Infrastruktur statt Rundfunk - epd medien

11.06.2025 08:50

Zu ihrem 75. Geburtstag steht die ARD unter Druck, ist aber mit diesem Befund im europäischen Vergleich nicht alleine. Der Schweizer Medienwissenschaftler Manuel Puppis plädiert für eine Debatte, die nicht um Abbau- und Begrenzung kreist, sondern darum, welche Leistungen eine digitalisierte Gesellschaft von einem Public Service künftig braucht.

Zur Rolle von Public Service Media in einer digitalisierten Öffentlichkeit

Die ARD feiert dieses Jahr ihr 75-jähriges Bestehen

epd Vor 75 Jahren erblickte die ARD das Licht der Welt. Geburtstage sind ja eigentlich ein Grund zum Feiern - doch die Laune dürfte bei der ARD, den Landesrundfunkanstalten und der Medienpolitik mehr als nur leicht getrübt sein. Ein Grund dafür ist sicher auch eine Reihe selbstverschuldeter Skandale, die weit über den Kreis der medienpolitischen Interessierten hinaus für Verstimmung sorgt und selbst im angrenzenden Ausland wahrgenommen wird. Doch auch ohne diese offene Flanke, die zu völlig berechtigter Kritik einlädt, sind die ARD und andere öffentliche oder öffentlich-rechtliche Medien europaweit in der Defensive. Hierbei können mindestens drei verschiedene gegnerische Gruppen ausgemacht werden.

Kritik aus drei Lagern

Erstens erachten neoliberale oder libertäre Kreise "Public Service Media" zunehmend als verzichtbar und sind überzeugt davon, dass der Markt schon für tragfähige Lösungen sorgen werde - oder, realistischer formuliert: dass eine Gesellschaft von Medien nicht mehr braucht, als was marktlich bereitgestellt werden kann.

In der Schweiz gipfelte dies in der "No-Billag-Initiative", die 2018 zur Abstimmung kam und die öffentliche Finanzierung von Medien verbieten wollte. Diese Initiative scheiterte zwar klar und wurde von 71,6 Prozent der Abstimmenden und allen Kantonen abgelehnt. Doch schon 2026 dürfte die Initiative "200 Franken sind genug!" zur Abstimmung kommen, deren Annahme eine Halbierung des Budgets der schweizerischen SRG zur Folge hätte.

Während in einem großen Land wie Deutschland private Angebote marktlich zumindest refinanzierbar sind, ist das in kleinen Mediensystemen nur sehr beschränkt der Fall. Aber auch in großen Mediensystemen unterscheidet sich die publizistische Leistung öffentlich-rechtlicher und privater Medien deutlich, weshalb eine rein marktliche Lösung keinen valablen Ersatz bieten kann.

"Staatsfunk", "Lügenpresse" oder "Zwangsgebühren"

Zweitens werden öffentliche Medienhäuser europaweit durch (oftmals rechts-)populistische Parteien angegriffen. Mit Kampfbegriffen wie "Staatsfunk", "Lügenpresse" oder "Zwangsgebühren" wird gegen die öffentlich-rechtlichen Medien, die angeblich linken oder der korrupten Elite angehörten, ins Feld gezogen. Insbesondere der Pluralismus als Kern des öffentlichen Auftrags ist populistischen Parteien ein Dorn im Auge.

Zu denken ist hierbei nicht nur an Regierungen in zunehmend "illiberale Demokratien" wie Ungarn , sondern auch an erstarkende Rechtsparteien in Westeuropa. In Deutschland etwa beklagen Exponenten der AfD die Verbreitung angeblicher "Propaganda" durch ARD und ZDF. In ihrem Programm zur letzten Bundestagswahl forderte die Partei eine Abschaffung des Rundfunkbeitrags.

Drittens haben die privaten Zeitungsverlage die öffentlich-rechtlichen Medien als Ursache für ihre finanziellen Schwierigkeiten ausgemacht. Hartnäckig hält sich in Medienpolitik und Verlagsbranche die Behauptung, das Onlineangebot des Public Service wirke sich negativ auf die Zahlungsbereitschaft für private Nachrichtenangebote im Internet aus.

Entsprechend fordern private Medien eine Beschränkung öffentlich-rechtlicher Onlineangebote. Auch in Deutschland erachtet der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) die Angebote von ARD, ZDF und Deutschlandradio als existenzielle Gefahr für die Zeitungsbranche. Sukkurs erhalten die Verlage für ihre Forderungen aus wirtschaftsnahen und konservativen Parteien, die gleichzeitig auch erhebliches Einsparpotenzial erkennen.

