung "Made in Switzerland" im ersten Halbfinale so viel Humor, dass man sie am liebsten gleich in weiteren Fernsehshows sehen würde. Im Finale stieß Michelle Hunziker zum Moderationsduo hinzu, doch im Vergleich zu ihren schon eingespielten Kolleginnen trat sie mitunter weit weniger souverän auf.

Thorsten Schorn kommentierte die Show für das deutsche Publikum reibungsfrei mit mal mehr, mal weniger vorhersehbaren Pointen.

Für Deutschland ging das Wiener Duo Abor & Tynna ins Rennen, ein Geschwisterpaar, das sich im Frühjahr im mehrteiligen deutschen Vorentscheid durchsetzen konnte. Nach der gesanglich sehr wackeligen Leistung bei "Chefsache ESC 2025" und krankheitsbedingt gestrichenen Live-Auftritten auf ESC-Konzerten in den Wochen vor dem Wettbewerb schien lange Zeit ungewiss, ob Sängerin Tünde Bornemisza mit ihrem Cello spielenden Bruder Attila eine Chance auf einen vorderen Platz in Basel haben würde.

Poetische Pop-Opernarie

Auf der Bühne in Basel gelang dem Duo ein sehr ansehnlicher Auftritt, der musikalisch wie inszenatorisch zu den Lichtblicken der jüngsten deutschen ESC-Beiträge zählt. Riesige Subwoofer, eine düster-vernebelte Club-Atmosphäre und das grell leuchtende E-Cello ergänzten "Baller" visuell wunderbar und machten aus dem deutschen Beitrag endlich eine Darbietung, die es sich in Gänze anzuschauen lohnt. Trotz stellenweise nur solidem Gesang machte "Baller" im ESC-Finale Hoffnung, dass Deutschland auch künftig mit moderner Musik, einem eingängigen Refrain und einer coolen Darbietung für Begeisterung sorgen kann - wenn schon nicht in ganz Europa, dann immerhin im eigenen Land.

Da für Stefan Raab, den Entdecker von Abor & Tynna, der Eurovision Song Contest in erster Linie ein Contest ist, lohnt sich zur Beurteilung seiner diesjährigen Mitwirkung ein Blick auf das Resultat des Abends: Den Sieg erreichte diesmal der österreichische Countertenor JJ mit seiner poetischen Pop-Opernarie "Wasted Love" über unerwiderte Liebe, womit er vor allem die Fachjurys überzeugte, während JJ im Televoting nur auf einem vierten Platz landete.

Das Televoting wiederum gewann die israelische Teilnehmerin Yuval Raphael mit ihrer Ballade "New Day Will Rise" - und damit begann abermals eine Debatte darüber, ob und wie Solidaritätsbekundungen durch Abstimmung mit einem fairen Musikwettbewerb zu vereinen sind. Lassen sich mutmaßlich politische Bekundungen via Televoting eindämmen, indem man zum Beispiel die Anzahl maximal abzugebenden Stimmen von derzeit 20 drastisch reduziert? Natürlich gab es auch wieder Stimmen, die Israel ganz aus dem Wettbewerb ausschließen wollten.

Raab übernimmt Verantwortung

Stefan Raabs selbstgestecktes Ziel, mit "Baller" den ESC zu gewinnen, hat der Entertainer letztlich klar verfehlt: Abor & Tynna erreichten mit 77 Punkten von den Jurys und 74 Punkten vom Publikum den 15. von 26 Plätzen. Das sind zwar mehr Punkte als im Vorjahr, gleichzeitig aber eine schlechtere Platzierung. Für Raab stellt dieses Resultat trotz der ersten "12 Points" seit sieben Jahren sogar die schlechteste ESC-Platzierung unter seiner Mitwirkung dar.

Raab sah es kurz nach der Siegerehrung gelassen: Er zollte Abor & Tynna Respekt für ihre Leistung und verwies auf die starke Konkurrenz. Man wisse nicht, "wie die Leute, die abstimmen, ticken", resümierte Raab in der Aftershow nach dem Finale - ein schwaches Eingeständnis nach Monaten vollmundigen und sich selbst überschätzenden Siegeseifers. Wie angekündigt, übernahm Raab "die Verantwortung für das Ergebnis beim ESC-Finale", so wie auch "für den Quotenerfolg bei der ARD und bei RTL beim Vorentscheid".

Mehr Aufmerksamkeit für den ESC

Was genau das heißt, konkretisierte der selbsternannte Chef nicht. Ob RTL und Raab sich ab kommendem Jahr wieder aus der Vorauswahl zum ESC zurückziehen, bleibt somit offen. Gestiegene Zuschauerzahlen für den ESC-Vorentscheid und die ESC-Liveshows sprechen dafür, dass es der Allianz aus ARD, RTL und Raab Entertainment zumindest gelungen ist, mehr Aufmerksamkeit für den ESC zu schaffen.

