29.04.2024 15:42
epd Es ist Sommer in Halle in diesem "Polizeiruf 110". Kein warmer, heiterer Sommer mit Lichtreflexen, die die Sinne wachkitzeln und Lust aufs Leben machen. Sondern ein verschwitzter, staubtrockener Sommer. Selbst beim lauschigen Abend auf dem Balkon geht der nächtliche Blick nicht hinaus in dem Sternenhimmel, sondern bloß auf wieder andere Wohnungen, auf Hochhauslandschaft. Ernüchternde Ansichten von Halle gestaltet die Kamera von Nikolai von Graevenitz in "Der Dicke liebt". Es ist heiß, drückend heiß.
Viele Außenaufnahmen sind überbelichtet, wirken als Bilder erschöpft und entmutigt - eine Tristesse der Ausgeblichenheit. Zu sehen sind Gebäude, die in vielen Städten stehen könnten. Eine Grundschule, nicht alt, nicht neu, nichts Besonderes. Ein Hochhausblock, in dem die Familie der kleinen Inka lebt, Mutter, Vater und Geschwister. Keine lieblose Familie, aber mit wenig Interesse an Inkas Dasein. Eine andere Wohnmaschine, in der Lehrer Krein (Sascha Nathan) sich hinter zugezogenen Vorhängen seinen Rückzugsort geschaffen hat. Es gibt Grünflächen, nichts ist wirklich heruntergekommen, aber heimelig sieht anders aus.
Als Henry Koitzsch (Peter Kurth) auf den Polizeikollegen Michael Lehmann (Peter Schneider) wartet, setzt er sich auf den Bordstein, als habe ihn die aussagelose Mittelmäßigkeit erschöpft. Auch die Kleingartensiedlung, in der die verschwundene achtjährige Inka (Merle Staacken) schließlich tot gefunden wird, ist seltsam. Obdachlose wohnen hier, keine guten Zeugen, aber immerhin ist ihnen etwas aufgefallen. Lauben sind halb verfallen und verrammelt, aber anscheinend ging das tote Mädchen gern hierher. Fand seine Zuflucht.
Sie ging schon lange nicht mehr zur Mathenachhilfe bei ihrem Grundschullehrer Krein. Allein das Mädchen Juli (Romy Miesner) sitzt nun bei Krein im aufgeräumten Klassenraum, schüchtern, ein wenig ängstlich. Herr Krein hilft, legt ihr vertraulich die Hand auf die Schulter. Hat dieser dicke, schwitzende Mann mit den nervös sich verziehenden Gesichtszügen etwas mit dem Missbrauch und dem Tod von Inka zu tun?
Clemens Meyers und Thomas Stubers Film stellt den Mann lange ins Zwielicht. Sät auf geradezu perfide Weise Misstrauen beim Zuschauer, führt die Betrachtenden zunächst bis kurz vor ein Verständnis mit dem Mob, der Herrn Krein auflauert, sein widerliches "gesundes Volksempfinden" auslebt. Eine Spießbürgermenge, die den Mann schlägt und drangsaliert, bis er fliehen kann und buchstäblich mit dem Rücken zur Wand steht, mit ausgebreiteten Armen, den Kopf zur Seite gesunken, wie ein Gekreuzigter. Herr Krein liebt Mädchen. Wie er zuckersüße, fettige Kuchen liebt, seine Kuscheltierberge auf dem Sofa und das Gefühl, den Kindern die Angst vor dem Rechnen zu nehmen.
Dieser "Polizeiruf" ist kein Thriller und kein Spannungsfilm, er ist auch keine individual- oder gruppenpsychologische Studie. Er beobachtet die Stadt und die Menschen und zeigt das Betrachtete. Was er nicht zeigt, ist ebenso bedeutend wie das, was zu sehen ist. Oft ist das Bedeutende auch nur zu hören. Bildverzicht als ein wirkungsvolles Mittel. Die Wohnung eines polizeibekannten Kinderschänders: ein halbdunkles Aufnahmestudio mit Gegenständen, bei dem die Horrorfantasie das Bild wirkungsvoller ergänzt, als es Tatfotos könnten. Die brutalen Worte des verurteilten, inzwischen entlassenen Kinderschänders bringen Lehmann, selbst Vater und sehr angefasst von diesem Fall, an den Rand der Beherrschung.
Szenen in der Pathologie, die Kinderleiche unter einem grünen Tuch, ein Arm und eine kleine Hand lugen hervor, die der Rechtsmediziner (Andreas Leupold) diskret bedeckt. Seine Worte dagegen sind schonungslos. Das grelle Licht der Sonne in Halle, die höhlenartigen Wohnungen, ein trostloses Einkaufszentrum mit Backshop, wo sich Krein mit Nachschub versorgt, ein Brunnen, vor dem er Juli im Höschen fotografiert, Inkas Schulweg, vorbei an einem Gymnasium und einer Seniorenwohnanlage - kein Motiv, kein Blick, kein Thermometerstand sieht hier zufällig aus. Alles ist Teil eines Aufklärungspuzzles, das die Ermittler Koitzsch und Lehmann nach und nach zusammensetzen.
Koitzsch trifft sein Blind Date aus der Auftaktfolge dieses MDR-"Polizeirufs", "An der Saale hellem Strande" wieder. Sie tritt ihm hier als stellvertretende Schuldirektorin Monika Hollig (Susanne Böwe) entgegen und sinkt weinend in seine Arme. Retten Emotionen? Lehmann und seine Frau Susanne (Sophie Lutz) sind bestürzt, als ihre kleine Tochter ein Bild der toten Inka malt.
Lehmanns menschliche Nahbarkeit und Empfindsamkeit ist ein großes Plus, als er einer dementen Zeugin zuhört und die richtigen Schlüsse zieht. Koitzsch erhält wertvolle Hinweise, als er mit dem ehemaligen Kollegen Thomas Grawe (Andreas Schmidt-Schaller) und dem Gerichtsmediziner den Tag der Volkspolizei feiert. Lehmann und Koitzsch ermitteln getrennt, halten einander auf dem Laufenden, kommen miteinander klar, reden, ergänzen sich in ihrer Unterschiedlichkeit ohne großes Gewese.
Zum Schluss ertönt das "Lullaby" aus "Porgy & Bess": "Summertime", gesungen mit den warmen, voluminösen Stimmen von Ella Fitzgerald und Louis Armstrong, wirkt wenig tröstlich. Kein Menschenkind in Halle schlummert in der Hitze dieses Sommers selig. Höchstens mit Hilfe von "König Alkohol", in dessen Macht sich Koitzsch wieder begeben hat. Auf weitere Geschichten dieses Teams darf man hoffen.
infobox: "Polizeiruf 110: Der Dicke liebt", Fernsehfilm, Regie: Thomas Stuber, Buch: Clemens Meyer, Thomas Stuber, Kamera: Nikolai von Graevenitz, Produktion: Filmpool Fiction (ARD/MDR, 21.4.21, 20.15-21.45 Uhr und bis 23.4.25 in der ARD-Mediathek)
Zuerst veröffentlicht 29.04.2024 17:42 Letzte Änderung: 30.04.2024 10:56
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, KMDR, Krimi, Stuber, Meyer, Hupertz, Polizeiruf 110, NEU
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