03.03.2025 15:33
Nur wenige Wochen nach seinem Comeback im Fernsehen verkündete Stefan Raab, der seit September bei RTL wieder Quizshows moderiert, er wolle den Eurovision Song Contest gemeinsam mit RTL und NDR zur "Chefsache" machen. In vier Primetime-Liveshows sollte der nächste ESC-Act für Deutschland bestimmt werden - der genaue Ablauf blieb bis zur Finalwoche Ende Februar unklar. Fest stand aber: Die Entscheidung sollte am Samstagabend im Ersten fallen.
Wie schnell die ARD dem Vorentscheid mit Raab einen prominenten Primetime-Sendeplatz am Samstagabend verschaffen konnte, nachdem sie in den Vorjahren nur einen Sendeplatz nach 22 Uhr zur Verfügung stellte, erstaunte, zumal viele konzeptionelle Fragen bei der Verkündung der Zusammenarbeit zwischen NDR, RTL und Raab Entertainment noch gar nicht geklärt schienen. Raab macht es möglich.
"Das Deutsche Finale" aus dem Vorjahr war jedenfalls Geschichte - ein abermals neues Verfahren war gefunden, für das sich fast fünfmal so viele Künstler bewarben wie noch im vorigen Jahr. Stefan Raab wird nach seinen ESC-Erfolgen, zu denen auch die Entdeckung der späteren ESC-Siegerin Lena Meyer-Landrut gehörte, offensichtlich mehr Kompetenz zugetraut als dem NDR, der seit dem Ende der Kooperation mit Raabs damaligem Haussender ProSieben kein glückliches Händchen bei der Auswahl eines international aussichtsreichen Acts bewiesen hat.
Wie praktisch also, dass Stefan Raab zurückgekehrt ist und den ESC nun zur "Chefsache" machen wollte. Er nahm mit seiner Produktionsfirma das Auswahlverfahren selbst in die Hand, kündigte an, er wolle den ersten Platz beim ESC-Finale in Basel erreichen und übernahm die Verantwortung, sollte ihm dies nicht gelingen. Sein Ehrgeiz war geweckt.
An zwei aufeinanderfolgenden Abenden Mitte Februar fanden die ersten beiden "Chefsache ESC 2025"-Liveshows in Hürth bei Köln statt. Jeweils zwölf Einzelkünstler, Duos und Bands traten bei RTL mit Coversongs oder älteren Liedern ihres eigenen Repertoires auf. Eine Jury, zu der neben Stefan Raab auch "Musikkonsument" Elton, Sängerin Yvonne Catterfeld sowie ein jeweils wechselnder Gast gehörten, entschied alleine, ohne Publikumsabstimmung, welche jeweils sieben Künstler eine Runde weiterkommen sollten. Erst in der dritten Show sollten diese ihren originären, für den ESC gedachten Song präsentieren.
So großartig es auch ist, dass 24 junge Künstler ihr Talent und in einigen Fällen auch ihr bisheriges musikalisches Schaffen auf einer Primetime-Bühne zeigen können, drängt sich die Frage auf, ob die Darbietung von ohnehin nicht für den ESC infrage kommenden Songs überhaupt eine geeignete Bewertungsgrundlage für die Chancen beim ESC bildet. Dass in diesen Liveshows bemerkenswerterweise nur die Jury entschied, welche Kandidaten es ins Halbfinale schaffen würden, weckte weitere Zweifel am Sinn dieser Vorrunden-Shows.
Losgelöst von dem in den Vorrunden aus den Augen verlorenen Ziel, einen starken ESC-Beitrag zu finden, glänzten die "Chefsache"-Vorrunden nicht mit innovativen Elementen. In längst bekannten Casting-Show-Abläufen wurde ein Künstler in einem Einspieler vorgestellt, bevor er seinen Coversong sang und sich die Beurteilung der Jury anhörte.
In Sesseln vor der Bühne platziert, machten sich die Juroren während der Auftritte Notizen, als seien sie Investoren in der "Höhle der Löwen", um anschließend sehr wohlwollende Urteile abzugeben. Raab kam bei gleich mehreren Songs gar nicht mehr aus dem Schwärmen heraus. Seine Begeisterung für das hübsche Gesicht eines Kandidaten formulierte er so: "Kannst 'n Stempel draus machen."
Barbara Schöneberger, die als NDR- und RTL-Gesicht die naheliegende Wahl für die Moderation dieser öffentlich-rechtlich-privaten Kooperation war, punktete überraschend mit Disziplin: Fiel sie in den vergangenen Vorentscheiden noch durch überschaubare inhaltliche Vorbereitungen und viel zu lange Talks auf, behielt sie diesmal die Zügel straff in der Hand, nahm die Kandidaten auch vor manch skurrilem Juryurteil in Schutz und bremste Stefan Raab aus, wenn dieser sich in seinen Bewertungen vergaloppierte und lieber angestaubte Witze erzählte.
Fester Bestandteil jeder der vier "Chefsache"-Shows waren die Heavytones, die Raab seit Jahrzehnten als Studioband begleiten. Die Kandidaten der Show mussten ihre Songs nämlich nicht nur live singen, sie wurden auch noch mit Livemusik begleitet. Dies mag in einer TV-Musikshow erfreulich sein, da es nicht üblich ist, schießt aber am Ziel vorbei, da die Musik beim ESC längst nicht mehr live gespielt wird. Warum nun ausgerechnet in einen ESC-Vorentscheid eine Liveband eingebaut wurde, blieb ebenso unergründlich wie der Nutzen der vielen Cover-Auftritte.