Schon in den vergangenen Wochen hatte Raab in seiner wöchentlichen RTL-Show immer wieder auf den ESC aufmerksam gemacht, indem er die deutschen Kandidaten Abor & Tynna, die Vorentscheid-Jurorin Yvonne Catterfeld oder ESC-Moderatorin Michelle Hunziker zum Talk eingeladen hatte. In der ESC-Woche selbst sendete Raab sogar ein zweistündiges "Chefsache ESC"-Special live aus Basel. In der RTL-Show machte sich Raab nicht nur über Kandidaten aus dem moldauischen Vorentscheid lustig, sondern auch über den Gesang der am Vortag im Halbfinale ausgeschiedenen Aserbaidschaner. Kollegialer Umgang unter ESC-Kandidaten sieht anders aus, gerade aus Sicht eines vorqualifizierten Landes.

Manchmal versagt auch das Publikum.

Ziel der Kooperation von ARD und RTL scheint auch gewesen zu sein, Raab zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Diese verschaffte er sich auch mit der dreiteiligen Dokureihe "Stefan Raab - Mein ESC: Chefsache Abor & Tynna" (NDR/HR), in der Raab und seine Weggefährten von seinen Erfolgen beim ESC schwärmen, während zwischendurch das erfrischend amüsante Geschwisterduo Abor & Tynna auf dem Weg zum Vorentscheid und bis nach Basel begleitet wird.

Zwischen viel Bekanntem gibt es in der Doku durchaus interessante Szenen, etwa in Form von altem Filmmaterial, das Raab beim Komponieren seines Hits "Guildo hat euch lieb" zeigt, oder in manch einer pointierten Aussage Raabs. "Manchmal versagt halt auch das Publikum", sagte er über den achten Platz von Max Mutzke beim ESC 2004. Gut vorstellbar, dass er jetzt, 21 Jahre später, erneut so über sein Abschneiden beim ESC denkt.

Podcast "ESC Update"

Das werktägliche Kurzformat "ESC vor acht" ist in der ESC-Woche leider weitgehend zur Promotionsfläche für den Doku-Dreiteiler von Raab Entertainment verkommen. Doch dass der ESC auch ohne allzu große Raab-Fixierung im ARD-Programm stattfinden kann, bewiesen auch dieses Jahr wieder die ESC-Berichterstattung im Boulevard-Magazin "Brisant" sowie - sehr viel mehr in die Tiefe gehend - mehrere Ausgaben der Online-Show "Alles Eurovision" vom NDR und die tägliche Berichterstattung im NDR-Podcast "ESC Update".

Hinzu kam diesmal mit "Lovely Lena - 15 Jahre Satellite" eine kurze Fernsehshow bei One, die sich dem Jubiläum des letzten deutschen ESC-Sieges widmete, dabei allerdings ohne Lenas Mitwirkung auskommen musste. Das Format von Julius Deuper fügte dem alljährlichen öffentlich-rechtlichen ESC-Rückblick-Wahn zwar eine neue Facette hinzu, ließ aber neue Erkenntnisse vermissen - wenn man die überraschende Tatsache außer Acht lässt, dass der seit Jahren totgesagte Digitalsender überhaupt noch eigenes Neues wagt.

"Pop Secret Stories"

Umso schöner, wenn es weitere neue journalistische Angebote gibt, die den Eurovision Song Contest ernsthaft näher verstehen wollen. Wie der Podcast "Wie gewinnt man den ESC?" von Radio Bremen, in dem Journalist Daniel Kähler, mit offizieller ESC-Einkaufstasche und offiziellem ESC-Notizbuch ausgestattet, ehemaligen Kandidaten ihr Insider-Wissen zu entlocken versucht. In den vier Folgen kommt er mit Conchita Wurst oder Isaak in heitere und durchaus auch tiefsinnige Gespräche und kann in seinen Talks allerlei Zutaten für erfolgreiche ESC-Teilnahmen in Erfahrung bringen.

Mit "Pop Secret Stories" startete der BR im Umfeld des ESC zudem ein neues Format "zu popkulturellen Hype-Themen" und "spannenden Schlüsselmomenten, die alles ausgelöst oder verändert haben". Die erste Folge ging in knapp 15 Minuten der etwas zu groß aufgeblasenen Frage auf den Grund, wie Conchita Wurst den ESC gerettet hat. Der kurzweilig gestaltete Film von Lena Walbrunn schaffte es dennoch mit Witz und Tiefgang, den bis dato letzten österreichischen ESC-Sieg mit viel weiterführendem Wissen anzureichern und in einen größeren Kontext zu setzen. Diese Premiere machte auf die nächsten Ausgaben des wöchentlich erscheinenden Formats neugierig.

