08.07.2025 08:49
Michel Friedmans leidenschaftlicher Weckruf gegen den Rechtsruck
epd Der stellvertretende baden-württembergische Ministerpräsident Thomas Strobl, der Grünen-Politiker Cem Özdemir, der in Baden-Württemberg Ministerpräsident werden möchte und Campino, der Sänger der Toten Hosen - auf der Bühne der vom Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart veranstalteten Branchentagung Dokville standen in diesem Jahr viele namhafte Personen, die beruflich keinen Bezug zur Produktion von Dokumentationen und Dokumentarfilmen haben. Die Tagung fand Ende Juni bereits zum 20. Mal statt. "Rechtsruck Deutschland - Dokumentarische Positionen" lautete der Titel.
Die nachhaltigste Wirkung unter den prominenten Impulsgebern hinterließ der Publizist Michel Friedman. Er prangerte in einer frei gehaltenen, mehr als 30 Minuten dauernden Rede die Lethargie der Mehrheitsgesellschaft im Umgang mit Rechtsextremismus an. Das "Problem", so Friedman in seinem leidenschaftlichen Weckruf, seien nicht jene, die die Demokratie abschaffen wollen. Das Problem seien "wir", die nicht begriffen, dass Demokratie anstrengend sei.
Von was für Demokraten reden wir da?
Bezug nehmend auf ein Panel mit Rechtsextremismusexperten wie Ann-Katrin Müller ("Spiegel"), sagte Friedman: Wenn davon die Rede sei, dass der Anteil der Demokraten "70 oder 80 Prozent" betrage - je nachdem, auf welche Studie oder welches Wahlergebnis man sich beziehe: "Von was für Demokraten reden wir denn da: Von gelangweilten Demokraten? Von dekadenten Demokraten?"
Manchmal erstaune ihn, dass man den Gegnern der Demokratie "einfach nicht zuhört und glaubt, was sie sagen", ereiferte sich Friedman. Dabei gelte doch in Deutschland wie in Ungarn oder "Trumpland": "Sie meinen genau das, was sie sagen, und sie beweisen es uns jeden Tag." Und wenn wir, die Medienleute, sie ernst nehmen würden, "dann müssten wir anders mit ihnen umgehen".
Die anwesenden Filmemacher kritisierten ebenfalls die unzureichenden Reaktionen auf rechtsextreme Entwicklungen. Dirk Laabs - Autor der Arte-Dokumentation "World White Hate" - erzählte, ihm hätten Mitglieder der Gruppe Omas gegen Rechts berichtet, sie würden jetzt Selbstverteidigungskurse besuchen. Dass die Vorfahren der Personen, die diese älteren Frauen angreifen, "Menschen ins Gas geschickt haben", werde "in der Konsequenz nicht begriffen", meinte Laabs.
Eine Partei, die die Würde als Menschen als antatstbar empfindet.
Friedman plädierte für einen grundlegend anderen Umgang mit der AfD: "Wir reden von einer Partei, die die Würde des Menschen als antastbar empfindet." Journalistinnen und Journalisten sollten sich bewusst sein, "dass sie, wenn sie mit Frau Weidel oder wem auch immer im Kontakt sind, mit jemandem im Kontakt sind, der die Demokratie vernichten will und damit auch die Geschäftsgrundlage unseres Berufes."
Der im Januar aus der CDU ausgetretene Friedman knüpfte damit an Kritik an, die zuletzt der Politikwissenschaftler Mark S. Copelovitch von der University of Wisconsin-Madison formuliert hatte. Zur Lage in den USA sagte Copelovitch im Juni in einem Politik-Podcast, weder die dortigen Medien noch "unser politisches System" seien "für den Umgang mit einer rechtsextremen, autoritären Partei ausgelegt". Die Medien berichteten über Politik wie in den 1990er Jahren - als stünden sich immer noch ein Mitte-Rechts-Lager und ein Mitte-Links-Lager gegenüber.
Wir leben in einer Zeit, in der die Welt verhandelt wird.
Ähnliches hatte der Medienwissenschaftler Curd Knüpfer Ende März im Gespräch mit dem Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediares" bemängelt: Angesichts der "wirklich hochgradig besorgniserregenden" Entwicklungen in den USA sollte es "nicht die Aufgabe der Medien sein, die Leute (…) ruhig zu halten". Die Institutionen des Journalismus müssten die "Heuristiken des 20. Jahrhunderts", also ihre lange bewährten Methoden und Regeln, hinterfragen.
Eine dieser Regeln kritisierte Friedman konkret so: "Ich kann die AfD nicht behandeln wie alle anderen Parteien, weil sie nicht am Rand der Demokratie ist, sondern außerhalb." Angesichts des runden Dokville-Geburtstages war es angemessen, dass Friedmann nicht nur auf der Makroebene blieb: "Wir leben gerade in einer Zeit, in der die Welt verhandelt wird - auch dieser Raum." In einem autokratisch regierten Deutschland, deutete Friedman damit an, würde es die Dokville nicht mehr geben.
Zuerst veröffentlicht 08.07.2025 10:49
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Film, Dokumentarfilm, Dokumentation, Tagungen, Dokville, Friedman, Martens
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