Keine Belege für Crowding-Out-Hypothese

Allerdings konnte die bisherige Forschung keinerlei Belege für diese Crowding-Out-Hypothese finden, die eine Verdrängung privater Medien durch den Public Service unterstellt. Weder international vergleichende Studien noch Analysen des deutschen, österreichischen oder schweizerischen Marktes stellten negative Auswirkungen auf private Medien fest.

Im Gegenteil: Eine neue Studie für die Deutschschweiz, die der Verfasser zusammen mit Sina Blassnig, Lukas Erbrich, Christian Zabel und Frank Lobigs erstellte, zeigt zum einen auf Basis einer repräsentativen Umfrage, dass die Nutzung des Online-Nachrichtenangebots des Public Service positiv mit der aktuellen und künftigen Zahlungsbereitschaft für private Nachrichtenangebote zusammenhängt. Dieser positive Zusammenhang bleibt auch dann bestehen, wenn andere Faktoren wie Medienvertrauen, Nachrichteninteresse, Gratismentalität sowie soziodemografische Variablen berücksichtigt werden.

Zum anderen wurde in der Studie eine "Choice-based Conjoint-Analyse" durchgeführt, um die Auswirkungen einer Abschaltung des öffentlichen Online-Nachrichtenangebots zu simulieren. Profitieren würden davon insbesondere kostenlose Angebote. Kostenpflichtige Nachrichtenangebote würden hingegen nur marginal an Marktanteilen zulegen. In der gesamten Deutschschweiz könnten demnach maximal 19.000 zusätzliche Digitalabonnements verkauft werden.

Abbaudebatten dominieren

Der Public Service steht also in der Dauerkritik. In dieser Situation geht gerne vergessen, was Deutschland an der ARD, ZDF und Deutschlandradio hat. Die internationale Forschung zeigt klar, dass sich die Bevölkerung in Ländern mit starken öffentlichen Medien durch höheres politisches Wissen auszeichnet, dass es einen Zusammenhang zwischen stabil finanzierten öffentlichen Medien und einer gesunden Demokratie gibt, und dass sich ein starker Public Service auch positiv auf das Nachrichtenangebot privater Medien auswirkt.

Zudem sind innovative Angebote wie Funk oder "ARD Kultur" Beispiele dafür, wie die Zukunft des Public Service aussehen könnte. Die Stärken eines dualen Systems anzuerkennen bedeutet selbstredend nicht, dass man den real existierenden öffentlichen Rundfunk nicht kritisieren kann und soll. Finanzskandale sind bei Weitem nicht der einzige berechtigte Kritikpunkt. An dieser Stelle sei einzig auf reformbedürftige Strukturen, mangelnde Selbstreflexion, fehlende Diversität und starke Elitenorientierung hingewiesen.

Angesichts der anhaltenden Kritik wird in der Medienpolitik fast ausschließlich eine Abbau- und Begrenzungsdiskussion geführt, anstatt darüber nachzudenken, welche Leistungen eine digitalisierte Gesellschaft von einem Public Service künftig braucht. Zwar stellt die bisherige Forschung wie dargelegt negative Auswirkungen der Public-Service-Onlineangebote auf die Zahlungsbereitschaft für private Medien in Abrede, doch unter dem Druck der Verlage beschränkt die Politik ARD, ZDF und Co. weiterhin auf Audio- und Videoformate.

"Presseähnlich" dürfen die sogenannten "Telemedienangebote" - ein Begriff, wie ihn nur das deutsche Medienrecht erfinden kann - keinesfalls sein. Egal, wie unsinnig solche Vorgaben für die redaktionelle Arbeit und aus Sicht der Nutzerinnen und Nutzer sind. Dem Schutz der Verlage dienen sie schon gar nicht.

Selbst Innovationen im Bereich von Audio und Video werden mit Argusaugen beobachtet.

Viel zweckdienlicher wäre es, durch private Anbieter erbrachten Journalismus mit einer konvergenten Medienförderung zu unterstützen. Gerade in den nordischen Ländern gibt es langjährige Erfahrung damit, wie eine solche Förderung staatsfern und wirksam implementiert werden kann. Entsprechende medienpolitische Bestrebungen sind in Deutschland bisher allerdings erfolglos geblieben.

Aber selbst Innovationen im Bereich von Audio und Video werden mit Argusaugen beobachtet. Dabei ist offensichtlich, dass lineare Radio- und Fernsehsender nicht die Zukunft sind. Die Mediennutzung findet immer stärker zeitversetzt statt. Soll der öffentliche Rundfunk seinen Auftrag also auch künftig erfüllen können, so muss Innovation möglich sein.

