Sehnsucht nach Gerechtigkeit - epd medien

16.02.2024 10:18

Der ZDF-Film "Sie sagt. Er sagt." von Ferdinand von Schirach und Matti Geschonneck besticht durch seine Nüchternheit und die klaren Linien. Die Aussagen von Mann und Frau schließen einander aus.

"Sie sagt. Er sagt.": Das Drama spielt sich in einem Gerichtssaal ab.

epd Eine Gerichtsverhandlung war immer schon ein theatrales Ereignis, so dass man die Vermutung äußern darf, dass, menschheitsgeschichtlich gesehen, das Theater dem Gericht entsprang und nicht umgekehrt. So gesehen wäre die Sehnsucht der Menschen nach Gerechtigkeit der ursprüngliche Impuls und die Theatralität oder die Freude am aufgeführten Drama deren Resultante. Sei es, wie es sei, die Tatsache, dass heute, im Zeitalter des Fernsehens beziehungsweise der digitalen Telebilder Gerichtsfilme immer noch ein großes Publikum erreichen, spricht dafür, dass sich das tiefe Verlangen der Menschen nach Gerechtigkeit von allen Wandlungen in den Medien gelöst hat und immer wieder neu befriedigt werden will - nicht nur in realen Prozessen, sondern auch und vor allem in deren fiktionalen Varianten auf der Bühne oder dem Bildschirm.

Einen solchen großen Bezugsrahmen stellt der Film "Sie sagt. Er sagt." von Ferdinand von Schirach (Buch) und Matti Geschonneck (Regie) her. Und er füllt ihn aus - erst mal durch seine Länge (105 Minuten) und dann durch seine Botschaft: Glaubt nicht, man könne Gerechtigkeit immer herstellen, sie durch ein Urteil ein für alle Mal definieren. Es bleiben Grauzonen, Dunkelfelder, Fragen, die nie beantwortet werden. Es bleibt Ungewissheit. Und die Sehnsucht des Publikums nach Gerechtigkeit bleibt auch. Denn sie ist in letzter Instanz nicht erfüllbar.

Philosophie und Unterhaltung

Im fiktionalen Unterhaltungsfernsehen werden solche philosophischen Fragen eher selten gestellt. Damit kann man auch leicht scheitern. Aber diesmal haben von Schirach und Geschonneck mit bestem schauspielerischem Personal das Kunststück fertiggebracht, die Philosophie mit der Unterhaltung so zu verschränken, dass beide zu ihrem Recht kommen.

Die Geschichte ist seit #MeToo bekannt: Ein Mann wird der Vergewaltigung beschuldigt, er sagt: Nein, sie sagt: Doch. Die prominente Moderatorin Katharina Schlüter (Ina Weisse) und der erfolgreiche Unternehmer Christian Thiede (Godehard Giese) hatten seit vier Jahren eine ganz und gar geheime leidenschaftliche Affäre. Beide sprachen immer mal wieder davon, "zu springen", das heißt, ihre Ehen und Familien aufzugeben, um nur füreinander da zu sein, denn aus der Affäre war die große Liebe geworden. Aber sie hatten nicht den Mut dazu. Am Ende wurden ihnen die vielen Lügen, mit denen sie ihre Beziehung schützen mussten, unerträglich. Sie beschlossen, sich zu trennen, und taten es.

Wenige Monate später treffen sie sich zufällig wieder, mitten auf dem Kurfürstendamm. Und gehen in seine Wohnung. Schlafen miteinander. Doch sie denkt: Was wird morgen sein? Und will den Akt beenden. Aber er lässt sie nicht raus. Sie kämpfen. Er bezwingt sie. Dieses Geschehen habe sie gebrochen: "Ich bin nicht mehr ganz." Drei Tage danach entschließt sie sich ihn anzuzeigen.

Der Beklagte schweigt

Der Schauplatz ist ein Berliner Gerichtssaal. Er ist von einschüchternder symmetrischer Schönheit und wird gern von oben gezeigt (Kamera: Theo Bierkens). Es geht in die Hauptverhandlung, die Vorsitzende Richterin (Johanna Gastdorf) erteilt Katharina das Wort. Die liefert den obigen Bericht ab, mit klarer Stimme, sehr konzentriert. Sachverständige werden aufgerufen, eine Rechtsmedizinerin, eine Psychologin. Alle reden engagiert zur Sache, die Verhandlung läuft ab, als sei sie eingeübt.

