Selbstermächtigung und Splatterpunk - epd medien

19.04.2024 08:55

Die Grimme-Jury Fiktion hat in diesem Jahr nur vier von fünf möglichen Preisen vergeben. Michael Ridder war Mitglied der Jury und beschreibt in seinem Bericht den Diskussionsverlauf während der Sichtungswoche, die vom 27. Januar bis zum 1. Februar stattfand. Die Preise werden am 26. April verliehen.

Aus der Grimme-Jury Fiktion

Die Historienfarce "Haus Kummerveldt" bekommt einen Grimme-Spezial-Preis

epd Fünf Plätze blieben frei - das war das erste Statement der Nominierungskommission Fiktion in diesem Jahr. 16 Fernsehfilme und Serien nominierte die Kommission regulär, zwei weitere schlug sie für einen Spezial-Preis vor. Möglich gewesen wären 20 reguläre Nominierungen plus drei Spezial-Vorschläge. In der Grimme-Preiskategorie Unterhaltung sind Leerstellen in größerem Umfang seit Jahren normal, in der Fiktion jedoch nicht.

Die Jury Fiktion nominierte zum Start der Sichtungswoche keine Produktion nach - ein Bruch mit der langjährigen Tradition in dieser Kategorie. Zwar wurde in der Auftaktdiskussion der eine oder andere Titel genannt, der im Endkontingent vorstellbar gewesen wäre. Doch niemand insistierte; zu stark war bereits zu Beginn der Eindruck eines eher schwachen Jahrgangs.

Deutsch-deutsche Zeitgeschichte

Unter den 16 regulären Nominierungen waren Serien in der Mehrzahl - das war das zweite Statement der Kommission. Neun Serien standen sieben Fernsehfilmen gegenüber. Seit einigen Jahren hat, der internationalen Dynamik im Fiction-Markt folgend, die Anzahl der nominierten Serien bei Grimme stark zugenommen, aber so deutlich wie in diesem Jahr zeigte sich der Trend bisher nicht.

Von der gelegentlich beschworenen Abschwächung des Serienbooms war also bei Grimme auf den ersten Blick nichts zu sehen. Dennoch war dieser Jahrgang alles andere als ein prickelndes Serienfestival, wie es beispielsweise 2018 mit den Auszeichnungen für "Babylon Berlin", "Dark" und "4 Blocks" zu beobachten war. Im Gegenteil: "Sam - Ein Sachse", die erste deutschsprachige Produktion des Streamingdienstes Disney+, stand einsam an der Spitze - danach kam lange nichts.

Epochaler Bilderbogen

Die Geschichte von Samuel Meffire, der kurz vor der Wende der erste schwarze Polizist in der DDR war und später in eine kriminelle Karriere abrutschte, erzählt deutsch-deutsche Zeitgeschichte aus einer ungewöhnlichen Perspektive. In Form eines epochalen - die realen Ereignisse auch immer wieder bewusst überhöhenden - Bilderbogens geht es um Selbstermächtigung und Empowerment, um Ausländerfeindlichkeit und Alltagsrassismus (auch schon zu DDR-Zeiten).

Die Macher der Serie - allen voran Creator und Produzent Tyron Ricketts - wüssten genau, was sie tun, lobte die Jury. Nach der ersten Folge kennen die Zuschauer alle wesentlichen Figuren und Konflikte. Angetrieben von Hip-Hop-Songs folgen sie dem von Malick Bauer mit enormer physischer Präsenz verkörperten Protagonisten durch seine Stationen in beiden Deutschlands, lernen seine Antriebe und Widersprüche kennen. Eine Serie auf internationalem Top-Niveau, Grimme-Preise dürfen neben Ricketts und Bauer auch Jörg Winger und Christoph Silber (beide als Creator) sowie die Regisseurinnen Soleen Yusef und Sarah Blaßkiewitz entgegennehmen.

"Deutsches Haus" war die zweite deutsche Serie von Disney+ im Endkontingent. An der fiktionalen Nacherzählung der Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den 60er Jahren gefielen Szenen mit extremer Wucht, etwa wenn entgegen der Konvention quälend lange die Anklageschrift verlesen wird oder vor Ort in Auschwitz eine Schweigeminute stattfindet.

