01.10.2025 12:00
Julia Ruhs und der öffentlich-rechtliche Rundfunk
epd So intensiv diskutieren Rundfunkräte selten über eine Sendung. Fast zwei Stunden lang beschäftigte sich das Aufsichtsgremium des NDR am 26. September mit dem Format "Klar" mit Julia Ruhs, das in Kooperation von NDR und BR entstanden ist. Drei Ausgaben der Magazinsendung waren im April, Juni und Juli beim NDR gesendet worden und stehen seither in der ARD-Mediathek. Vor allem die erste Ausgabe mit dem Titel "Migration: Was falsch läuft" hatte viel Kritik innerhalb des Senders, aber auch von außen auf sich gezogen. Zu dieser Ausgabe lag dem Rundfunkrat auch eine Programmbeschwerde vor, die in der Sitzung am 26. September schließlich mehrheitlich abgewiesen wurde.
Für den neuen Intendanten Hendrik Lünenborg, der sein Amt am 1. September angetreten hat, war die Debatte um "Klar" und die Kommunikation des Senders dazu ein denkbar schlechter Start. Es seien bei "Klar" Fehler passiert "mit Blick auf die Überführung des Programms in den Regelbetrieb" und bei der Kommunikation, räumte er in der Sitzung des Rundfunkrats ein: "Das hätte nicht passieren dürfen."
Lünenborg hat diese Fehler nicht zu verantworten, musste jedoch im Rundfunkrat Rede und Antwort stehen. Die Debattenkultur im NDR sei nicht "im allerbesten Zustand", stellte er fest, nicht immer sei nach den Grundsätzen der Fairness und Kollegialität diskutiert worden. Aufgabe der Organisationsentwicklung des Senders werde es nun sein, die Debattenkultur zu verbessern. Perspektivenvielfalt und Perspektivenerweiterung seien in den kommenden Jahren eine "zentrale Aufgabe im NDR".
"Klar" war im April als Kooperationsprojekt von NDR und BR angekündigt worden. Das Reportagemagazin mit Julia Ruhs solle "große Streitfragen" aufgreifen, "die in der Mitte der Gesellschaft kontrovers diskutiert werden", hatte der NDR vor Beginn der ersten Ausgabe mitgeteilt. Die erste Ausgabe, "Migration: Was falsch läuft", hatte Ruhs mit dem berühmt gewordenen Satz eingeleitet: "Was jetzt kommt, wird vielleicht nicht jedem gefallen."
Im NDR hatten sich nach Medienberichten 250 Mitarbeiter im April, kurz nachdem die erste Ausgabe von "Klar" gesendet worden war, in einem internen Brief an die Geschäftsleitung des Senders gewandt und der Sendung vorgeworfen, sie habe gegen fundamentale journalistische Grundsätze verstoßen und werde dem öffentlich-rechtlichen Auftrag gemäß NDR-Staatsvertrag nicht gerecht. Der Brief sorgte im Sender für so viel Unruhe, dass am 17. April, acht Tage nach der Ausstrahlung der ersten Ausgabe von "Klar", eine interne Konferenz einberufen wurde, bei der über das Format diskutiert wurde.
Die zweite Ausgabe des Reportage-Magazins mit dem Titel "Der Frust der Bauern" wurde erst drei Wochen später gesendet als ursprünglich angekündigt: Statt am 21. Mai war sie erst am 11. Juni zu sehen. Die dritte Ausgabe mit dem Titel "Hat Corona uns zerrissen?" folgte am 30. Juli.
Nach Angaben des Rundfunkratsvorsitzenden Nico Fickinger erhielt das Gremium mehr als 200 Zuschriften zu der Sendung. Viele davon seien "sehr pauschal" gewesen, sagte er. Eine Beschwerde wurde als Programmbeschwerde zugelassen, über sie wurde am 16. September im Programmausschuss und am 27. September im Rundfunkrat diskutiert. Die Tatsache, dass der Programmausschuss des Senders sich am 16. September mit "Klar" befasste, war dem TV-Sender Welt so wichtig, dass er die Sendung und die Diskussion im NDR darüber an diesem Tag zum Topthema machte.