Der beklagte Thiede sitzt dabei, regungslos und stumm, nur seine Mimik verrät etwas von innerer Bewegung. Seine Verteidigerin Frau Breslau (Henriette Confurius) nimmt seine Interessen wahr, interveniert, wie es ihre Pflicht ist, wirkt kompetent, aber verbissen. Anwalt Biegler (Matthias Brandt) als Rechtsbeistand der Nebenklägerin Schlüter fällt durch Zuspätkommen und ständige Zwischenrufe auf, immer wieder muss die Richterin ihn zur Ordnung rufen. Aber letztlich geht es auch den Anwälten um geordnete Rechtsfindung, ja man hat den Eindruck, dass sich hier alle von verschiedenen Standpunkten aus nach Kräften mühen, die Wahrheit freizulegen, um dann Recht sprechen zu können.

Und doch, etwas stimmt nicht. Der Beklagte schweigt zu auffällig. Das kann nicht so bleiben. Herr Thiede muss mit seiner Version noch in Erscheinung treten. Und tatsächlich, nach 90 Minuten erhebt sich der Mann, dem eine Vergewaltigung vorgeworfen wird, und wehrt sich gegen das Drängen seiner Verteidigerin, besser den Mund zu halten. Er legt los. Auch er habe Katharina geliebt, auch er hätte gern den Mut gehabt "zu springen". Aber er hatte ihn weniger als sie. Er war es, der schließlich die Trennung verlangte, weil er den Riss in seinem Leben nicht mehr aushielt. Der Trennungsbeschluss war nicht einvernehmlich. Er ging von ihm aus. Ja, sie haben sich zufällig wiedergesehen. Und sind in seine Wohnung gegangen. Aber nicht ins Bett. Das hat sie erfunden, um sich zu rächen - dafür, dass er sie aufgegeben hatte. Er versteht sie sogar: "Wir teilen dieselben Abgründe."

Klare Linien

Die Aussagen, die hier gegeneinanderstehen, sind nun in aller Ausführlichkeit gemacht worden und die Rechtsfindung scheint unmöglich. In den letzten Minuten kommt es noch zu einem weiteren Twist - nicht einmal das bisher aufgebaute Widerspruchsgebäude hat mehr Bestand. Was ist Fakt, was ist Interpretation? Was Beweis, was Fake, was Wahrheit, was Lüge? In wirklich klassischer Größe stehen diese Fragen an das Leben und die Rechtsordnung da, dann fällt der Vorhang.

Ferdinand von Schirach selbst spricht ein paar einleitende und hinausleitende Worte, das hätte man gar nicht gebraucht, es waren die einzigen leicht pathetischen Momente, die man bei Gerichtsfilmen schon so gewohnt ist, dass man sie kaum noch bemerkt.

Sonst aber empfiehlt sich dieses Werk vor allem durch seine Schlankheit und Nüchternheit, durch seine klaren Linien. Erst die eine Aussage, dann die andere, sie schließen einander aus. Was ferner wohltut, ist der Verzicht auf Musik und auf alles, was in der Sprache der Fernsehkritik "Emotionalisierung" heißt. Die Erinnerung an Geschonnecks "Wannseekonferenz" kommt hoch - auch hier die Beschränkung auf einen Schauplatz und auf das in einem bestimmten Kontext vorgetragene bedeutungsvolle Wort.

Die schauspielerischen Leistungen bestechen durch die überzeugende Distanz, die die Darsteller zu ihren Rollen gefunden haben und durch die sie, so paradox das klingt, diese erfundenen Personen dem Publikum nahebringen. Theater, Gericht, Fernsehen, hier gehen die drei großen Bühnen, auf denen die Sehnsucht der Menschen nach Gerechtigkeit enttäuscht wird, auf wunderbare Weise ineinander über.

infobox: "Sie sagt. Er sagt.", Fernsehfilm, Regie: Matti Geschonneck, Buch: Ferdinand von Schirach, Kamera: Theo Bierkens, Produktion: Moovie GmbH/ZDF (ZDF, 26.2.24, 20.15-22.00 Uhr und ab 17.2.24 in der ZDF-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 16.02.2024 11:18 Letzte Änderung: 16.02.2024 15:15

Barbara Sichtermann

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KZDF, Fernsehfilm, Geschonneck, von Schirach, Sichtermann, NEU

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