Humor nutzt sich schnell ab

Einige Jurymitglieder sahen zu viele kitischige und moralinsaure Momente, zudem wurde die Mischung aus dem Coming-of-Age-Drama der jungen Hauptfigur Eva - die als Übersetzerin beim Prozess arbeitet - und der Holocaust-Aufarbeitung mit dem Fokus auf Täterhaushalte als nicht immer überzeugend bewertet. Dennoch konnte Disney auch hier ein Ausrufezeichen setzen: Die Serie nach dem Roman von Annette Hess, die auch das Drehbuch schrieb, wäre eigentlich klassischer Stoff für ARD und ZDF gewesen.

Vonseiten der privaten Anbieter waren noch zwei Warner-TV-Serien dabei. "Boom Boom Bruno" mit Ben Becker als Wildwest-Sheriff vor den Toren Berlins will deftige Crime-Comedy bieten, scheitert aber am fehlenden Witz. "Nackte Kanone ohne Nackte Kanone", befand ein Jurymitglied. Auch der aufdringliche "male gaze" beim Abfilmen der Stripperinnen in den von Bruno besuchten Erotikclubs kam nicht gut an.

"German Genius" wiederum (Regie: Detlev Buck, Cüneyt Kaya) ging zwar als teilweise amüsante Satire auf die deutsche Filmbranche durch, doch die Warner-Serie, in der Kida Khodr Ramadan sich selbst spielt, bleibt eine Nummernrevue, deren Humor sich schnell abnutzt. Moniert wurde auch, dass die Eitelkeit der Protagonisten, die vom Konzept her eigentlich gebrochen werden soll, durch die Art der Darstellung und Inszenierung letztlich bestätigt werde.

Selten beleuchtete Welt

Das ZDF war mit zwei Serien im Endkontingent vertreten. "Füxe", bei der Redaktion des "Kleinen Fernsehspiels" entstanden, entführt die Zuschauer in die selten beleuchtete Welt der Studentenverbindungen. Wie der BWL-Student Adem Kameri beim rechten Corps "Gothia" Aufnahme findet, indem er seinen Namen in "Adam Kamer" ändert, ist als schräge Schelmengeschichte inszeniert, die Serie reflektiert aber auch über den Einfluss von Eliten auf die Gesellschaft. Die Jury störte sich allerdings am oft nicht gelungenen Timing. Hier wäre mehr drin gewesen.

Die ZDF-Mysteryserie "Der Schatten" bekam grundsätzlich Zuspruch. Mit einem vielversprechenden Einstieg, der in den besten Momenten an Giallo-Filme im Stile eines Dario Argento erinnert, wird ein Paranoia-Szenario etabliert, in dem die Protagonistin Norah wegen einer düsteren Prophezeiung fast den Verstand verliert. Hauptdarstellerin Deleila Piasko wurde als herausragend gewürdigt, allerdings fanden einige Jurymitglieder, dass ihre Figur noch weiter hätte ausdifferenziert werden können. Beim Finale im Wiener Prater sahen viele inszenatorisch "Luft nach oben".

Der größte Spalter in der Jury war zweifellos die Serie "Tod den Lebenden" (ARD/Degeto), die polyamore Beziehungen, Gentrifizierung, Kapitalismuskritik und Terrorismus in durchaus sperriger Weise mischt. Für eine Jurorin war es "der Tiefpunkt all dessen, was ich je gesehen habe", andere lobten den experimentellen Charakter, der die Serie als ein "Gaming mit verschiedenen Leveln und finalem Shootout" erscheinen lasse. Insgesamt überwogen die kritischen Stimmen.

Feministische Historienfarce

Den Mut zu unkonventioneller Inszenierung, verbunden mit einem frischen Blick auf Themen, würdigte die Jury mit einem Spezial-Preis für die Serie "Haus Kummerveldt" (ARD/WDR/ZDF/Arte). Die ursprünglich regulär nominierte Produktion wurde in das Spezial-Kontingent umgebucht, weil sie zwar nicht in allen Aspekten überzeugen konnte, aber als "experimentierfreudige Verknüpfung von Historie, Pop und Politik" Wucht entfaltete und im Gedächtnis blieb.

Keine Frage, dass der Preis auch Darstellerin Milena Straube zugeordnet wurde, deren Figur Luise von Kummerveldt im Münsterland zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs lebt und dort ihren Platz sucht. Mark Lorei, der die Idee zu der feministischen Historienfarce hatte, kann die Trophäe für seine Regieeinfälle entgegennehmen, die keine Berührungsangst mit Splatter und Punk zeigen. Die Autorinnen Charlotte Krafft und Cécil Joyce Röski sowie Produzentin Lotte Ruf dürfen sich ebenfalls über einen Grimme-Preis freuen.

