Kein Zauber mehr an der Oos - epd medien

05.12.2024 11:11

Wehmut kam auf bei der Televisionale 2024, weil das Festival zum letzten Mal in Baden-Baden stattfand. Das gedrängte Programm und die Entscheidung, die Fernsehfilme nur in Ausschnitten zu zeigen, waren Schönheitsfehler beim Abschied von der Kurstadt. Die Qualität der Produktionen überzeugte aber, findet Michael Ridder, der das Festival vom 27. bis zum 29. November verfolgt hat.

Notizen zur letzten Televisionale am Standort Baden-Baden

Preisverleihung der Televisionale 2024 im Theater Baden-Baden

epd Die Televisionale 2024 war noch keine halbe Stunde alt, da zeigten sich schon die Tücken des diesjährigen Konzeptes, die Fernsehfilme nicht in voller Länge zu zeigen. Diskutiert wurde über den von Marc Brummund inszenierten Eröffnungsfilm "Ein Mann seiner Klasse" (ARD/SWR/BR), der eine Kindheit in prekären Verhältnissen in den 90er Jahren beschreibt. Es gab viel Lob aus der Fernsehfilm-Jury: für die Darsteller, für das Drehbuch, für das Szenenbild.

Jurorin Anna Brüggemann stellte das großartige Schauspiel des 2013 geborenen Camille Moltzen heraus, der für seine Leistung später den Filmpreis der Studierenden bekam. Die Autorin und Schauspielerin merkte allerdings an, dass der Film aus ihrer Sicht in der Mitte kippe, weil er nicht mehr glaubhaft mache, dass der zehnjährige Protagonist weiter an seinem prügelnden Vater festhält. Die Szenen der häuslichen Gewalt seien zudem an der "Grenze zum Zelebrieren". Brüggemann stellte die Frage, ob dies mit einer Frau auf dem Regiestuhl möglicherweise anders gewesen wäre.

Filme mussten vorab gesehen werden

Um diese Frage mit dem Publikum und den ebenfalls anwesenden Produktionsbeteiligten diskutieren zu können, hätte insbesondere die Szene gezeigt werden müssen, in der die schwangere Mutter vom Vater brutal misshandelt wird. Doch diese war nicht in dem zehnminütigen Ausschnitt zu sehen, der zu Beginn der Session eingespielt wurde. Das Drehbuchteam erläuterte, es habe während der Produktion heiße Debatten über die Darstellung von Gewalt gegeben. Vertieft wurde dieser Aspekt leider nicht.

Immer wieder betonte Festivalleiter Urs Spörri, dass es bedauerlich sei, dass die Filme in diesem Jahr nicht komplett gezeigt werden konnten. Im Sommer hatten die Organisatoren mitgeteilt, dass die früher als Fernsehfilm-Festival Baden-Baden bekannte Veranstaltung aus Kostengründen erstmals von fünf auf drei Tage reduziert wird und die Filme daher nur in zehnminütigen Ausschnitten gezeigt würden. Die Festivalleitung empfahl den Gästen, vorab die nominierten Fernsehfilme im TV-Programm oder in der Mediathek von 3sat anzusehen.

Dekonstruktion des "Tatorts"

Die nach "Ein Mann seiner Klasse" im Raum stehende Befürchtung, größere Teile der öffentlichen Jurydiskussion könnten mangels Anschauungsmaterial ins Leere laufen, bestätigte sich im weiteren Verlauf der Festivals zum Glück nicht - was auch daran lag, dass sich manche Filmemacher nicht für einen durchgehenden Zehn-Minuten-Ausschnitt, sondern für einen Zusammenschnitt wichtiger Szenen entschieden hatten. In der Mehrzahl waren die Diskussionen allerdings auch nicht sonderlich kontrovers, sondern von breiter Zustimmung zu den nominierten Werken geprägt.

An der Schweizer "Tatort"-Folge "Von Affen und Menschen (SRF/ARD Degeto) gefiel von allem der gelungene "Genre-Mix" aus Comedy, Spannung und Splatter, wie es Jurypräsident Tyron Ricketts formulierte. Der Schauspieler, Produzent und Aktivist lobte zudem den Musikeinsatz, der später mit dem Rolf-Hans-Müller-Preis für die Komponistin Mirjam Skal gewürdigt wurde. Jurorin Samira El Ouassil sprach von einer überraschenden "Dekonstruktion" des klassischen "Tatorts".