Der NDR selbst beantwortete Journalisten-Anfragen zu "Klar" erst am 17. September und teilte mit, dass die beiden ARD-Anstalten "Klar" im kommenden Jahr fortsetzen wollen. Die Ausgaben, die der NDR produziert, würden aber nicht mehr von Julia Ruhs moderiert. BR-Informationsdirektor Thomas Hinrichs sagte, der Bayerische Rundfunk werde "die Reihe mit Julia Ruhs fortsetzen". Und er fügte hinzu: "Lob und Kritik nehmen wir gewissenhaft zur Kenntnis und entwickeln weiter, wo wir noch besser werden können."
Erst zwei Tage später präsentierte der NDR seine neue Moderatorin für die künftigen Ausgaben: Tanit Koch, ehemalige "Bild"-Chefredakteurin, werde das Format präsentieren und auch redaktionell mitarbeiten.
Damit hätte es gut sein können. Doch nun brach eine Welle der Empörung über den NDR herein, weil er Julia Ruhs angeblich "gecancelt" habe. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte, die Entscheidung des NDR, nicht mehr mit Julia Ruhs zusammenzuarbeiten, sei "kein gutes Signal für die Meinungsfreiheit" im Sender, sein Amtskollege in Schleswig-Holstein, Daniel Günther (CDU), der selten mit Söder einer Meinung ist, äußerte sich fast gleichlautend. Und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte, den Rundfunkbeitrag von derzeit 18,36 Euro pro Monat einzufrieren, "damit endlich Druck entsteht, damit Reformen passieren".
In der Rundfunkratssitzung am 26. September räumte Programmdirektor Frank Beckmann ein, bei der Etablierung von "Klar" habe es "mehrere Fehler" gegeben. Das Format sei in seinem Programmbereich entwickelt worden, die Personalverantwortung habe aber bei seiner Kollegin, Programmdirektorin Ilka Steinhausen, gelegen, die unter anderem für den Programmbereich NDR Info zuständig ist. So sei das Format "zwischen zwei Geschäftsbereichen" gelandet, das habe die Kommunikation zusätzlich erschwert.
Nachdem Welt am 16. September über die Debatte um "Klar" berichtet hatte, habe der NDR "schnell kommunizieren" wollen, sagte Beckmann. Allerdings habe der Sender aber den Namen der Nachfolgerin - Tanit Koch - zu diesem Zeitpunkt noch nicht mitteilen können. Selbstkritisch gestand der Programmdirektor ein: "Wir haben die politische Wirkung nicht richtig eingeschätzt."
Das Sendekonzept von "Klar" habe von Anfang an vorgesehen, dass es mehrere Moderatoren und Moderatorinnen geben solle, wenn das Format fortgesetzt werde, stellte Beckmann in der Sitzung klar: "Wir haben Frau Ruhs nie zugesagt, dass es weitergeht und dass alle Sendungen von ihr moderiert werden."
Unterdessen hatte Ruhs aber in mehreren Interviews und auch bei öffentlichen Auftritten längst die Erzählung verbreitet, sie sei rausgemobbt worden. Auf den Fluren des NDR habe man gehört, "die Julia muss weg", schrieb sie in ihrer Kolumne in "Focus": "Mein Rauswurf war vor allem eins, politisch." Der "Augsburger Allgemeinen sagte sie: "Ich bin jetzt für diese hohen Herren das Bauernopfer, um wieder Ruhe in ihren Sender zu kriegen." Immerhin trage der NDR dazu bei, dass sich ihr soeben erschienenes Buch "Links-grüne Meinungsmacht - Die Spaltung unseres Landes" sehr gut verkaufe, freute sich Ruhs.
