"Ich bin ein Freund der Besonnenheit" - epd medien

05.12.2025 08:00

NDR-Intendant Hendrik Lünenborg hält Debatten in der Redaktion für einen "Grundpfeiler der Pressefreiheit". Seiner Meinung nach gibt es im Norddeutschen Rundfunk eine "große Vielfalt an Stimmen und Meinungen", aber er wünscht sich noch mehr Perspektivenvielfalt. Diemut Roether und Marcel Maack sprachen mit Lünenborg, der seit September im Amt ist, über Regionalisierung, den Dialog mit dem Publikum und die Debattenkultur im Sender.

Ein epd-Interview mit NDR-Intendant Hendrik Lünenborg

Hendrik Lünenborg ist seit September NDR-Intendant

Herr Lünenborg, Sie hatten als Intendant Anfang September einen schwierigen Start. Knapp drei Wochen nach Ihrem Amtsantritt teilte der NDR mit, dass er das Format "Klar", das Julia Ruhs moderierte, fortführen wird, aber ohne Julia Ruhs. Es gab laute Empörung, sogar Ministerpräsidenten kritisierten diese Entscheidung. Es gab um das Format im Sender sehr heftige Diskussionen, auch mehrere Programmbeschwerden waren eingegangen. Sie selbst hatten "Klar" nicht zu verantworten, das Format wurde seit 2023 vom NDR zusammen mit dem BR entwickelt. Welche Fehler sind Ihrer Einschätzung nach bei der Einführung des Formats gemacht worden?

Hendrik Lünenborg: Bestimmte redaktionelle Zuständigkeiten waren aus meiner Sicht nicht klar genug geregelt. Das ist der erste Punkt, an dem wir bereits gearbeitet haben. Und die Unruhe, die im Haus durch die erste Folge von "Klar" entstanden ist, ist nicht so aufgearbeitet worden, wie das zum NDR gut gepasst hätte.

Was hätte passieren müssen?

Wir müssen Debatten über solche Formate zulassen, das gehört zum Kerngeschäft von Redaktionen. Aber wie debattiert wird, muss auch bestimmten Regeln folgen. Deshalb habe ich relativ schnell ein Programm zur Stärkung der Debattenkultur ausgerufen. Das setzen wir gerade um. Ich bin davon überzeugt, dass Debatten in der Redaktion der Grundpfeiler von Pressefreiheit sind. Wenn wir keine geschützten Räume haben, in denen wir auch heftig miteinander streiten, werden die Produkte nie gut werden. Wir beschäftigen uns nicht erst seit "Klar" mit Perspektivenvielfalt. Das habe ich bereits in meiner Bewerbung als Intendant deutlich als Handlungsfeld beschrieben. Wir haben Perspektivenvielfalt in den Programmen, aber ich will Perspektivenvielfalt plus. Ich möchte, dass wir uns noch stärker damit auseinandersetzen, wie man Themen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten kann. Da haben wir an einigen Stellen Verbesserungsbedarf.

Fehlen konservative Stimmen im NDR?

Nein, das ist mir als Aussage zu pauschal. Wir haben eine große Vielfalt an Meinungen und Stimmen, doch die öffentliche Wahrnehmung fokussiert sich bei uns sehr auf das Erste und alle Sendungen nach 20 Uhr. Dabei gerät aus dem Blick, was wir jeden Tag in unseren Programmen leisten. Ich kann zum Beispiel bei NDR Info, unserem Informationsprogramm, kein Vielfaltsdefizit erkennen.

Haben wir genug Leidenschaft für die Wirklichkeit?

Welche konservativen Stimmen können Sie mir nennen im NDR?

Meine journalistische Auffassung funktioniert nicht in den Leitlinien Links und Rechts. Ich bin deshalb so gern beim NDR, weil ich nie darauf festgelegt wurde, auch nicht bei meiner Wahl zum Intendanten. Ich habe Journalismus immer als Handwerk gesehen. Und wenn Sie ein Handwerker sind, folgen Sie bestimmten Qualitätsstandards. Mein Thema ist nicht links, rechts, konservativ, progressiv oder was auch immer, mein Thema ist: Haben wir genug Leidenschaft für die Wirklichkeit? Haben wir genug Perspektivenvielfalt? Sind wir in der Lage, die Themen zu entdecken, die die Menschen umtreiben? Wie wir zu mehr Perspektivenvielfalt kommen, dazu habe ich in den letzten Jahren einige Projekte entwickelt.

