Komplexe Wirklichkeit - epd medien

16.08.2025 09:15

In der Bundespressekonferenz am 31. August 2015 sagte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren berühmten Satz "Wir schaffen das!", als es um die Aufnahme von Zehntausenden Flüchtlingen aus dem vom Bürgerkrieg zerstörten Syrien ging. In der ZDF-Dokumentation "Am Puls" beschäftigt sich Sarah Tacke mit der Frage, was in der Migrationspolitik tatsächlich geschafft wurde.

Dokumentation von Sarah Tacke zu "10 Jahre 'Wir schaffen das'"

Sarah Tacke im Gespräch trifft Haithem Lafi in dessen Laden

epd Politische Inhalte auf wenige einprägsame und wiedererkennbare Gesten und Sätze zu reduzieren, das beherrschte die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ihre von den Händen geformte Raute und ihr Satz "Wir schaffen das" haben sich eingeprägt und sind auch Jahre nach ihrer Amtszeit noch bekannt. Der Satz galt der unmittelbaren Aufnahme zahlreicher syrischer Flüchtlinge ohne Anwendung des bis dahin in der Europäischen Union üblichen Dublin-Verfahrens. Merkel sagte diesen Satz in der Bundespressekonferenz am 31. August 2015. Das ZDF nahm das zum Anlass, die naheliegende Frage zu stellen, ob es denn inzwischen geschafft ist.

Jein, lautet die Antwort des Presenter-Formats von und mit Sarah Tacke, der Leiterin der ZDF-Redaktion Recht und Justiz. Die Frage eindeutig zu bejahen, verbietet sich angesichts der Krisen, in denen Deutschland steckt, und der von Merkels Nachfolgern postulierten migrationspolitischen Wenden. Die Frage zu verneinen, verbietet sich schon deshalb, weil die Medien, allen voran die öffentlich-rechtlichen, Merkels Haltung zu Beginn weitgehend unterstützt hatten. Obwohl die Antwort also nicht überrascht, kann es sich lohnen, die Dokumentation anzusehen.

Positive Beispiele für Integration

Wie schon in ihrer Dokumentation zum Thema Corona schreitet Tacke, häufig frontal in die Kamera sprechend, zügig durchs Land. Und landet an Orten, die selten ins Fernsehen kommen, obwohl (oder weil?) sie schnell aufschlussreiche Bilder liefern. Zum Beispiel in der tristen Fußgängerzone von Lebenstedt, dem größten Stadtteil Salzgitters. Dort trifft die Presenterin, die auf Internet-Plattformen Gesprächspartner gesucht hat, den Syrer Haithem Lafi, der hier einen Kleiderladen betreibt, weil sein Berufsabschluss als Zahnlabor-Mechaniker in Deutschland nicht anerkannt wurde. In Salzgitter "gibt es viele muslimische Leute, viele Moscheen", sagt Lafi in recht gutem Deutsch, und auch wer nicht gut Deutsch spreche, komme gut zurecht. Salzgitter sei "wie eine arabische Stadt". Eine Männerrunde in der Wohnung des Mannes, in der Tacke zu Gast ist, illustriert die Aussage. Tacke betont, dass alle diese Männer arbeiten.

Als besonders positives Integrations-Beispiel sucht sie einen Mann im bayerischen Franken auf, der seinen Namen Muhammad änderte, um nicht als "Islamist" zu erscheinen, und als Lehrer unter anderem für Deutsch arbeitet, nachdem er sich die Sprache im Flüchtlingslager selbst beigebracht hatte. Für das ZDF rappt er an seinem Klavier - auf Deutsch.

Ein Syrer schimpft auf Tunesier

Negative Beispiele findet der Film am Regensburger Hauptbahnhof, der als "Kriminalitäts-Hotspot" überregional bekannt wurde, weil die schweren Straftaten sich binnen weniger Jahre mehr als verdoppelten. Hier begleiten Tacke und die Kamera eine Polizeistreife. Ein Syrer schimpft auf Tunesier, weil diese den Ruf der Migranten beschädigten. Im Bild erscheinen Zahlen zur ethnischen Herkunft von Straftätern. Danach begingen im Jahr 2024 in Regensburg 513 Tunesier und 332 Syrer Gewaltkriminalitäts-Delikte.

In Dresden besucht Tacke die Leiterin einer Kita mit 16 Kindern, die sieben verschiedene Muttersprachen sprechen. Sie hatte sich auf Tackes Aufruf gemeldet und zeigt, wie gut Integration bei den Kleinsten funktionieren kann. Dafür, dass alle Kinder perfekt Deutsch sprechen, wenn sie den Kindergarten verlassen, mangelt es allerdings an Kindern, die Deutsch als Muttersprache sprechen. "Mehr Lehrer, mehr Sicherheitspersonal, mehr Streetworker" bräuchte es, sagt in Salzgitter eine Frau, die sich 2015 in der Flüchtlingshilfe engagierte, inzwischen aber von der Entwicklung in ihrer Stadt besorgt ist.

Differenziertes Bild

Schließlich liefert ein Deutsch-Syrer noch Bilder aus seiner ursprünglichen, vom langen Bürgerkrieg zerstörten und noch immer nicht wirklich friedlichen Heimat. Er sagt, er wolle zwischen Deutschland und Syrien pendeln.

Tacke hat unterschiedliche, gut ins Bild gesetzte Impressionen aus Milieus gesammelt, die es nicht oft ins Fernsehen schaffen. So entsteht in 45 Minuten ein differenziertes Bild der komplexen Realität, die sich in den vergangenen zehn Jahren deutlich verändert hat. Es schillert vielfältiger und ist ambivalenter als in den zahlreichen kürzeren Nachrichten- und Magazin-Beiträgen zum Themenfeld. Tackes Fazit: Integration ist anstrengend. Für beide Seiten.

Formal stört an dem routiniert flott montierten Film allenfalls das unmotiviert aus dem Off eingespielte Geklimper. Dieser Ausgabe von "Am Puls" tut es gut, dass Parteipolitik keine Rolle spielt. Hier äußern sich überhaupt keine Politiker. Davon könnten andere fernsehjournalistische Formate lernen.

infobox: "Am Puls mit Sarah Tacke: Flucht und Krise - 10 Jahre 'Wir schaffen das'", Dokumentation, Regie und Buch: Hanna Günther, Julia Lösch, Sarah Tacke, Kamera: Leonard Bendix, Sebastian Wagner u. a., Produktion: Bewegte Zeiten (ZDF-Mediathek, seit 14.8.25, ZDF, 14.8.25, 22.15-23.00 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 16.08.2025 11:15

Christian Bartels

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KZDF, Tacke, Günther, Lösch, Bartels

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