Der "Augsburger Allgemeinen" sagte Ruhs auch, sie wolle den öffentlich-rechtlichen Rundfunk "retten", indem sie ein Publikum erreiche, das dieser verloren habe: "Das sind Leute, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht mehr nutzen oder nur mit Bauchschmerzen, weil sie ihn für tendenziös halten - also für zu links. Sie haben den Eindruck, dass nicht fair berichtet wird und nicht alle Sichtweisen vorkommen. Sie finden im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ihre Probleme und Fragen nicht gespiegelt. Diesem Eindruck begegnet man auch in der Mitte der Gesellschaft."
In Wirklichkeit hat sich Ruhs in den vergangenen Wochen aber als Systemsprengerin betätigt. Sie inszenierte sich als Opfer einer "cancel culture", obwohl sie demnächst die vom BR verantworteten Folgen des Formats weiter moderieren wird. Selten hat eine Mitarbeiterin des öffentlich-rechtlichen Rundfunks so lautstark Kritik am eigenen System geübt und wurde dennoch weiterbeschäftigt.
Indem sie das Narrativ bediente, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk würden konservative Stimmen oder Meinungen, die nicht links-grün seien, systematisch unterdrückt, hat sich Ruhs unangreifbar gemacht. Denn nun kann sie jeden, der sie kritisiert, in die links-grüne Ecke stellen. Und genau das machen auch die Medien, die sie feiern - und die Politiker, die diese Erzählung übernehmen. Doch so sehr sich Ruhs über den Zuspruch von Unions-Politikern auch freuen mag, dieser Beistand ist für eine Journalistin gefährlich. Sie wird unterstützt, weil sie von sich selbst sagt, sie sei "Mitte-Rechts". Doch wie unabhängig ist sie noch? Und wie unabhängig wird sie in Zukunft berichten?
Davon abgesehen sollten Politiker sich nicht in Personalangelegenheiten von Medien einmischen, das ist ein Eingriff in die Programmautonomie. Doch nicht einmal dagegen haben sich der NDR-Intendant oder der NDR-Rundfunkrat in einer öffentlichen Erklärung verwahrt. Stattdessen sagte Lünenborg in einem Interview: "Dass sich Politik für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk interessiert und sich dazu auch sehr meinungsstark äußert, kennen wir schon seit Jahrzehnten und das finde ich auch in Ordnung."
Dafür meldete sich Christoph Schmitz-Dethlefsen, für Medien zuständiges Mitglied im ver.di-Bundesvorstand, zu Wort: "Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist staatsfern. Hier missverstehen zwei Landesfürsten ihre Rolle, wenn sie bestimmtes Personal bei den Sendern bestellen." Carsten Linnemanns Forderung nach finanziellen Konsequenzen sei "als Versuch politischer Einflussnahme vollkommen inakzeptabel". Auch einige Rundfunkräte vertraten bei der Aussprache über "Klar" diese Linie, doch das Gremium verabschiedete keine Resolution in dieser Richtung.
Die stellvertretende Rundfunkratsvorsitzende Sandra Goldschmidt verlas in der Sitzung eine Erklärung, in der sie sich zu dem "Shitstorm" äußerte, in den sie persönlich durch die Debatte um "Klar" geraten war, nachdem ihr Name in verschiedenen Medienberichten genannt worden war. Wie das "Hamburger Abendblatt" berichtete, wurde sie als "linksgrünes Miststück" beschimpft, und es wurde nach ihrer Adresse gefragt. "Also halte ich mich seit Tagen zurück, zensiere mich selbst, verzichte auf mein Recht auf freie Meinungsäußerung", sagte Goldschmidt im Rundfunkrat.
Es sei Beschäftigten des Senders zuzugestehen, dass sie über Formate diskutieren, und auch die Gremien dürften über solche Formate diskutieren, sagte die Landesbezirksleiterin der Vereinten Dienstleistungsgwerkschaft (ver.di). "Wenn diejenigen, die ihre Aufgabe verantwortungsvoll angehen, mit Hass überzogen worden, ist das ein Angriff auf die Demokratie."