Zum Beispiel?

Ich habe in Hamburg, als ich Funkhausdirektor war, sehr viele Dialogveranstaltungen gemacht - mit der Maßgabe, dass alle außerhalb der Innenstadt stattfinden sollten. Wir sind gezielt in Stadtteile gegangen, in denen der NDR in den letzten Jahren wenig präsent war. In Hamburg haben 40 Prozent der Menschen einen internationalen Hintergrund. Nicht alle von ihnen haben Zugang zu NDR-Produkten. Das kann man nur ändern, wenn man vor Ort erklärt, was wir tun und wer wir sind. Unsere Idee der Pop-up-Studios wird momentan in der ARD oft kopiert. Wir haben in Bergedorf und in Harburg Pop-up-Studios eingerichtet, gerade wurde ein Pop-up-Studio in Neumünster, in Schleswig-Holstein, eröffnet. Das sind kurzfristige Dialogräume, die wir schaffen, um die eigene Arbeit zu erklären, aber auch, um Themenvorschläge und Perspektiven von den Menschen aufzunehmen, die kommen. Die Menschen interessieren sich für den NDR, und die, die uns noch nicht so gut kennen, sind oft überrascht, was wir alles anbieten. Diese niedrigschwelligen Angebote müssen wir weiterhin ausbauen.

Es ist wichtig zu erfahren, was die Menschen bewegt.

Was haben Sie aus den Pop-up-Studios an Anregungen und Kritik mitgenommen für die Weiterentwicklung des NDR?

Wir haben Hunderte von Themenanregungen mitgenommen, die wir nach und nach abarbeiten. Bestimmte Themen kommen dabei immer wieder vor, zum Beispiel die Versorgung mit Hausärzten und Fachärzten, das ist überall ein drängendes Thema. Wir berichten darüber auch in unseren Programmen, aber möglicherweise nicht ausreichend. Es ist wichtig, zu erfahren, was die Menschen bewegt, um zu verhindern, dass wir an ihren Interessen vorbeisenden. Dafür schaffen wir diese Begegnungsräume.

Wird das systematisch ausgewertet?

Ja. Bei den Pop-up-Studios sind idealerweise alle Redaktionen beteiligt. Die Federführung liegt bei den Landesfunkhäusern, die die Rückmeldungen systematisch auswerten. Mein Anliegen ist: Rauszugehen, mehr, als wir das in den letzten Jahren gemacht haben, das nehmen die Kolleginnen und Kollegen dankbar auf. Darüber hinaus entwickeln wir auch Ideen jenseits der Pop-up-Studios. Da ist noch mehr möglich.

Mir geht es darum, den klassischen Reporterberuf zu stärken.

Haben der NDR und andere ARD-Sender Sendungen, bei denen sie mit dem Publikum ins Gespräch kommen, in den vergangenen Jahren vernachlässigt? Eine der berühmtesten Radiosendungen des WDR war über Jahrzehnte "Hallo Ü-Wagen", die Sendung wurde vor 15 Jahren eingestellt. Fehlen solche Dialogformate im Programm?

Wir haben welche, aber wir müssen uns um neue Formate bemühen. Ich finde zum Beispiel, das Format "Die 100 ..." ist ein gelungener Versuch, so etwas in der Primetime zu machen, aber wir brauchen wieder mehr Kolleginnen und Kollegen draußen vor Ort. Mir geht es darum, den klassischen Reporterberuf zu stärken. In Zeiten von starker Social-Media-Prägung und von Künstlicher Intelligenz ist es zunehmend wichtig, dass echte Menschen auf echte Menschen treffen und mit einer erweiterten Perspektive zurück in die Redaktionen kommen. Wir haben in den letzten Jahren sehr viele Journalistinnen und Journalisten in den Redaktionen regelrecht "festgetackert", das müssen wir korrigieren. Im NDR stärken wir die Regionalstudios finanziell und personell, diesen Weg werde ich weiter beschreiten. Die Regionalberichterstattung ist ein Programm, das Perspektivenvielfalt liefert.