Broadband ist nicht Broadcast

In vielen europäischen Ländern ist allerdings bereits die Weiterentwicklung zu einem personalisierten Audio- und Video-Streamingangebot auf Abruf umstritten. Dabei ist das Internet nicht einfach ein weiterer Distributionskanal, auf dem lediglich bereits für die lineare Ausstrahlung produzierte Sendungen auch noch "On-Demand" angeboten werden. Über klassische Radio- und Fernsehsendungen hinaus braucht es auch Inhalte, die explizit für die Nutzung im Internet konzipiert wurden.

Broadband ist nicht Broadcast: Es geht nicht darum, die gleichen Inhalte für alle zu verbreiten. Das Internet ermöglicht ein personalisiertes Angebot für die einzelnen Nutzerinnen und Nutzer. Anders als bei Facebook, Tiktok und Co. muss ein Public-Service-Algorithmus jedoch nicht nach einer kommerziellen Logik funktionieren, sondern kann eine Balance finden zwischen Inhalten, die die Nutzenden anziehen, und solchen, die einen Wert für die Gesellschaft haben.

Nur langsam scheint sich die Ansicht durchzusetzen, dass der Public Service seine Inhalte auch nicht-linear und algorithmisch personalisiert verbreiten soll und Web-only-Produktionen sinnvoll sind, um der neuen Nutzungsrealität Rechnung zu tragen. Die medienpolitische Diskussion ist immer noch zu stark auf die Produktion und Distribution von Inhalten fokussiert. Selbstverständlich, diese Kernaufgabe öffentlicher Medien bleibt zentral. Doch angesichts des digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit und des Erstarkens globaler Plattformen stellt sich die Frage, ob der Public Service nicht auch neue Aufgaben übernehmen sollte.

So könnte dieser eine Infrastruktur für öffentliche Debatten bereitstellen, einen "Public Open Space", wie es der Wirtschaftswissenschaftler Leonhard Dobusch genannt hat. Dieser Debattenraum würde nach den Regeln europäischer Demokratien und Rechtsstaaten funktionieren und nicht nach den "Community Guidelines" und Nutzungsbedingungen US-amerikanischer oder chinesischer Plattformen. Und tatsächlich beschäftigen sich ARD, ZDF, SRG und weitere Partner im Rahmen des Projekts "Public Spaces Incubator" mit neuen Möglichkeiten, um öffentliche Debatten zu organisieren.

Bisher nur wenig Resonanz

In der Medienpolitik lösen solche Initiativen bisher nur wenig Resonanz aus. Immerhin diskutierte der Zukunftsrat neben einer Erneuerung der Angebote, einer Gremienreform inklusive Einrichtung einer Art ARD-Geschäftsführung und einer gemeinsamen technischen Lösung für Streaming auch die Schaffung gemeinschaftsbildender digitaler Orte. Doch weder die Bundesländer noch die Rundfunkanstalten selbst reagierten auf die bedenkenswerten Reformideen besonders enthusiastisch, die folglich nur teilweise in den Reformstaatsvertrag für ARD, ZDF und Deutschlandradio eingingen.

In der Schweiz legte die Eidgenössische Medienkommission (EMEK) einen Bericht vor, welcher den Public Service als Infrastruktur denkt und die Idee des "Public Open Space" aufgreift. Damit könne, so die EMEK, die Public-Service-Idee für eine digitalisierte Gesellschaft weiterentwickelt und eine Alternative zu den kommerziellen globalen Plattformen geschaffen werden. Ein derartiger Debattenraum würde es allen gesellschaftlichen Gruppierungen ermöglichen, am demokratischen Diskurs teilzunehmen und auch über kontroverse Themen einen respektvollen Austausch zu pflegen.

Ob die Medienpolitik die Bereitschaft aufbringen wird, sich mit diesen Fragen ernsthaft auseinanderzusetzen und aus angestammten interesse- und ideologiegeleiteten Diskussionen auszubrechen, ist fraglich. Die Hoffnung zu hegen, ist zumindest ein Wagnis.

Manuel Puppis Copyright: Foto: Christiane Matzen Darstellung: Autorenbox Text: Manuel Puppis ist Professor für Medienstrukturen und Governance an der Universität Freiburg (Schweiz) und Vizepräsident der Eidgenössischen Medienkommission.



Zuerst veröffentlicht 11.06.2025 10:50

Manuel Puppis

Schlagworte: Medien, Rundfunk, ARD, Jubiläum, Puppis

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