In dem Lärm um Ruhs sind aber einige interessante Details untergegangen: "Klar", das von Anfang an als Kooperationsprojekt von NDR und BR angekündigt worden war, ist im BR bisher nicht linear gesendet worden. Sind ARD-Kooperationsprojekte nicht eigentlich dafür gedacht, dass sie bei den beteiligten Sendern auch das lineare Programm füllen sollen? Ministerpräsident Markus Söder scheint es jedenfalls nicht zu stören, dass das Format bei seinem Heimatsender gar nicht gezeigt wurde.
Auffällig ist auch das Schweigen des ARD-Vorsitzenden Florian Hager zur Diskussion um "Klar". Es ist nicht das erste Mal, dass die Kommunikation zu einer Sendung, bei der mehrere ARD-Anstalten kooperieren, versagt. Zuletzt war dies der Fall, nachdem die ARD-Programmdirektion im Dezember 2024 angekündigt hatte, dass der Reporter Thilo Mischke die Moderation des Kulturmagazins "TTT - Titel, Thesen, Temperamente" übernehmen werde. Einen Shitstorm und zwei Wochen später teilte die ARD mit, dass sie doch von der Zusammenarbeit mit Mischke absehe. Damit in Zukunft die Zuständigkeiten klar geregelt sind, übernahm im April der MDR die Kommunikation für das Kulturmagazin.
Der Medienstaatsvertrag gibt den ARD-Anstalten auf, dass sie mehr kooperieren sollen, nicht nur bei einzelnen Sendungen, sondern bei ganzen Programmen. Einzelne ARD-Anstalten übernehmen als "Kompetenzcenter" für Themen wie Bildung oder Gesundheit die Berichterstattung für alle. Hier ist bei einer vergleichsweise kleinen Kooperation zwischen zwei Sendern bei einem Format viel schiefgelaufen und die Fehler haben sich zu einem Kommunikations-GAU für das ganze System ausgeweitet. Der BR hat sich nur einmal mit einer sparsamen Erklärung zu Wort gemeldet, das Schweigen der ARD zeigt, wie tief verunsichert das öffentlich-rechtliche System ist. Auch nach der ARD-Hauptversammlung am 23. und 24. September gab es keine öffentliche Erklärung.
Der NDR-Rundfunkrat lehnte die Programmbeschwerde schließlich mit 29 Stimmen ab, vier Rundfunkräte stimmten gegen die Ablehnung, neun enthielten sich. Mit dem Beschluss verband das Gremium aber den Hinweis, dass das Format "nicht vollumfänglich den Anforderungen an die Qualität eines Formats im NDR" entsprochen habe. Bemängelt wurden eine "beschränkte Perspektivenvielfalt" und "zu starke Emotionalisierung". Auch sei die Sendung überfrachtet gewesen. In der Diskussion hatte eine Rundfunkrätin kritisiert, dass die Sendung "spaltendes Potenzial" gehabt habe. Andere forderten mehr solche Experimente wie "Klar" im Programm.
Eigentlich, das sagte auch Lünenborg im Rundfunkrat, sollte es doch um guten Journalismus gehen, und der laufe nicht "nach den Kriterien links oder rechts". Die vor allem in den Medien und in den Sozialen Netzwerken geführte Debatte um "Klar" hat aber einmal mehr gezeigt, dass nicht nur um die Debattenkultur im NDR, sondern um die Debattenkultur in der Gesellschaft nicht gut bestellt ist. Anlass und Größe der Debatte stehen in keinem Verhältnis, die Grenzen zur Verleumdung und Bedrohung wurden vor allem vielfach überschritten, auch rechtliche Regeln werden missachtet. Das ging so weit, dass in Sozialen Netzwerken kritisiert wurde, dass ein Mitschnitt der Rundfunkratssitzung, der widerrechtlich bei Youtube veröffentlicht worden war, gelöscht wurde. Dabei steht auf der Seite des NDR-Rundfunkrats: "Ein Mitschnitt der Sitzung ist aus rechtlichen Gründen nicht gestattet."
Zuerst veröffentlicht 01.10.2025 14:00
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Aufsicht, NDR, Rundfunkrat, Klar, Ruhs
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