Planen Sie eine Ausweitung von Regionalsendungen im Hörfunk und Fernsehen?

Erst einmal nicht, aber wir haben eine klare Aufgabe, regionale Berichterstattung auch im Digitalen zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Das machen wir gerade sehr erfolgreich. Die Regionalmagazine im Fernsehen laufen weiterhin sehr gut. Die Landesmagazine um 19.30 Uhr gehören nach wie vor zu den erfolgreichsten Sendungen im NDR Fernsehen, und bei NDR Info wurde der Anteil der echten Regionalberichte und Interviews erhöht. Im NDR haben alle verstanden, dass das für uns wichtig ist.

Der gesamte NDR ist aufgerufen, die Regionalberichterstattung zu stärken.

Gibt es bei NDR Info auch Regionalfenster?

Bei NDR Info gibt es keine Subregionalisierung, Berichte, Recherchen und Interviews aus norddeutscher Perspektive ziehen sich durch das gesamte Programm, dazu zählen fast in jeder Stunde auch Berichte der Reporterinnen und Reporter aus den NDR-Regionalstudios. Es geht mir darum, dass wir die Geschichten, die in der Region spielen, prominent im Programm platzieren. Der gesamte NDR ist aufgerufen, die Regionalberichterstattung zu stärken. Das ist der Kulturwechsel, den wir hier vollziehen: Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass der NDR stark bleibt - und das setzt voraus, dass alle über ihren Bereich hinaus denken.

Kulturwechsel, das führt uns zurück zum Stichwort Debattenkultur. Im September gab es eine Rundfunkratssitzung, in der sich das Aufsichtsgremium auch mit der Sendung "Klar" befasst hat. In der Sitzung schilderte der verantwortliche Redakteur, wie seine Redaktion von Kolleginnen und Kollegen angegangen wurde, dass einzelne Redakteurinnen gefragt wurden, wann sie zum rechtspopulistischen Online-Portal "Nius" wechseln, dass manche nicht mehr zur Arbeit kamen, weil sie so verstört waren.

Ich glaube, dass alle verstanden haben, dass gute Produkte nur mit einem guten Miteinander entstehen. Alles, was wir tun, soll dazu führen, dass die Angebote für unser Publikum besser werden. Alles folgt dem Zweck, ein besseres Programm zu machen. Und das gelingt auch durch Debatten. Im Umgang mit "Klar" war die Diskussion irgendwann zu überhitzt. Nach meinem Eindruck haben alle verstanden, dass es so nicht geht.

Wie schaffen wir interne Debattenräume, die wir brauchen?

Welche Fehler hat der NDR bei "Klar" in der Kommunikation gemacht?

Wie bereits erwähnt: Aus meiner Sicht waren bestimmte Zuständigkeiten zu Beginn nicht eindeutig festgelegt. Daraus kann keine stringente Kommunikation folgen.

Da gab es offenbar jemanden, der Informationen zu Welt durchgestochen hat. Wie geht man damit um, wenn sich Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter offensichtlich illoyal verhalten?

Als Intendant kann ich in den Redaktionen und in den Abteilungen für ausreichend psychologische Sicherheit sorgen, damit der Drang, Probleme nach außen zu tragen, geringer wird. Ich habe in den letzten Wochen viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter getroffen, natürlich war das immer ein Thema: Wie gehen wir miteinander um? Wie schaffen wir interne Debattenräume, die wir brauchen? Die Lage ist für Medien sehr kompliziert und die Welt ist nicht einfacher geworden. Alle haben erkannt, dass wir daran arbeiten müssen, das ist für mich erst einmal eine gute Nachricht.

Wir werden von allen getragen und dürfen von allen kritisiert werden.

Hat sich Julia Ruhs loyal gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk verhalten?

Ich habe Julia Ruhs persönlich noch nicht kennengelernt. Die Debatte hat gezeigt, wie wichtig unterschiedliche Perspektiven sind.