Die beiden Spezial-Vorschläge der Nominierungskommission waren in diesem Jahr schnell vom Tisch. Bei der kenianischen Serie "Country Queen" stellte sich schon die Frage, ob diese nach dem Grimme-Statut überhaupt in den Wettbewerb gehört. Nominiert waren ZDF und Arte für die "redaktionelle Begleitung und Beratung" - und damit war ausschließlich der weiße Part der Produktion für einen Preis im Gespräch, wie eine Jurorin kritisch anmerkte. Dass "Country Queen" auch Staatsmittel aus dem Haushalt des Bundesentwicklungsministeriums erhielt, wurde ebenfalls als problematisch für Grimme bewertet.

Florian Geißelmann war für die herausragende Darstellung der Hauptfigur in der ARD-Serie "Wer wir sind" für einen Spezial-Preis nominiert. In den eingespielten Ausschnitten sah die Jury tatsächlich Beachtliches, einigte sich aber auch schnell darauf, die Schauspielkarriere Geißelmanns zunächst weiter zu beobachten.

Diskussion über #MeToo-Filme

Breiten Raum nahmen die Diskussionen zu zwei Produktionen ein, die das Thema #MeToo behandelten - mit unterschiedlichen Ansätzen. In der Serie "37 Sekunden" (ARD/Degeto) braucht der Protagonist Carsten extrem lange, bis er begreift, dass er sich einer Vergewaltigung schuldig gemacht hat. Die zwischenzeitliche familiäre und juristische Aufarbeitung ist nach Ansicht der Jury differenziert dargestellt und behandelt auch die problematischen medialen Mechanismen, die in solchen Fällen ablaufen.

Dass der 55-jährige Rockmusiker Carsten schließlich die Situation rettet, indem er sich als Täter bekennt, wurde allerdings als "Ende mit Geschmäckle" gesehen. Kritik gab es auch an der vergleichsweise konventionellen Bildgestaltung. Bis in die finale Abstimmungsrunde hinein war "37 Sekunden" recht gut im Rennen, eine echte Chance auf eine Auszeichnung ergab sich aber nicht.

Ambivalente Figur

Einen Grimme-Preis gab es für "Nichts, was uns passiert", die zweite Produktion zum Thema #MeToo. Die ARD/WDR-Romanverfilmung von Julia C. Kaiser (Buch und Regie) erschien vielen als stimmiges Porträt der aktuellen Studentengeneration, in der zwar unentwegt Diskussionen über mangelnde Sprachsensibiliät geführt werden, aber das Feingefühl im persönlichen Umfeld trotzdem gänzlich fehlen kann. Dass der Fernsehfilm unterschiedliche Erinnerungsperspektiven nebeneinanderstellt, ohne dadurch das Erleben des weiblichen Opfers zu relativieren, wurde als Vorzug bewertet.

Glatt durch ging "Nichts, was uns passiert" zwar nicht. Es sei nicht fair, dass der Film "mit dem Textmarker" hervorhebe, welchen Sprechstil die gezeigte Generation pflege, befand etwa eine Jurorin. Einig waren sich jedoch alle, dass der Film einen Gutteil seiner Kraft aus der Leistung von Hauptdarstellerin Emma Drogunova bezieht. Wie die 28-Jährige ihre bewusst ambivalent angelegte Figur Anna kraftvoll mit vielen Facetten ausstattet, ist preiswürdig. Drogunova kann somit neben Kaiser eine Grimme-Trophäe entgegennehmen.

Bieder inszenierte Spielhandlung

Der Fernsehfilm "Wir haben einen Deal" (ZDF/Arte) gehörte als Missbrauchsdrama in dieselbe Themenkategorie, doch hier gab es schnell den Konsens, dass keine im Sinne des Grimme-Preises außergewöhnliche Produktion vorliegt. Zwar versucht Felix Klare, alles aus seiner Rolle als Unternehmensberater Frank, der als Kind von seinem Fußballtrainer missbraucht wurde, herauszuholen. Doch die zutiefst didaktische Machart gereicht dem Werk zum Nachteil. "Der Film tut so, als behandle er das Thema zum ersten Mal", urteilte ein Juror.

Das Dokudrama "Ich bin! Margot Friedländer" von Hannah Ley und Raymond Ley ließ die Jury etwas ratlos zurück. Es zeigt enorm starke, bewegende Dokusequenzen mit der inzwischen 102 Jahre alten und immer noch geistig hellwachen KZ-Überlebenden Friedländer - doch diese kommen nicht in Resonanz mit der uninspiriert und bieder inszenierten Spielhandlung, die 80 Prozent der Laufzeit ausmacht. Dass alles mit Musik zugekleistert wird, war ein weiterer Minuspunkt.