"Eher fliegen hier Ufos" (ARD/WDR) über ein Dorf im Niederrheinischen, das dem Braunkohletagebau weichen soll, überzeugte durch "Zärtlichkeit, Genauigkeit, gute Figurenzeichnung", wie El Ouassil sagte. Ricketts, der zu Beginn des Festivals das Fehlen von Diversität und Inklusion im Tableau der nominierten Filme beklagt hatte, räumte ein, dass auch Dorfbewohner eine marginalisierte Gruppe seien, die im fiktionalen TV-Programm kaum vorkomme. Dem wirke der von Gina Wenzel und Ingo Haeb inszenierte Film entgegen. Die beiden Filmemacher bekamen einen Sonderpreis für herausragende Regie.

Zweite und dritte Ebene

Mit kleinen Abstrichen war die Jury auch überzeugt vom Familiendrama "Querschuss" (ARD/BR/Arte) und dem "Polizeiruf 110: Der Dicke liebt" des MDR, dessen Hauptdarsteller Peter Kurth, Peter Schneider und Sascha Nathan einen Sonderpreis gewannen. Beim Amazon-Fantasyfilm "Silber und das Buch der Träume", der als einziger Beitrag nicht auf 3sat gezeigt wurde und somit auch nicht am Publikumspreis teilnahm, wurde vor allem gewürdigt, dass er "visuell atemberaubend" sei, wie Jurorin Cathrin Ehrlich sagte.

Mehr Kritik gab es beim ZDF-Dokudrama "Ich bin! Margot Friedländer", das in diesem Jahr schon mit mehreren TV-Preisen ausgezeichnet wurde, in der Grimme-Jury aber nicht durchdrang. Ricketts sagte, die dritte Ebene mit gespielten Szenen der älteren Margot Friedländer in den USA wäre nicht erforderlich gewesen. Dem widersprach allerdings Juror Alfred Holighaus, der auch diese Ebene spannend und "souverän inszeniert" fand.

Anna Brüggemann kritisierte nicht nur die dritte, sondern auch die zweite Ebene, die in einer Spielhandlung das Leben der jungen Margot Friedländer zeigt. Die Jurorin, die in den Diskussionen öfter wider den Stachel löckte, störte sich insbesondere am "theaterhaften Schauen auf das Gesicht der jungen Schauspielerin" Julia Anna Grob. Besser hätte sie es gefunden, die starken Doku-Sequenzen mit der inzwischen 103 Jahre alten Friedländer im direkten Übergang mit einer dynamisch inszenieren Spielhandlung zu zeigen. "Ich bin! Margot Friedländer" gewann schließlich den 3sat-Publikumspreis.

Frustrierende Ambivalenz

Zwiespältig nahm die Jury den ZDF-Film "Sie sagt, er sagt" auf, der eine Vergewaltigung als Gerichtsdrama verhandelt und dieses am Ende ohne Auflösung lässt. Ricketts bewertete das Werk von Regisseur Matti Geschonneck als "meisterhaft gemacht", Ehrlich sah in der Uneindeutigkeit die große Stärke. El Ouassil sprach hingegen von einer "frustrierenden Ambivalenz", die sich falsch anfühle, dennoch sei es ein wichtiger Film. Brüggemann kritisierte das "schwache Plädoyer" des Verteidigers, der nur auf Emotion setze. Vor- und Nachwort des Autors Ferdinand von Schirach wurden als unnötig eingeschätzt.

Dass Dominik Grafs Frauendrama "Mein Falke" (ARD/NDR/Arte) nicht zu den Favoriten auf den Fernsehfilmpreis gehören würde, zeigte sich in der Diskussion nach dem Zehn-Minuten-Ausschnitt. Zwar schwärmte Alfred Holighaus "vom freien Radikalen des Festivals, keinem Genre zugehörig", der Film habe ihn "am Herzen gepackt", zwar lobte El Ouassil, dass die Figur der von Anne-Ratte Polle gespielten Eremitin hier einmal nicht negativ konnotiert sei.

Ricketts gab aber zu Protokoll, der Film habe ihn "emotional nicht so sehr reingezogen". Und Brüggemann kritisierte "Momente, die Arthouse ausstrahlen sollen" und die Geschichte so unnötig beschwerten. Der Wunsch der Jurorin nach mehr Subtilität bei der Figurenzeichnung führte zu einem Scharmützel mit dem im Publikum sitzenden Dominik Graf, das viel Zeit verbrauchte. Auch wenn es dieses Jahr für ihn nichts zu holen gab: Graf bleibt einer der erfolgreichsten Regisseure in der Geschichte des Festivals, wie Urs Spörri betonte.