Die Vorgänge im NDR haben im Grunde die Thesen von Julia Ruhs' Buch "Linksgrüne Meinungsmacht", das sie im August veröffentlicht hat, belegt. Ist das ein Grund sie zu fragen, warum sie überhaupt beim NDR arbeiten wollte?

Wir werden von allen getragen und dürfen von allen kritisiert werden. Natürlich sind kritische Stimmen aus dem Inneren erwünscht, sonst kommen wir nicht voran. Ich wünsche mir, dass wir die journalistischen Debatten in der Redaktion führen, da gehören sie meiner Meinung nach auch hin. Wir haben im Sender auch einige Menschen, die uns kritisch sehen, die hatten wir aber auch schon die letzten 50 Jahre. Hinzugekommen ist Social Media, dort werden bestimmte Diskussionen angeheizt, aber das ist nicht nur ein Problem des NDR. Bei Debatten sind viele immer schnell aufgeregt. Ich bin ein Freund von Maß und Mitte und auch des altdeutschen Wortes der Besonnenheit. Das können journalistische Betriebe gut gebrauchen und ich in meinem Alltag auch. Einmal runterzuzählen von zehn auf Null und zu überlegen, statt sofort eine Meinung oder eine Reaktion zu haben, diese Zeit möchte ich mir selbst und auch den Redaktionen geben.

Ich bin ein großer Freund von Kommunikation auf Augenhöhe.

Vor zwei Jahren ist der sogenannte Klimabericht veröffentlicht worden, in dem es hieß, die Atmosphäre, das Klima im NDR sei sehr schlecht. Was ist seither im NDR passiert?

Wir haben einen umfangreichen Kulturprozess gestartet, der kontinuierlich weitergeht. Ich habe immer gesagt, dass wir diesen Prozess immer weiterführen werden. Was sich verändert hat, ist die Auswahl von Führungskräften. Das Führungsleitbild wurde angepasst. Wir suchen Führungskräfte nach anderen Kriterien aus, als das vor fünf oder sechs Jahren der Fall war.

Was sind das für Kriterien?

Zum Beispiel: Ist jemand in der Lage, Mitarbeitende auf gute Art und Weise durch Transformationsprozesse zu führen. Führung ist auch ein Handwerk, wir legen großen Wert darauf, dass unsere Führungskräfte dieses Handwerk erlernen und sich regelmäßig fortbilden. Früher war es häufig so, dass die besten Journalistinnen und Journalisten Führungskräfte wurden, das heißt aber nicht automatisch, dass sie auch eine gute Führungskraft sind. Führung braucht eigene Qualitäten. Darauf zu achten, ist die Grundlage dafür, dass sich Kultur insgesamt verändert. Ich selbst bin ein großer Freund von flacheren Hierarchien und von Kommunikation auf Augenhöhe, und ich habe den Eindruck, dass das auch von den Kolleginnen und Kollegen gesehen wird.

Eine veränderte Unternehmenskultur ist entscheidend, um die Herausforderungen der Digitalisierung zu schaffen.

Was haben Sie verändert?

Wir haben auch Projekte zur Verbesserung der Konferenzkultur gestartet. Die Arbeitsgruppen waren immer bereichsübergreifend, feste und freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben gemeinsam an Lösungen gearbeitet. Wir haben ein Projekt, in dem es darum geht, den Wissenstransfer zwischen den Generationen zu verbessern. Wir befinden uns noch immer mitten im Prozess, eine Menge Kollegen und Kolleginnen sind Kulturlotsen und -lotsinnen und tragen diesen Prozess in die einzelnen Bereiche hinein. Dieses Projekt hat viel Kraft gekostet, aber es war nötig, denn eine veränderte Unternehmenskultur ist entscheidend, um die Herausforderungen der Digitalisierung zu schaffen.

Die Autoren des "Klimaberichts" haben mehr Dialog empfohlen. Wurden dafür besondere Formate geschaffen, über Konferenzen hinaus?

Alle Führungskräfte haben regelmäßige Formate geschaffen, in denen Begegnungen stattfinden. Ich versuche auch als Intendant, einen möglichst direkten Draht zu Kolleginnen und Kollegen zu halten. Niemand soll den Eindruck haben, er müsse die Herausforderungen, die er im Alltag hat, so lange mit sich herumtragen, bis es nicht mehr geht. Diese Dialogangebote werden gut angenommen.

