Die Familie als Leidensort - epd medien

27.09.2024 10:20

Nicole Weegmanns neuer Film "Querschuss" zeigt das Leiden in und an der Familie als etwas, das notwendigerweise geschieht. Doch die hervorragend besetzte Produktion von Arte und BR badet nicht in Traurigkeit, sondern hat auch Humor und Hoffnung parat, urteilt Michael Ridder.

Bibi (Bibiana Beglau, li.) tröstet ihre Tochter Stella (Stella Kann)

epd Nicole Weegmann ist eine Regisseurin, die mit Klasse glänzt statt mit Masse. Die 58-Jährige liefert nicht jedes Jahr irgendeinen Fernsehfilm ab, sondern wählt ihre meist schwierigen Stoffe mit Bedacht. Bereits zwei Mal gewann sie den Grimme-Preis, 2009 für das wuchtige Jugenddrama "Ihr könnt euch niemals sicher sein" um einen vermeintlich geplanten Schulamoklauf und 2017 für das Sozialstück "Ein Teil von uns" über Alkoholsucht und Obdachlosigkeit.

Bei "Ein Teil von uns" arbeitete Weegmann bereits mit der Drehbuchautorin Esther Bernstorff zusammen, nun hat das Duo im Auftrag von Arte und BR einen neuen Film gedreht. Auch "Querschuss" geht dahin, wo es weh tut - diesmal aber nicht in gesellschaftliche Randbereiche, sondern in das Herz der äußerlich glücklichen Mittelstandsfamilie, wo zahlreiche unverarbeitete Konflikte und Traumata lauern, die durch ein unerwartetes Ereignis plötzlich an die Oberfläche kommen.

Entsprechend trügt der sommerlich-heitere Beginn. Großvater Joachim, der bald 80 Jahre alt wird, steht im Garten und plaudert mit seiner Enkelin Stella. "Ich lege mich hin", kündigt er irgendwann an und verschwindet. Kurze Zeit später hört die Familie, die mitten in den Geburtstagsvorbereitungen steckt, einen Knall, ahnt Furchtbares. Sohn Andreas (Christian Berkel) findet die Leiche.

Beeindruckende Bilder

Die Selbstauslöschung kommt für die Angehörigen wie aus dem Nichts. Es ist, als würde ihre Welt anhalten. Sprachlosigkeit herrscht, weil Worte nicht helfen. Für dieses Stillstehen finden Weegmann und Kameramann Julian Krubasik beeindruckende Bilder: Als Andreas in dieser schlaflosen Nacht mit seiner Frau Bibi (Bibiana Beglau) und Stella (Stella Kann) auf dem Bett liegt, sehen wir die Familie von oben wie verknotet, geeint im Schock und im Unglauben; Bibi spielt den kraftvoll-melancholischen Song "Diamonds & Rust" von Joan Baez ab. Ein Fernsehfilmmoment von seltener Intensität.

"We both know what memories can bring / They bring diamonds and rust." Der Baez-Song kanalisiert nicht nur die Gefühle der Figuren, sondern gibt auch das Thema des Films vor: In den folgenden Tagen geht es um Erinnerungsarbeit und Deutungshoheit. Wer kannte den Menschen wirklich, der sich da getötet hat? War Joachim krank, ohne dass jemand davon wusste? Esther Bernstorffs Drehbuch nimmt sich viel Zeit für die Suchbewegungen der tiefenscharf konturierten Charaktere und deutet zugleich auf die Risse im Beziehungsgefüge, die bisher niemand so richtig wahrhaben wollte.

Insbesondere bei Andreas, präzise verkörpert von Christian Berkel, staut sich immer mehr Aggression an: Warum kam sein Sohn Clemens (Thomas Prenn) so viel besser mit Joachim aus? Warum erbt seine Schwester Ulrike (Andrea Sawatzki) nun das Anwesen? Die sich steigernde Dramatik kulminiert in der Filmmitte in einem Wutausbruch von Andreas, pikanterweise in Anwesenheit des Bestattungsunternehmers.

Behutsam und souverän

Doch auch Bibi hat wunde Punkte. Die karriereorientierte Frau kann es schlecht verkraften, dass Tochter Stella sich emotional zu Tante Ulrike hingezogen fühlt. Und dann kommt noch die 80-jährige Bernadette (Ursula Werner) aus Paris dazu, die vor langer Zeit mit Joachim zusammen war und einige Anekdoten auf Lager hat. Sie hat Vorstellungen von Alter und Würde, die gängigen Normen widersprechen.

Nicole Weegmann inszeniert das alles behutsam und souverän. Deswegen wirken auch Szenen glaubwürdig, denen eine gewisse Lächerlichkeit inhärent ist - etwa wenn Andreas und Clemens sich darüber streiten, wem der Großvater einen (viel zu kleinen, aber heiß geliebten) Sessel vererben wollte.

"Querschuss" ist ein ernster Film, aber keiner, der in Traurigkeit badet. Immer wieder gibt es komische Einschübe. Vor allem die burschikose Bernadette sorgt für Lacher, wenn sie am Kaffeetisch mit größter Selbstverständlichkeit über Joachims früheres Sexleben plaudert. Fast ein Running Gag ist in der ersten Filmhälfte die Anlieferung der Komponenten für das große Gartenzelt, in dem Joachims 80. Geburtstag gefeiert werden sollte. Keiner will den Aufbau des Zeltes absagen, also findet er statt, zunächst ohne Sinn. Doch dieser wird bis zum Ende entstehen.

Großartiges Darstellerensemble

Der Film zeigt das Leiden in und an der Familie als etwas, das notwendigerweise geschieht, und er berührt auf eine feinnervige, leise Art. Was ihn besonders auszeichnet, ist die Fairness, mit der er seinen Figuren begegnet. Niemand wird diskriminiert, jede Perspektive kann nachvollzogen werden.

Das Leid muss am Ende nicht zerstörerisch sein, auch das zeigt "Querschuss". Menschen, die guten Willens sind, können durchaus wieder zueinanderfinden. Ein zutiefst humanistischer Ansatz, der auch dank des hier versammelten großartigen Darstellerensembles aufgeht.

infobox: "Querschuss", Fernsehfilm, Regie: Nicole Weegmann, Buch: Esther Bernstorff, Kamera: Julian Krubasik, Produktion: Claussen+Putz Filmproduktion (Arte/BR, 27.9.24, 20.15-21.45 Uhr, Arte-Mediathek seit 27.9.24)



Zuerst veröffentlicht 27.09.2024 12:20

Michael Ridder

Schlagworte: Medien, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KArte, KBR, Fernsehfilm, Weegmann, Bernstorff, Querschuss, Ridder, rid

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