Landkrimi bekommt Fernsehfilmpreis

Den Fernsehfilmpreis der Deutschen Akademie der Darstellungen Künste vergab die Jury an den Landkrimi "Das Schweigen der Esel" von ORF und Arte. Der Film von und mit Karl Markovics sei klug, hervorragend inszeniert, sprühe vor Ideen und sei zudem noch medienphilosophisch interessant, hieß es begeistert aus der Jury. Einzig Brüggemann war nicht vollends angetan und monierte den späten Zeitpunkt, zu dem der entscheidende Plottwist platziert sei. Dies führe dazu, dass vorher aus Unwissen viele Elemente als Klischees gesehen würden.

So ungewöhnlich "Das Schweigen der Esel" in einer weitgehend durchformatierten TV-Landschaft auch ist: Dass die Jury den Film in diesem Jahr zum Gewinner kürte, war dann doch eine kleine Überraschung. Nicht nur, weil erst vor zwei Jahren ein ORF-Landkrimi ("Vier") in Baden-Baden als bester Fernsehfilm ausgezeichnet wurde, sondern auch, weil in einer fragilen Weltlage die Wahl eines politischeren Stoffes näher gelegen hätte. Die entsprechenden Themen - zerbrechende Familien, Bedrohung der Lebensgrundlagen, sexualisierte Gewalt, Stigmatisierung von Minderheiten - waren im Tableau vertreten.

Raab-Geld zu Jungregisseurinnen umschichten?

Ganz anders entschied sich die Jury des Deutschen Serienpreises, deren Diskussionen man aufgrund des gedrängten Programms nur verfolgen konnte, wenn man bereit war, auf Pausen zwischen den Fernsehfilm-Sessions weitgehend zu verzichten. Sie vergab die Auszeichnung an Elsa van Damkes Superheldinnen-Dramedy "Angemessen Angry", mit der RTL+ ein weiteres Ausrufezeichen als Serienproduzent gesetzt hat.

Die Geschichte eines Zimmermädchens, das nach einer Vergewaltigung durch einen Hotelgast seherische Fähigkeiten und Superkräfte entwickelt, nehme ein Trauma als "Auslöser für Empowerment", lobte die Jury unter dem Vorsitz von Schauspielerin Fritzi Haberlandt. Das Innerste der Hauptfigur werde über die gesamte Staffel präzise in Bilder gefasst, Joan Didions Satz "Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben" werde kraftvoll auch in der Überhöhung umgesetzt.

Bei der Diskussion zu "Angemessen Angry" meldete sich aus dem Publikum Doris Dörrie, die als Jurorin für den Nachwuchspreis MFG-Star in Baden-Baden war, mit einem bedenkenswerten Statement. Sie fragte in Richtung der RTL-Verantwortlichen, ob der Konzern nicht etwas Geld von Stefan Raab zu begabten jungen Filmemacherinnen wie Elsa van Damke umschichten könne, die ja traditionell mit "Hunger-Budgets" arbeiten müssten.

Ästhetisierung von Verbrechen

Stark im Rennen um den Serienpreis war auch eine weitere bei RTL+ zu sehende Produktion: die Anthologieserie "Zeit Verbrechen", die auf dem gleichnamigen Podcast basiert. Die vier Folgen bräuchten eine große Leinwand, konstatierte Jurorin Vic So Hee Alz völlig zu Recht. Da war es passend, dass beim Serien-Wettbewerb von allen fünf nominierten Produktionen - darunter auch die Joyn-Comedy "Der Upir" und die Coming-of-Age-Serie "Nackt über Berlin" (ARD/SWR/Arte) - immerhin jeweils eine Folge komplett auf der großen Leinwand im Runden Saal des Kurhauses gezeigt wurde.

Bei "Zeit Verbrechen" war dies die von Helene Hegemann inszenierte Folge "Deine Brüder", die eine schockierende Gewalttat unter Vorstadt-Jugendlichen thematisiert. Juror Tobias Rüther von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" bekannte, er habe geweint, so sehr habe ihn die Folge erschüttert. Hegemann verstehe es wie niemand sonst, "den süßen bösen Vogel Jugend" aufzuarbeiten. Haberlandt zeigte sich beeindruckt, wie "Deine Brüder" die Kategorien von Gut und Böse aushebele.

Die als Drehbuchautorin tätige Vic So Hee Alz merkte allerdings an, dass die Ästhetisierung von Verbrechen und Gewalt in der Serie trotz aller inszenatorischen Finessen problematisch bleibe. Rüther nannte hierzu als Beispiel die von Jan Bonny verantwortete Folge "Der Panther", die den typischen Fall eines überästhetisierten, faszinierenden männlichen Täters biete. "Zeit Verbrechen", ursprünglich von Paramount+ produziert, gewann am Ende den Serienpreis der Studierenden.

In der Figur ist zuviel Wuttke drin.