Man ist immer dann gut, wenn die Rollen klar definiert sind.

Wir würden gern auf die Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sprechen kommen. Der Reformstaatsvertrag ist wie geplant Anfang Dezember in Kraft getreten. Darin werden ARD, ZDF und Deutschlandradio aufgefordert, mehr zu kooperieren, miteinander, aber auch mit privaten Medienhäusern. Das Format "Klar", über das wir gerade gesprochen haben, war eine Kooperation zwischen BR und NDR. Der "Spiegel" schreibt, nach all der Aufregung über das Format sei das Tischtuch zwischen BR und NDR zerschnitten. Stimmt das?

Nein. Das ist falsch. Wir arbeiten mit dem BR auf ganz unterschiedlichen Ebenen hervorragend zusammen. Da ist zum Beispiel die Kooperation von NDR Info und BR24, in der Verwaltung übernimmt der NDR die Reisekostenabrechnungen für den BR. Ich pflege einen guten Austausch mit der Intendantin.

Was lässt sich daraus für weitere redaktionelle Kooperationen zwischen den Anstalten lernen? Braucht es eine klarere Aufteilung der Verantwortlichkeiten?

Man ist immer dann gut, wenn die Rollen klar definiert sind. Das ist uns in der ARD auch bewusst. Wir haben im NDR zum Beispiel das Kompetenzzentrum Gesundheit für die gesamte ARD übernommen. Daraus ergeben sich Herausforderungen für die Zusammenarbeit, aber es läuft sehr gut. Wir werden noch weitere Kompetenzfelder entwickeln. Es gibt keine Alternative zur Kooperation. Die Zeiten, in denen alle alles machen, müssen vorbei sein. Für erfolgreiche Kooperationen braucht man eine gute Kultur des Miteinanders und klare Verantwortlichkeiten.

Es gibt keine Alternative zur Zuversicht.

Es gibt in der ARD viele Eifersüchteleien unter den Sendern, da geht es um Berichterstattungsgebiete, um Themenfelder, die streng bewacht werden. Sie haben beim NDR das Kompetenzzentrum Gesundheit, es gibt natürlich auch Fachleute für Gesundheit in anderen Sendern: Fühlen die sich nicht zurückgesetzt?

Wenn dem so ist, hat mich das nicht erreicht. Kompetenz kann durchaus vor Ort sein, aber die Zeit, in der man still in seinem Kämmerlein saß, ist aus meiner Sicht vorbei, weil wir so unsere publizistische Stärke nicht ausspielen können. Auch die ARD befindet sich in einer Übergangsphase hin zu einer neuen Kultur. Ich bin optimistisch, weil alle erkannt haben, dass wir bestimmte Dinge nicht mehr alleine bewältigen können. Das gilt nicht nur in der Zusammenarbeit innerhalb der ARD, das gilt auch mit Blick auf das ZDF, aber auch mit Blick auf die Privatsender und Verlage. Wir sitzen an ganz vielen Themen gemeinsam. Wir können uns das Leben gegenseitig schwer machen oder wir packen es gemeinsam an. Es gibt jedenfalls keine Alternative zur Zuversicht.

Der Reformstaatsvertrag fordert die Öffentlich-Rechtlichen auch auf, mehr mit privaten Medienhäusern zu kooperieren. Gibt es derzeit konkrete Kooperationsprojekte zwischen NDR und Privatsendern oder Verlagen?

Mit den Verlagen führen wir derzeit sehr gute Gespräche darüber, wie wir die Herausforderungen gemeinsam angehen. Dabei geht es auch darum, wie wir einen gemeinsamen, von amerikanischen Plattformen unabhängigen digitalen Raum schaffen können. Wir beschäftigen uns gemeinsam mit technischen und regulatorischen Fragen. Punktuelle Zusammenarbeit mit Verlagen und Redaktionen gibt es bereits. Ein Beispiel für eine solche Kooperation war der Eurovision Song Contest. Ich bin immer offen für Kooperationen. Ich habe ein Interesse daran, dass es den Verlagen gut geht, denn die Vielfalt der Presselandschaft, die wir in diesem Land haben, erhält sich nur, wenn wir zusammenarbeiten.

