03.05.2024 07:30
epd Alle sehenswerten Familienserien drehen sich in universeller Weise um Fragen von Identität und Individualität. Dann gibt es Ausnahmeserien, die ihren Figuren nicht bloß Probleme in den Mund legen und ins Drehbuch schreiben, sondern bei denen man echten Menschen beim Leben zusehen kann. Beim Leben, das eine Gemengelage ist aus Geerbtem und Gemachten, aus Geschehen, Reflexion und Handeln.
In solchen Familienserien ist es, als ob ein Fenster in eine fremde und gleichzeitig vertraute Welt aufgeht. Manchmal kann es auch der Blick eines Fernrohrs oder eines Mikroskops sein. Manchmal erfährt man mehr, als man aushalten möchte. Manchmal stellt sich blitzartig Verstehen ein. Solche Familienserien haben Form und sind nicht bloß Content. Sie haben Witz. Oft erlebt ihr Personal groteske Situationen. Und sie interessieren sich mehr für die Fragen und Fragwürdigkeiten als für die Antworten.
Zu diesen Ausnahme-Familienserien gehören natürlich die "Sopranos", "Six Feet Under" und in gewisser Weise "Die Firma Hesselbach" aus den 60er Jahren mit Wolf Schmidt und Liesl Christ. Mit "Die Zweiflers" gibt es nun eine neue deutsche Familienserie, bei der man in Zukunft von einem Davor und einem Danach reden kann. Großartig und neuartig, filmisch außerordentlich, unglaublich unterhaltsam, schrecklich, tabulos, unerschöpflich, fremd und nah zugleich.
Hier stimmt alles, bis ins kleinste Stereotypendetail. Bis zu Vorurteilen, Antisemitismus und Rassismus. Bis zur Bürde der Erfahrung der Nachgeborenen, zu Traumata, die wie Gründungsmythen aussehen. Diskrimierungserfahrungen und kulturelle Zumutungen werden hier nicht bloß dargestellt, sondern dialektisch in Bewegung gesetzt. Wer sich vorgenommen hat, in diesem Jahr ein einziges fiktionales Fernsehwerk zu schauen, sollte sich Zeit für "Die Zweiflers" nehmen. Völlig zu Recht ist diese Familien- und Zeitgeschichte beim "Cannes International Series Festival" mit dem Preis für die beste Serie ausgezeichnet worden.
Die Zweiflers sind eine Frankfurter jüdische Familie, Eigentümer einer Delikatessenkette, gegründet in den Monaten nach dem Zweiten Weltkrieg vom Holocaustüberlebenden Symcha (Mike Burstyn), der wie seine Frau Lilka (Eleanor Reissa) Auschwitz überlebt habt. Diese Delis, brummende Orte, die aussehen wie eine New-York-Frankfurt-Connection, einerseits Äppelwoikneipe und Rindswurstimperium, andererseits East-End-Reminiszenz, wo Salzgurken aus dem Fass verkauft werden, sind nicht die einzigen Geschäfte, mit denen Symcha eine neue Lebensgrundlage aufgebaut hat. Bordelle gehörten wohl dazu, man munkelt so einiges, auch über Kapitalverbrechen. Lilka spricht damenhaft von "Amüsierbetrieben".
Das Geschäft hält die Familie zusammen. Irgendwie beteiligt sind alle, der Patriarch hält in seinem Bürohinterzimmer, umgeben von historischen Fotografien, die Fäden in der Hand.
Die sechsteilige Serie, ersonnen von David Hadda, hat einen besonderen Blick auf die Sinnlichkeit von Essen und Lebensmitteln, was manch symbolisches Bild von der Tötung und Verwertung von Tieren, manche eher eklige Nahaufnahme von Fleisch und Fisch, vom Erschlagen, Aufschlitzen, Kopfabtrennen und Ausnehmen (offenbar gedreht im Untergeschoss der Frankfurter Kleinmarkthalle, wo lebender Fisch gekauft werden kann), einschließt.
Essen und Kochen sind Kultur, haben mit Traditionen zu tun. Für jüdische Kultur und Speisevorschriften gilt das ganz besonders. Wer seine Küche, seine Rezepte, die Erinnerungen an spezielle Speisen zubereitende Angehörige rettet, hat eine Verbindung in die Vergangenheit.