Leer ging bei der Televisonale die viel gelobte Serie "Die Zweiflers" (ARD/HR/Degeto) aus, die in diesem Jahr unter anderem beim Deutschen Fernsehpreis erfolgreich war. Jurypräsidentin Fritzi Haberlandt sagte mit Bedauern, sie komme an die Hauptfigur Samuel einfach nicht heran. Dass sich der Spross der jüdischen Familie Hals über Kopf in die schwarze Köchin Saba verliebt, werde "nicht dadurch glaubwürdig, dass im Hintergrund Nick Cave läuft". Auch andere Jurorinnen und Juroren empfanden diese Liebesgeschichte als Schwachpunkt der Serie.

Tobias Rüther störte sich zudem daran, dass der "Juden-Siggi" - der Antagonist der Zweiflers, der dunkle Zeiten aus dem Frankfurter Bahnhofsviertel wieder aufleben lässt - von Martin Wuttke verkörpert wird. "In der Figur ist zuviel Wuttke drin", befand der Juror, der seine Rezeption durch die zahlreichen früheren Seherfahrungen mit Wuttke-Figuren beeinträchtigt sah.

Akademie will Wirkungskreis erweitern

Im qualitativ hochwertigen Programm fand neben Fernsehfilm- und Serienwettbewerb noch der MFG-Star Platz. Vier Werke von Nachwuchsregisseurinnen -und regisseuren wurden komplett gezeigt, anschließend diskutierten die Filmemacher mit der Alleinjurorin Doris Dörrie. Sie vergab den Preis für die beste Nachwuchs-Regie an Justine Bauer für den Film "Milch ins Feuer", der die Lebenswelt auf sterbenden Bauernhöfen zeigt. Die Auszeichnung wird von der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg (MFG) getragen.

Das Konzept der Televisionale, öffentliche Jurydiskussionen anzubieten und bei den parallel im Kurhaus stattfindenden Branchentagen vertiefende Gespräche mit Autorinnen und Regisseuren sowie medienpolitische Podiumsdiskussionen zu veranstalten, ist in der deutschen Kongress- und Festivallandschaft einzigartig. Mit Sorge wurde daher im Sommer die Nachricht aufgenommen, dass es Finanzprobleme gibt. Wenige Tage vor dem Start am 27. November gaben die Organisatoren bekannt, dass die Televisionale 2024 die letzte in Baden-Baden sein wird - dort lief das Festival seit 1989. Wehmut klang in vielen Statements an, die in diesem Jahr zu hören waren.

2025 geht es nach Thüringen: Weimar ist der neue Standort. Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste als Mitveranstalter bemühte sich nach Kräften, dem Eindruck entgegenzutreten, dass diese Entscheidung aus Kostengründen getroffen wurde. Mit dem Umzug der Televisionale nach Weimar erweitere die bisher in Westdeutschland tätige Akademie ihren Wirkungskreis, hieß es. Akademiepräsident Hans-Jürgen Drescher sagte, vom Austausch mit der Kulturstadt Weimar und dem Land Thüringen erwarte man sich eine "produktive Weiterentwicklung des Festivals".

Auswirkungen auf das Geschäftsleben

Doch hatten es die Spatzen natürlich von den Dächern gepfiffen, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine starke Auswirkungen auf das Geschäftsleben von Baden-Baden hat. Mehr als 200 Jahre lang war die schöne Kurstadt im Südwesten Deutschlands ein beliebtes Ziel gut betuchter Russen, nun müssen Restaurants, Hotels und Luxusboutiquen auf viele Besucher aus dem flächenmäßig größten Staat der Welt verzichten. Auch infolge der Corona-Pandemie stiegen die Preise, die in Baden-Baden schon früher nicht günstig waren.

Die Entscheidung ist gefallen, der Zauber der Oos einstweilen erloschen. Weimar ist ein attraktiver Standort, der viel Kultur und Geschichte atmet. Politisch ist es ein herausforderndes Projekt, ein TV-Festival mit öffentlich-rechtlicher Prägung in einem Bundesland zu veranstalten, in dem demokratische Parteien zunehmend an Rückhalt verlieren. Aber vielleicht ist es gerade deswegen richtig, den Versuch zu wagen.

Michael Ridder Copyright: epd-bild/Heike Lyding Darstellung: Autorenbox Text: Michael Ridder ist stellvertretender Verantwortlicher Redakteur von epd medien und war Mitglied der Vorjury für den Fernsehfilmpreis der Televisionale.



Zuerst veröffentlicht 05.12.2024 12:11 Letzte Änderung: 05.12.2024 12:33

Michael Ridder

Schlagworte: Medien, Festivals, Fernsehfilm, Programm, Televisionale, Spörri, rid, NEU

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