Im Halbfinale, der letzten bei RTL gezeigten "Chefsache"-Show, präsentierten die 14 übriggebliebenen Kandidaten immerhin ihre potenziellen ESC-Songs, die neben Elektro und Rock auch viel Pop abdeckten, andere beliebte Genres wie Schlager hingegen ganz außen vor ließen. Abermals bewertete die Jury jeden Auftritt. Insbesondere Raabs breitbeinige Urteile waren oft schwer nachvollziehbar und geprägt von einem unangenehm besserwisserischen Duktus. Wieso er und sein Team überhaupt Kandidaten in die Show nahmen, deren ESC-Songs Raab offenkundig nicht überzeugten, bleibt rätselhaft.
Das gilt auch für die Frage, warum nicht gleich diese dritte Show als Finale des Vorentscheids diente. Stattdessen folgte am Samstagabend eine vierte Show im Ersten, die das wohl längste Vorentscheid-Finale im deutschen Fernsehen gewesen sein dürfte.
In der mehr als drei Stunden dauernden Liveshow sangen die verbliebenen neun Acts nicht nur erneut ihren potenziellen ESC-Beitrag, sondern zuvor jeweils auch einen weiteren Coversong, dessen Darbietung für den Erfolg beim ESC keine Bedeutung hat und somit nicht in das finale Voting des Publikums einfließen sollte. Warum man dennoch jedem Act am Finalabend diese zusätzliche Belastung aufbürdete, ist wohl nur damit zu erklären, dass die Sendezeit gefüllt werden musste.
infobox: Die Auswahlshow für den deutschen Beitrag für den Eurovision Song Contest, "Chefsache ESC 2025 - Wer singt für Deutschland?" verfolgten nach Angaben des NDR am 1. März im Ersten und bei One im Schnitt 3,68 Millionen Zuschauer ab drei Jahren. Der Marktanteil im Ersten lag bei 16,7 Prozent des Gesamtpublikums. In der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen schalteten im Schnitt 1,17 Millionen Zuschauer das Erste und One ein, der Marktanteil lag hier bei insgesamt 27,6 Prozent. Gewinner des Vorentscheids ist das Duo Abor & Tynna mit dem Song "Baller". Es kam beim Publikumsvoting auf 34,9 Prozent der Stimmen. Das Publikum konnte per Televoting, SMS und online abstimmen. Das Duo vertritt am 17. Mai Deutschland beim Eurovision Song Contest in Basel.
Zwar saß mit Conchita Wurst wenigstens eine pointiert kommentierende ESC-Siegerin in der Jury der Finalshow, doch über die völlig ESC-fremden Darbietungen der Juroren Nico Santos und Yvonne Catterfeld und des "Bundesmusikkanzlers" Stefan Raab tröstete dies nicht hinweg. Dass Raab die Finalbühne dann auch noch nutzte, um seinen Wahlkampf-Hit "Rambo Zambo (Was is Bubatz?)" über CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz live zu performen, freute wohl auch nicht jeden ESC-Fan. Immerhin, der nordrhein-westfälische Medienminister Nathanael Liminski tanzte in der ersten Reihe zu den Worten seines Parteichefs mit.
Für Aufregung unter ESC-Fans sorgte vier Tage vor dem Finale die Ankündigung, dass die Entscheidung über den deutschen Act zwar wie angekündigt durch das Publikum erfolgen sollte, diesem Televoting jedoch eine weitere Juryabstimmung vorgeschaltet werde, durch das vier der neun Finalisten nicht zur Publikumsabstimmung gelangen würden. Schnell wurde der Vorwurf laut, Raab würde damit dem bis dato auf Youtube gefragtesten Act, der Mittelalter-Rockband Feuerschwanz, die Chance auf den Sieg nehmen wollen.
Tatsächlich entschied sich die Jury gegen Feuerschwanz, auch weil die beim ESC abstimmenden Zuschauerinnen laut Frauenversteher Raab einen "balladigen, melancholischen Song" bevorzugen. In der Pre-Show "Alles Eurovision" widersprach Raab wenige Minuten vor dem Finale dem Vorwurf, es handele sich um eine Regeländerung. "Das war immer so gedacht", behauptete Raab. Vor der Finalwoche war dies jedoch nicht mitgeteilt worden.
So setzte sich am Ende des erschreckend öde aufgebauten und erneut einfallslos inszenierten Finales der schnelle Elektrotrack "Baller" des österreichischen Geschwisterduos Abor & Tynna durch, der zwar überaus jung und modern daherkommt, im Finale jedoch unüberhörbare gesangliche Schwächen aufwies.
Nach ihrem Auftritt ist es schwer vorstellbar, dass die beiden jungen Österreicher für Deutschland den ersten Platz in der Schweiz erreichen werden. Raabs selbst gestecktes Ziel wäre damit verfehlt - und die Frage, wie es im nächsten Jahr mit dem Auswahlprozess weitergeht, stellt sich neu. Denn dann übernimmt der SWR die Federführung für den ESC.
Wünschenswert wäre ein gut durchdachter Neuanfang, der mehr Stabilität in das Auswahlverfahren bringt. Denn die zuletzt jährlich wechselnden Auswahlmodi, Vorentscheid-Konzepte und Showtitel strahlen so wenig Beständigkeit und Zuverlässigkeit aus, dass die Frage, in welchem Format die ARD denn diesmal ihren Act auswählt, jedes Jahr spannender zu sein scheint als der Vorentscheid selbst. Ob der ESC auch künftig nur eine Nebensache bleibt, entscheidet sich also im Südwesten.
Copyright: Foto: fernsehserien.de
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Text: Lukas Respondek ist Fernsehkritiker und Redakteur bei fernsehserien.de und TV Wunschliste.
Zuerst veröffentlicht 03.03.2025 16:33 Letzte Änderung: 03.03.2025 16:35
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Shows, ESC, Eurovision Song Contest, Respondek, NEU
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