Mit Religion haben aber manche der Zweiflers kaum noch etwas am Hut. Selbst Symcha isst mit seinem Enkel Samuel (Aaron Altaras) beim Besuch des betriebseigenen Rinderhofs im Frankfurter Umland mit Genuss Blutwurst. Neben Samuel gibt es mit Dana (Deleila Piasko) und Leon (Leo Altaras) zwei weitere Kinder von Symchas und Lilkas Tochter Mimi (Sunnyi Melles) und ihrem Mann Jackie Horovitz (Mark Ivanir), einem Psychiater mit schweren Macken.
Würden sich einzelne Mitglieder dieser Familie einer Psychoanalyse unterziehen, würde alle Aufarbeitung, gewollt oder nicht, zurückführen zum Verbrechen der Judenvernichtung, zur Lebensleistung der Davongekommenen und den Verpflichtungen der Nachkommenden. Bei Mutter Mimi, einer exaltierten, skurrilen, warmherzigen und übergriffigen Person, stehen alle Zeichen auf Traditionserhalt. Ihr Mann hat sich kleine Fluchtmöglichkeiten geschaffen, mehr oder weniger erfolgreich, samt Affären. Ihre Kinder flüchten unterschiedlich weit: Dana nach Israel, Leo in die Kunst und Samuel als Musikproduzent nach Berlin.
Tammi (Ute Lemper), Mimis Schwester, hat sich nach New York abgesetzt. Auch sie wird zurückkommen, zumindest vorübergehend. Ein Plan und ein Ereignis setzen die Handlung in Gang: Symcha will das Geschäft verkaufen und sich zur Ruhe setzen; Samuel verliebt sich in die Köchin Saba (Saffron Coomber), deren kosmopolitische Küche sie vielleicht als Nächstes nach Tokio führen wird. Als Saba schwanger wird, bekommen sie und Samuel es mit den Bindungswünschen und Traditionserwartungen der jüdischen Familie zu tun. Es wird erwartet, dass das Baby beschnitten wird. Es gilt als selbstverständlich, dass Saba konvertiert. Während das Paar sich immer mehr in Ich-und-Wir-Fragen verhakt, bekommt es Symcha mit "Juden-Siggi" (Martin Wuttke) zu tun, seinem früheren Mann fürs Grobe, der mit Enthüllungen droht.
Zwischen Bahnhofsviertel, Westend und Banken findet die Serie zahlreiche Frankfurter Schauplätze, die nachts warm leuchten oder tags nach Heimat aussehen. Das Elend der Drogenszene wird bloß gestreift, man kann eine gewisse Rotlichtromantik des Bahnhofsviertels noch ahnen. Mehr als einmal sieht Frankfurt wie New York aus, verheißungsvoll glitzernd, dann wieder hessisch bieder. Es gibt viel zu erfahren hier über Selbstverständlichkeiten jüdischer Traditionen. Hier findet Alltag statt.
Symcha rastet in der Gruppenkunstausstellung seines Enkels Leo aus, als unter der Schrift "It's Shoah Time" Kükenschreddern mit Judenvernichtung parallel gesetzt wird und der Ausstellungsmacher solchen Relativismus verteidigt.
Dies sind nur einige Streiflichter auf diese Familienserie, die überbordend gefüllt ist mit Lebensfragen und außerordentlich glücklich besetzt. Besonders anrührend gestalten Mike Burstyn, Star des jiddischen Broadway-Theaters, und Eleanor Reissa, gebürtige Brooklynerin, ihre Rollen. Der Holocaust sei ihr angeheftet wie eine Haut, ohne die sie formlos wäre, schrieb Reissa in ihrem Buch "The Letters Project". Es gäbe noch viel mehr zu sagen über "Die Zweiflers" und die Verdienste der Serie. Einstweilen: Anschauen!
infobox: "Die Zweiflers", sechsteilige Serie, Regie: Anja Marquardt, Clara Zoe My-Linh von Arnim, Buch: David Hadda, Sarah Hadda, Juri Sternburg, Kamera: Phillip Kaminiak, Produktion: Turbokultur (ARD-Mediathek/HR/Degeto, seit 3.5.24)
Zuerst veröffentlicht 03.05.2024 09:30 Letzte Änderung: 03.05.2024 10:04
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, NEU
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