Basel im ESC-Fieber

Gewohnt ambitionslos hingegen ist das Rahmenprogramm rund ums ESC-Finale im Ersten geraten. Wie schon im Vorjahr versuchte Barbara Schöneberger, das ESC-interessierte Publikum am Samstagabend auf die Finalshow einzustimmen und dabei abermals die wichtigsten Fragen des Abends zu klären: Wer sind Abor & Tynna, wer ist JJ und wo ist denn nun Céline Dion? Wenigstens erhielten die Zuschauer auch noch Einblicke in das bunte Treiben Basels im ESC-Fieber.

Bemerkenswert war am Finalabend "Das Wort zum Sonntag", das traditionell kurz vor Beginn der Finalshow im Ersten ausgestrahlt wird. Statt mit einem Monolog überraschte der evangelische Pfarrer Alexander Höner im Glitzeranzug das Publikum vor den Fernsehern mit einem pointierten Dialog. Seine Gesprächspartnerin: die lesbische Kabarettistin Maren Kroymann. Mit ihr unterhielt sich Höner knapp vier Minuten lang über Diskriminierung queerer Menschen und über Regenbogenflaggen. Dass diese auf der ESC-Bühne nun nicht mehr von den Kandidaten gezeigt werden dürfen, enttäuschte nicht nur manchen ESC-Fan, sondern offenbar auch Kroymann, die sich mit diesem Auftritt am Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit dafür aussprach, Flagge zu zeigen - "was man über den ESC dieses Jahr leider nicht sagen kann".

infobox: 9,13 Millionen Zuschauer verfolgten das vierstündige ESC-Finale am 17. Mai im Ersten und bei One. Der Marktanteil lag nach Angaben der ARD bei 46,8 Prozent, dies sei der beste Marktanteil seit 14 Jahren. Bei den 14- bis 29-Jährigen betrug der Marktanteil 78,8 Prozent. Die Live-Streams des Finales wurden in der ARD-Mediathek und bei "Eurovision.de" insgesamt 3,22 Millionen Mal abgerufen. Die Show "ESC - der Countdown" mit Moderatorin Barbara Schöneberger hatte ab 20.15 Uhr 5,27 Millionen Zuschauer im Ersten und bei One, "ESC - die Aftershow" verfolgten ab 0.55 Uhr in den beiden Sendern insgesamt 3,00 Millionen Zuschauer.

Dass der NDR das nicht besonders aufwendig gestaltete Rahmenprogramm vor und nach dem ESC-Finale wieder in Kooperation mit dem ORF veranstaltete, führte wie schon im Vorjahr, als auch der SRF an Bord war, zu der bemerkenswerten Situation, dass Barbara Schöneberger als Moderatorin der Gemeinschaftssendung in kleiner Runde plötzlich den ESC-Sieg einer beteiligten Anstalt zu feiern hatte. So wiederholte sich das, was schon im Vorjahr etwas lächerlich anmutete: Schöneberger und ihre Gäste freuten sich im kleinstmöglichen Rahmen über den gerade gesehenen Sieg bei der größten Musikshow der Welt. Keine Schalte zu feiernden Österreichern in Wien, kein Außenreporter bei den Fans in Basel. Statt am Siegestaumel Österreichs teilzuhaben, träumte Schöneberger schon vom Schnitzelessen im Nachbarland. Vorfreude ist nun mal die größte Freude.

SWR übernimmt ESC-Verantwortlichkeit

Was im nächsten Jahr außer Schnitzel noch zu erwarten ist, ist aus deutscher Sicht so offen wie lange nicht mehr. Mit dem Wechsel der ESC-Verantwortlichkeit vom NDR zum SWR wird sich fortan eine andere Anstalt mit der deutschen Teilnahme am ESC befassen. NDR-Intendant Joachim Knuth dankte "dem Team des NDR, das mit so viel Begeisterung, großem Einsatz und auch etwas Wehmut diese letzte Show in Verantwortung des Norddeutschen Rundfunks organisiert hat", und wünschte dem SWR ganz fixiert auf das Resultat "eine glückliche Hand und möglichst oft: Germany, zwölf Points".

Es wird keine einfache Aufgabe sein, einen überzeugenden Beitrag für die nächste Show zu finden, womöglich einen gelungenen Vorentscheid zu veranstalten und mit umfassender Berichterstattung Vorfreude auf den ESC sowohl bei Zuschauern als auch bei Künstlern zu wecken. Wenn der SWR auf den Stärken der NDR-Ära aufbaut und aus Erfolgen wie Lenas Sieg, aus Misserfolgen anderer Jahre und aus der in Fan-Kreisen geschätzten Arbeit des "Eurovision.de"-Teams lernt, braucht man im Südwesten nicht bei Null zu beginnen. Sondern bestenfalls bei Zwölf.

Lukas Respondek Copyright: Foto: fernsehserien.de Darstellung: Autorenbox Text: Lukas Respondek ist Fernsehkritiker und Redakteur bei "fernsehserien.de" und "TV Wunschliste".



Zuerst veröffentlicht 19.05.2025 11:55 Letzte Änderung: 19.05.2025 12:52

Lukas Respondek

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Musik, Eurovision Song Contest, ESC, BER, NEU

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