Wir müssen unsere Unabhängigkeit unbedingt schützen.

Als der NDR bekanntgab, dass er nicht mehr mit Julia Ruhs zusammenarbeiten will, haben zwei Ministerpräsidenten das deutlich kritisiert. Versucht die Politik wieder stärker, sich in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einzumischen, indem zum Beispiel solche Personalentscheidungen kommentiert werden und Politiker mit der Kürzung des Rundfunkbeitrags drohen?

Wir müssen unsere Unabhängigkeit unbedingt schützen, sonst verliert das ganze System seinen Wert. Dazu gehört auch eine gesicherte, unabhängige Finanzierung auf Basis eines vereinbarten Verfahrens. Dass sich Politik für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk interessiert, ist gut. Die gesamte Gesellschaft trägt uns, dazu gehört auch die Politik, die die Rahmenbedingungen festlegt. Nur: Es darf keine Einflussnahme auf unsere Arbeit geben. Dagegen setze ich mich auch zur Wehr, wenn es nötig ist.

Ministerpräsident Daniel Günther hat von einem "schlechten Signal" gesprochen, als sich der NDR von Julia Ruhs getrennt hat. Haben Sie ihn darauf angesprochen?

Wir haben die Sache geklärt und eine Verabredung getroffen, wie wir künftig miteinander ins Gespräch kommen. Solche Diskussionen lenken jedoch davon ab, dass wir die Mehrheit der Deutschen jeden Tag mit unseren Programmen erreichen und dass die Zustimmungswerte zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die Vertrauenswerte europaweit einmalig sind. Sicher müssen wir dafür kämpfen, dass das so bleibt. Aber man darf auch nicht übersehen, was wir jeden Tag leisten und ich möchte nicht auf einige wenige Protagonisten und Produkte reduziert werden. Wir als ARD erreichen mehr als 35 Millionen Deutsche jeden Tag allein mit unseren Hörfunkprogrammen.

NDR Schlager werden einige sehr vermissen.

Der Reformstaatsvertrag gibt den Sendern auch auf zu kürzen: bei den Hörfunkprogrammen und bei den Spartenkanälen. Das ist ein Einschnitt, das merken die Hörerinnen und Hörer. Fürchten Sie Proteste, wenn Sie wie angekündigt NDR Blue, NDR Schlager und NDR Info Spezial einstellen?

NDR Schlager werden einige sehr vermissen, manche Sendungen von NDR Blue werden wir in anderen Programmen fortführen. Es werden also einige Inhalte erhalten bleiben.

Warum haben Sie entschieden, diese drei Programme einzustellen? Sie hätten die Zahl der Programme auch durch Kooperationen höher halten können.

Kooperationen sind immer eine Option, die wir in der ARD ja bereits praktizieren. NDR Kultur, um nur ein Beispiel zu nennen, arbeitet mit anderen Kulturradios zusammen. Aus dem Reformstaatsvertrag ergeben sich aber besondere Anforderungen für Kooperationen, die haben wir geprüft. Ich finde gut, dass die Eigenständigkeit von NDR Info erhalten bleibt mit dem Fokus auf mehr Kooperationen am Abend, wo wir mit anderen ARD-Programmen zusammenarbeiten. Beim NDR passt die Anzahl der Radioprogramme sehr gut zur Größe des Sendegebiets. Wir sind als Vier-Länder-Anstalt schon eine kleine ARD. Dass wir die vier Landesprogramme erhalten, liegt auf der Hand, das sind sehr reichweitenstarke Programme, die nah an den Menschen sind. Bei den digitalen Spartenprogrammen fällt der Einschnitt geringer aus als bei allen anderen. Es gab Kooperationsgespräche, aber am Ende haben wir entschieden, drei digitale Kanäle einzustellen.

Ganz ohne Schmerz verläuft so ein Reformprozess nicht.

NDR Schlager wird im Landesfunkhaus Hannover gemacht. Niedersachsen ist aufgrund seiner Größe ein besonders wichtiges Staatsvertragsland. Ist da in Niedersachsen der Schmerz nicht sehr groß, dass dem Land ein Programm genommen wird?