Schwerer Stand für Kino-Koproduktionen

Ein Regie-Highlight war dagegen "Sörensen fängt Feuer" (ARD/NDR) von und mit Bjarne Mädel als Kommissar, der von Panikattacken geplagt wird. Der Nachfolger zu "Sörensen hat Angst" kann mit allen Stärken punkten, die den Vorgänger 2022 zum Grimme-Preis geführt hatten. Noch depressiver diesmal die Lichtspiele in der diesigen ostfriesischen Landschaft, beeindruckend wieder die Präzision und Knappheit der situativen Dialoge, erneut wird die Einsamkeit und Abgründigkeit der Figuren eindringlich vermittelt.

Eine Fortsetzung auf sehr hohem Niveau - aber dem ersten Film dann doch zu ähnlich, um nach so kurzer Zeit erneut eine Auszeichnung zu vergeben.

Immer mal wieder Thema in der Grimme-Jury Fiktion ist die Nominierung von Kino-Koproduktionen der öffentlich-rechtlichen Sender. Vom Statut her sind diese möglich, doch treten sie gehäuft auf, kann das als Indiz dafür gelesen werden, dass der Jahrgang zu wenig interessante genuine TV-Produktionen zu bieten hatte. Hinzu kommt häufig, dass es sich dann schon um ältere Filme handelt, da ja zwischen Kino- und Fernsehauswertung eine gewisse Zeit vergeht.

Dröger Rhythmus

So war es auch in diesem Jahr. "Die Saat" (SWR/Arte) und "Zwischen uns" (BR/Arte), beides Kino-Koproduktion aus dem Jahr 2021, hatten in der Jury einen schweren Stand. Bei dem im Handwerkermilieu spielenden Sozialdrama "Die Saat" lag das schon an den vielen Figurenklischees und einem zu drögen Rhythmus, die plötzliche Dramatisierung am Ende wirkte aufgesetzt.

Etwas besser gefiel "Zwischen uns", die Geschichte der symbiotischen Beziehung einer Mutter zu ihrem Sohn mit Asperger-Autismus. Allerdings überzeugte Liv Lisa Fries in der Rolle der Mutter nicht auf ganzer Linie, einige vermissten die "Tiefendimension" in ihrem Spiel.

"Tamara" war gemäß der notariell ausgelosten Reihenfolge der letzte reguläre Beitrag, den die Jury zu sehen bekam. Der ZDF-Film von Jonas Ludwig Walter (Buch und Regie) hatte zwar auch eine kurze Kino-Auswertung, schien aber als "Kleines Fernsehspiel" dennoch passend für den Wettbewerb. Die Jury war einhellig angetan von der Geschichte um Tamara (Linda Pöppel), die 1990 in der DDR geboren wurde, ihr Heimatland aber gar nicht kennt.

Großes in kleiner Form

Der Film zeigt auf eine feinfühlige, ganz genau beobachtende Weise, wie Tamara nach dem Tod ihres Vaters in die ostdeutsche Provinz zurückkehrt und sich dort ihrer Familiengeschichte stellen muss. An der Beziehung zu ihrer Mutter Barbara (Lina Wendel) werden viele Themen festgemacht, die aber nicht in ausufernden Dialogen behandelt werden. Vieles wird über Blicke und Gesten vermittelt, starke Spielsituationen und originelle Bildideen fügen sich zu einer runden Erzählung.

Den Grimme-Preis für "Tamara" erhalten Autor und Regisseur Walter sowie die Darstellerinnen Pöppel und Wendel. Sie haben mit bescheidenen Mitteln in einer kleinen Form Großes geleistet. Für die Jury eine wohltuende Erfahrung am Ende einer durchwachsenen Sichtungswoche, in der nur vier von fünf möglichen Preisen vergeben wurden.

Michael Ridder Copyright: epd-bild/Heike Lyding Darstellung: Autorenbox Text: Michael Ridder ist stellvertretender Verantwortlicher Redakteur von epd medien.



Zuerst veröffentlicht 19.04.2024 10:55 Letzte Änderung: 19.04.2024 11:03

Michael Ridder

Schlagworte: Medien, Grimme, Programm, Jurybericht, 2024, Fiktion, Ridder, Auszeichnungen, NEU

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