Ja, aber ganz ohne Schmerz verläuft so ein Reformprozess nicht. Wir haben eine politische Vorgabe, die wir umzusetzen haben, und dabei ist es unvermeidlich, dass nicht alle am Ende zufrieden sind. Wir planen im NDR so, dass die Auswirkungen für Beitragszahlerinnen und -zahler so gering wie möglich sind. Aber dass gerade in Niedersachsen viele traurig sind wegen NDR Schlager, kann ich nachvollziehen.

Hätte sich da nicht eine Kooperation mit MDR Schlagerwelt angeboten?

Dafür waren die rechtlichen, organisatorischen und programmlichen Hürden zu hoch.

Wie viel spart der NDR dadurch, dass er die drei Radioprogramme einstellt?

Das kann ich noch nicht beziffern, im Moment prüfen wir zum Beispiel noch, welche Schlager-Inhalte wir in der ARD-Audiothek zur Verfügung stellen können.

Tagesschau24 ist für die Gesamtversorgung der ARD mit Nachrichten sehr wichtig.

Es müssen auch Spartenprogramme im Fernsehen eingestellt werden. Was wird aus Tagesschau24?

Die Gespräche laufen gerade. Tagesschau24 ist die Grundvoraussetzung dafür, dass wir auch im Ersten breaking-news-fähig bleiben. Die Kolleginnen und Kollegen leisten sehr gute Arbeit, Tagesschau24 ist für die Gesamtversorgung der ARD mit Nachrichten sehr wichtig. Die Diskussion über die Neustrukturierung der Spartenkanäle läuft gerade gemeinsam mit dem ZDF.

Sie haben 2022 das Format "#NDRfragt" eingeführt, das Meinungsbarometer. Wie viele Menschen haben sich inzwischen dafür registriert?

Mehr als 60.000. Das wird uns vom Reformstaatsvertrag auch aufgegeben: mehr Dialog und Partizipation. Dieses Beispiel zeigt, wie es gelingen kann. Auch das ist ein Beitrag zu mehr Perspektivenvielfalt. Wir wissen, dass diese Zahl nicht repräsentativ ist, aber 60.000 Aktive sind schon beachtlich. Wir werden schauen, wie wir noch stärker mit den Ergebnissen arbeiten und uns mehr Input holen können. Der NDR ist der Sender der Menschen. Ich bin gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen verantwortlich für die Aufgabe, die uns von den Menschen übertragen wurde. Das ist das zentrale Thema meiner nächsten Jahre.

Es geht darum, unterschiedliche Perspektiven sichtbar zu machen.

Sind aus #NDRfragt schon neue Formate entstanden?

"#NDRfragt" findet Eingang in alle Regelprogramme, wir haben zusätzlich auch ein Video-Format entwickelt: Mit "#NDRfragt - Wie tickst Du?" gehen wir einen innovativen Weg. Darin diskutieren junge Norddeutsche wichtige Themen ihrer Generation. Das Besondere: Es geht nicht darum, alle zum gleichen Schluss zu bringen, sondern unterschiedliche Perspektiven sichtbar zu machen und gegenseitiges Verständnis zu fördern. So probieren wir neue, partizipative Formate aus, die den Dialog lebendig halten.

Die öffentlich-rechtlichen Sender verbreiten ihre Inhalte über Youtube und über soziale Netzwerke wie X oder Facebook. Sie müssen dort präsent sein, wenn Sie Ihr Publikum erreichen wollen, aber von den Privaten wird Ihnen vorgeworfen, dass Sie damit die Big-Tech-Plattformen noch größer machen, weil Sie sie mit kostenlosen Inhalten füttern. Wie kommen Sie raus aus dem Dilemma?

Erst einmal müssen wir diesen Widerspruch anerkennen. Wir können darauf nicht verzichten, weil wir bestimmte Zielgruppen ohne Social Media nicht erreichen würden. Da wir ein NDR für möglichst viele Norddeutsche sein wollen, ist die Präsenz in diesen Medien aktuell unverzichtbar. Parallel arbeiten wir daran, unsere eigenen Plattformen zu stärken: Bei "NDR.de" und den Apps machen wir echte Fortschritte, ebenso bei der Stärkung der ARD-Mediathek und ARD-Audiothek. Wir müssen uns aber auch gemeinsam mit allen Medienhäusern dieses Landes überlegen, was wir den amerikanischen und chinesischen Plattformen dauerhaft entgegensetzen. Sonst sehe ich die Gefahr, dass sich Informations- und Debattenräume zu sehr verengen.

Der NDR ist nicht mehr bei X aktiv.

Warum engagieren Sie sich nicht mehr im sogenannten Fediverse, bei den unabhängigen sozialen Plattformen?

Wir sind auch bei Mastodon präsent, sehen jedoch, dass sich die Reichweite nicht mit der in anderen sozialen Netzwerken vergleichen lässt. Der NDR ist übrigens nicht mehr bei X aktiv; nur die "Tagesschau" ist noch da und der Politik-Talk "Caren Miosga".

Was halten Sie von der Idee, gemeinsam mit anderen Medienunternehmen eine eigene deutsche oder europäische Plattform aufzubauen?

Ich bin ein Freund davon, gemeinsam zu überlegen, wie wir eine eigene europäische und unabhängige Plattformen entwickeln können. Dafür braucht man die Erkenntnis, dass die Machtkonzentration und die Monopolisierung der sozialen Medien so, wie sie jetzt ist, nicht gut für unser Land ist. Die ARD-Mediathek wächst, ist in ihrer Nutzung vergleichbar mit Netflix, aber im Moment sind wir noch sehr abhängig von Plattformen wie Instagram oder Tiktok. Die nächste große Herausforderung ist die Künstliche Intelligenz.

KI ist eine klare Chance für die Renaissance von Reporterinnen und Reportern.

Wo setzen Sie beim NDR Künstliche Intelligenz ein?

Wir haben KI zum Beispiel in Berichten mit historischen Inhalten eingesetzt - etwa, um alte Fotografien in bewegte Bilder umzusetzen. Dafür haben wir den Bremer Fernsehpreis bekommen. Wir prüfen natürlich auch, wie KI bestimmte Verwaltungsvorgänge und Planungsabläufe vereinfachen kann. Es ist wichtig, alle Mitarbeitende mit KI in Berührung zu bringen. Ich sehe sowohl Chancen als auch Risiken: KI ist eine klare Chance für die Renaissance von Reporterinnen und Reportern. Die KI wird nicht nach Greifswald fahren und nicht nach Papenburg, da müssen echte Menschen hinfahren, um echte, gute Geschichten von Menschen mitzubringen. Für Geschichten braucht es erst einmal den Moment des Zuhörens. Das ist mein Credo: Erst zuhören, dann senden.

Nutzen sie KI auch, um Desinformation zu erkennen?

Ja. Die Qualität von gefälschtem Videomaterial nimmt aber in einem Tempo zu, dass unsere Expertinnen und Experten vermuten, wir werden vielleicht in sechs bis zwölf Monaten die Unterschiede selbst mit KI nicht mehr erkennen. Was das für den Journalismus bedeutet, haben wir noch gar nicht umrissen. Das Einzige, was dann hilft, ist Begegnung.

infobox: Hendrik Lünenborg (53) ist im Mai vom NDR-Rundfunkrat zum neuen Intendanten des Norddeutschen Rundfunks (NDR) gewählt worden. Er folgte im September auf Joachim Knuth, der seit Januar 2020 Intendant war. Lünenborg war der zweite vom Verwaltungsrat vorgeschlagene Kandidat. Die erste Kandidatin, die Medienmanagerin Sandra Harzer-Kux, war im April bei der Wahl im Rundfunkrat durchgefallen. Lünenborg volontierte in den 1990er Jahren beim NDR volontiert, war zwischen 2016 und 2020 Programmchef des Hamburger Regionalsenders NDR 90,3 und ab Juli 2023 Direktor des Landesfunkhauses Hamburg.

dir



Zuerst veröffentlicht 05.12.2025 09:00

Schlagworte: Medien, Rundfunk, NDR, Lünenborg, Roether, Maack, Interview

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